«Literatur ist das Andere. Wobei mir wichtig scheint zu ergänzen, … das Andere, ohne das sein zu wollen.» Matthias Zschokke
Lieber Gallus
Dein wunderbares Literaturblatt hat eine Kraft und Ausstrahlung bis zum Pilatus! So hat deine Rezension und dein Interview mit Demian Lienhard über «Mr.Goebbels Jazz Band mich zu einer zweiten Lesung dieses Buchs (vergleiche meine Kritik im letzten Mail) geführt und ich habe nun Zugang zu diesem Werk gefunden und seine Sprachgewalt genossen. Es zeigte mir, wie meine Empfänglichkeit für gute Literatur beeinträchtigt war, einerseits wahrscheinlich durch die unmittelbar vorangehende Lektüre der Heptalogie Jon Fosses, andererseits durch viele unvorhergesehene Unterbrüche beim Lesen. Nun war meine Lektüre ganz anders. Mich beeindruckt, wie Demian Lienhard mit Lust und Können diese ungeheuerliche wahre Geschichte in einen Roman verpackt hat. «Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht», dieser vorangestellte Satz von Büchner gilt für alle Protagonisten, und auch ich muss mich fragen, wie ich mich in ihrer Situation verhalten hätte. Wie du geschrieben hast: kein Unterhaltungsroman!
Unabhängig davon, wer von den fünf nominierten den Schweizer Buchpreis in Empfang nehmen darf, bin ich allen nominierten AutorInnen für ihre so unterschiedlichen Werke dankbar und kann in der Buchhandlung alle fünf Bücher wärmstens empfehlen.
Noch ein Buchtipp:
Dank eines interessanten Interviews im Feuilleton einer Zeitung wurde ich auf den Roman «Vatermal» von Necati Oeziri aufmerksam. Ehrlich, authentisch und doch mit einer beeindruckenden Leichtigkeit wird die Geschichte eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund erzählt, der ohne Vater aufwächst. «Wie sagt man «Papa», ohne dass ein Fragezeichen zu hören ist? Bis ich eine Antwort habe, bleibe ich bei Metin. Also: Wenn du das hier liest, Metin, werde ich wahrscheinlich tot sein.» Arda Kaya liegt schwerkrank auf der Intensivstation, er weiss nicht, ob er überlebt und versucht, über sein Leben dem unbekannten Vater schriftlich zu berichten. Ohne anzuklagen, bereit, vieles zu verzeihen, erfahren wir vom Schicksal einer Migrationsfamilie aus der Türkei, vom Leben des Heranwachsenden auf Plätzen mit Drogen und Gewalt, von der Schwierigkeit, einen Weg mit positiver Perspektive zu finden. «Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie im letzten Sommer meiner Jugend alle meine Freunde verschwunden sind und wie auch ich versuchte, vor mir selbst zu fliehen.» Dieses Buch tut weh, rüttelt auf, gibt mir Einblick in ein Milieu, das wahrzunehmen für unsere Gesellschaft wichtig ist.. «Ich lasse meinen Blick durch die Mensa schweifen und springe von Gesicht zu Gesicht. Ich weiss, irgendwo hier müssen auch die anderen sein. Die, deren Mütter im Krankenhaus putzen. Deren Väter Taxi fahren…Aber sie sind wahrscheinlich wie ich: unsichtbar.»
»Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat», der Erstling von Demian Lienhard, ist meine aktuelle Lektüre. Unglaublich originell und kompromisslos geschrieben erlebe ich hautnah Suchen und Scheitern von Alba und ihren Kolleginnen und Kollegen in der Zürcher Drogenszene um 1980. Ich habe kaum je einen authentischeren Einblick in dieses Milieu erhalten. Fragen nach dem Sinn unseres Lebens und Kritik unserer Konsumgesellschaft schwingen mit, literarisch überzeugend verarbeitet. Ich hoffe, dem Autor bald einmal persönlich begegnen zu können.
