Lukas Holliger „Mensch mit Senf“, Edition Meerauge

In wenigen Worten viel zu sagen, wär schon Kunst genug. Aber Lukas Holliger reisst mit wenigen Sätzen Horizonte auf, schlägt wilde Kapriolen, untergräbt die Realität mit Witz und Schalk.

Thommy ist hingefallen. Die Füsse unpraktisch verdreht. Hätte das Nachdenken nicht gefehlt, wäre er nicht hingefallen. Aber hätte das Nachdenken gefehlt, wäre das das Hinfallen gewesen.
„Mensch mit Senf“ ist nach „Glas im Bauch“ und „Unruhen“ der dritte Band in einer Reihe, die mit Zeichnungen des Autors bei der Edition Meerauge erscheint. Einer Reihe mit einer kleinen kreisrunden Öffnung im Cover mit Blick auf das rote Vorsatzpapier des Buches. Ein Auge, ein Meerauge, vielleicht sogar ein Mehrauge, denn Lukas Holliger scheint genau dieses zu besitzen. Ein Auge mehr, den Blick durch und über die Realität hinaus. Den Protagonist*innen in seinen Miniaturen geschieht genau das, was den Figuren in seinen Zeichnungen geschieht; sie lösen sich auf, sie verweigern sich der Wirklichkeit und zeigen Linien darüber hinaus. Sie zwingen mich zu einem zweiten Blick, sperren sich der Logik. Sie tun in ihrer erfrischenden Art genau das, was sich der Zwang zur Authentizität verbaut. Weder seine Miniaturen noch seine Zeichnungen sind Abbilder dessen, was überall sonst abgebildet wird.

Franz wurde befohlen, was er ohnehin hätte tun wollen. Nach Jahren verwechselte selbst er diese Zufälligkeit mit Unterwürfigkeit.
Ich spüre die Lust des Autors. Er missachtet jede Grenze, jedes Mass. Beides, Geschichten und Zeichnungen zwingen mich zur Reflexion, spielen mit Gedanken. Spuren eines Nachdenkers, eines Beobachters, der sich nicht begnügt, nachzuerzählen, abzubilden, aufzuzeigen. „Mensch mit Senf“ ist eine Sammlung von Aufforderungen, die Welt nicht todernst zu nehmen. Miniaturen mit wenigen Strichen hinein ins Surreale und darüber hinaus. Bei seinen Zeichnungen ist man an Tomi Ungerer erinnert. Nichts ist zu viel, bei Texten und Zeichnungen alles bis zu absolut Minimalen reduziert. Fast alles liegt beim Betrachter.

Zufällig, beim Kleiderkauf, bewegt sich in Gabis Augenwinkel eine andere Kundin synchron. Als sich das Spiegelbild verselbstständigt, erschrickt Gabi zu Tode.

Lukas Holliger «Mensch mit Senf», Edition Meerauge, 2025, Prosaminiaturen und Zeichungen, 160 Seiten, CHF 23.00, ISBN 978-3-7084-0710-4

Lukas Holliger, geboren 1971, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte, lebt und arbeitet in Basel als Kultur- respektive Satireredaktor beim Radio SRF sowie als Autor von Prosa, zahlreichen Theaterstücken, Hörspielen und Libretti.
2015 erschien Holligers Prosadebüt Glas im Bauch (Edition Meerauge) mit Kurz- und Kürzestgeschichten, 2017 sein erster Roman Das kürzere Leben des Klaus Halm (Zytglogge), der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. 2021 folgte der Erzählband Unruhen (Edition Meerauge), 2024 der Roman 1983 – Verfluchte Hitze (Rotpunktverlag).

Wenn Amir auf seine Uhr schaut, möchte er nie wissen, wie spät es ist, sondern wie lange sein Leben noch dauert.
Webseite des Autors

Beitragsbild © Werner Geiger