in einem meiner Lesezirkel besprochen.
Jonas Karlssons Roman «Das Zimmer», der als neue literarische Stimme Schwedens gepriesen wird, ist ein Kammerstück menschlicher Abgründe, meisterlich inszeniert in den Tiefen eines Grossraumbüros, jenem sensiblen Kosmos, in dem sich Archetypen verschiedenster Färbung unfreiwillig nahe kommen.
Björn tritt eine neue Stelle in einer Behörde an, von Beginn weg möglichst schnell einer jener werdend, auf die es ankommt. Björn richtet sich am Doppeltisch, Hakan gegenüber, ein. Er beobachtet und filtert alles in seiner grandiosen Selbstüberschätzung. Er arbeitet kaum, legt sich allerhöchstens etwas zurecht, hängt seinen Gedanken nach, lauernd. Schnell scheint ihm klar, einer, wenn nicht der Cleverste zu sein, ohne zu merken, wie sehr sich die Stimmung im Grossraumbüro seit seinem Arbeitsbeginn zu seinen Ungunsten verändert. Kein Grund zur Selbstreflexion! Viel mehr Zeichen dafür, wie entschlossen Björn für eine neue Ordnung einstehen muss.
Und dann ist da das Zimmer. Eine Tür zwischen Aufzug und Toilette. Ein kleines Zimmer ohne Fenster, ein Tisch in der Mitte, ein Computer, ein mit Ordnern gefülltes Regal, ohne Staub, alles in Reih und Glied, aufgeräumt, vorbereitet, auf ihn wartend. Björn klinkt sich immer häufiger in dieses Zimmer aus, sein Refugium, holt dort Kraft, findet dort jene Ruhe, die ihm das Grossraumbüro verweigert. Nur ist Björn der einzige, der von diesem Zimmer weiss. Er vermutet ein Geheimnis. Doch als sich die Zeichen im Büro immer unmissverständlicher gegen ihn richten, man ihm zu verstehen gibt, für wie verrückt man ihn hält, jedes Gespräch verstummt, wenn Björn auftaucht, erzählt Björn vom Zimmer, jenem Raum, der immer mehr zu seiner Mitte wird. Aber niemand an seinem Arbeitsort, nicht einmal Margareta, der Björn während einer steifen Weihnachtsfeier im Büro im Zimmer nahe zu kommen glaubt, bestätigt die Existenz dieses Zimmers. Nicht einmal der Tür zwischen Aufzug und Toilette. Man beginnt Björn zu denunzieren, wenn er völlig weggetreten an der Wand zwischen Aufzug und Toilette lehnt. Björn nimmt den Kampf gegen die «Dummheit der Menschen auf, gegen Einfalt, Verleugnung und Inkompetenz». Björn, ein Ungetüm an Selbstbewusstsein und Selbsterhöhung. Er, ein offener, argloser Mann, im Kampf gegen Windmühlen, Er, den man doch ganz offensichtlich systematisch wegmobben will, der doch deutlich sieht, wie ein himmelschreiender Komplott geschmiedet wurde. Erst recht, als er aus dem Zimmer gestärkt Arbeiten abliefert, die bis hinauf in die Etagen der Direktion entzücken.
Grossraumbürowelt als Verkleinerung der Arbeitsgesellschaft. Björn als Archetyp jener «Aufsteiger», die durch Erfolg ihr Wesen als Kotzbrocken zu rechtfertigen wissen, die durch Umkehrung von Tatsachen und Wahrnehmung ihren Blick auf die Welt zur einzigen Wahrheit erklären, mit der Fähigkeit zu akzeptieren, dass der ganze Rest der Welt dem Irrtum verfällt. Einsam, wenn man ständig der Einzige ist, der «in dieser so leicht zu täuschenden Welt die Wahrheit sieht». «Nicht weiter verwunderlich, kreative Menschen sind schon immer auf Widerstand gestossen. Es ist ganz natürlich, dass einfach gestrickte Personen Angst vor Sachkenntnis haben.»
Gibt es dieses Zimmer? Oder ist das Zimmer bloss Björns leere Seele? Jonas Karlssons 170 Seiten starker Roman liest sich leicht und reisst einem mit. Und uns in unserem Lesekreis in eine heftige Diskussion, heftigste Bestätigung und die Überzeugung, ein eindringliches Buch gelesen zu haben!
Jonas Karlsson, 1971 in Södertälje in der Nähe von Stockholm geboren, ist eine der vielversprechendsten literarischen Stimmen Schwedens. Die New York Times lobte «Das Zimmer» als «meisterhaft», die Financial Times nannte es «brillant». Das Buch brachte Karlsson den internationalen Durchbruch. Der 45-Jährige zählt zu den angesehensten Schauspielern seines Landes und wurde bereits zweimal mit dem schwedischen Filmpreis ausgezeichnet. Karlsson hat bislang drei Kurzgeschichtensammlungen, zwei Romane und ein Theaterstück veröffentlicht.
Und was lesen wir im Lesezirkel bis im kommenden Januar? Noch beeindruckt von einer Lesung bei der BuchBasel 2016, bei der Michael Kumpfmüller aus seinem Roman «Die Erziehung des Mannes» las und erzählte, lesen wir seinen 2011 erschienen Roman «Die Herrlichkeit des Lebens», über Franz Kafkas letzte grosse Liebe.