Herzliche herbstlich-nasse Grüsse aus der Innerschweiz
Bär
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Lieber Bär
Keine Ahnung, ob Du Dich traust, Deine Favoriten für den Schweizer Buchpreis zu nennen und Deine Wahl gar zu begründen. Du hast alle fünf Romane gelesen. Glücklicherweise besteht eine Jury aus fünf Lese- und Buchbegeisterten, auch wenn diese mit ihrem Fachwissen und Leistungsausweis bei weitem nicht repräsentieren, wer im Buchgeschäft ein Buch kauft.
Die nominierten Bücher sind entsprechen einer gute Auswahl der Jury. Kein Buch, bei dem ich nicht nachvollziehen kann, warum es in der Liste der Nominierten ihren Platz hat.
Wenn ich mich selbst für einen Favoriten aussprechen soll, dann kann ich ein Favorisieren nur aus verschiedenen Perspektiven vornehmen. Und selbstverständlich sind meine Begründungen subjektiv:
Aus der Sicht des Buchhandels: (nur Hardcover!)
1. «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller (Verkaufsrang 14),
2. «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller (Verkaufsrang 17),
3. «Mr. Goebbels Jazz Band» von Demian Lienhard (Verkaufsrang 20),
4. «Der graue Peter» Matthias Zschokke (Verkaufsrang 21),
5. «Glitsch» von Adam Schwarz (Verkaufsrang 23)
Aus der Sicht eines SRF-Votings (16. November):
1. «Mr. Goebbels Jazz Band» von Demian Lienhard 34%,
2. «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller 29%,
3. «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller 19%,
4. «Glitsch» von Adam Schwarz 10% und
5. «Der graue Peter» von Matthias Zschokke 8%.
Ich glaube, dass es Christian Haller mit dem Roman «Sich lichtende Nebel» sein wird. Zum einen überzeugt er gleich vielfach: sprachlich, formal und in der Dichte des Geschriebenen. Zum andern wirken sich die unterschwelligen Themen auf unser Denken und Handeln aus. Christian Hallers Roman nimmt sich unserer Wahrnehmung der Welt an, relativiert, was wir als «Wahrheit» empfinden. Sein Roman provoziert Nachdenken, Auseinandersetzung. Selbst in den Themen, die uns aktuell beschäftigen, sei es die grassierende Gewalt oder das Ausblenden des Unumgänglichen, wenn es um Klimafragen geht – überall sind wir gefangen in der Art, wie wir wahrnehmen, wie wir die Dinge sehen.
Dass «Der graue Peter» von Matthias Zschokke in beiden Listen auf den letzten Plätzen auftaucht, schmerzt mich deshalb, weil das Buch mit Sicherheit thematisch aus der Reihe tanzt, sprachlich aber eine Perle ist.
Dann freue ich mich auf den kommenden Sonntag. Vielleicht sitzen wir doch noch nebeneinander!
Freundschaftlich
Gallus
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Lieber Gallus
Wer bekommt den Schweizer Buchpreis 2023?
Mein Dilemma besteht, da ich zwischen Haller und Zschokke wählen muss. Im Innersten hat mich «Der graue Peter» vielleicht ein My tiefer bewegt, ich finde ihn absolut ebenbürtig in seiner literarischen Qualität. Beide zeigen auf originelle und einzigartige Weise, welches Potential wir Menschen durch Wahrnehmung, Erfahrung und Offensein entwickeln können. Sie regen nachhaltig zum Nachdenken an, Haller analytisch genau, Zschokke poetisch.
Ich schlage vor, dass ausnahmsweise zwei Autoren den Buchpreis teilen, gibt es ja auch im Sport bei gleicher Renn-Zeit.
Zu deiner Einschätzung kann ich weiter nichts anfügen. Sie entspricht meiner ziemlich genau.
In unserer kleinen Buchhandlung hat, wie bereits einmal geschrieben, der Schweizer Buchpreis im Vorlauf keinen wahrnehmbaren Einfluss auf die Verkaufszahlen, Haller hat hier Zschokke aber übertrumpft. So muss ich annehmen, dass «Sich lichtende Nebel» gewinnen wird.
Herzliche Grüsse
Bär