Wo sind die Momente im Leben, die alles ausmachen, alles entscheiden? Welches sind die wirklich wichtigen Geschichten, die man alt und greise vor seinem Tod erzählt oder mit sich ins Sterben nimmt? Jane Fairchild ist über 90, müde vom Rummel und unzähligen Interviews, fast sicher, dass sie als Frau des 19. Jahrhunderts im nahenden Jahrtausend nicht mehr Gast sein wird.
Dreimal geboren. Das erste Mal 1901 als Findelkind vor die Türe eines Waisenhauses gelegt. Zum zweiten Mal am Muttertag, dem 30. März 1924, zwischen zwei Weltkriegen. Und zum dritten Mal, als man ihr eine alte, ausgediente Schreibmaschine schenkt und sie zur Schriftstellerin wird.
Jane erzählt von diesem einen, schicksalshaften Tag, einem Märzsonntag 1924. Damals war sie Dienstmädchen bei den Beechwoods und verliebt in den nach dem 1. Weltkrieg einzig «übriggebliebenen» Spross Paul. Jane erzählt eine Geschichte, die man nicht so einfach und schon gar nicht jedem erzählt. Nicht einmal dem Mann, mit dem sie Jahre später lange verheiratet war, schon gar nicht einem den von ihr geschriebenen Romane und damit all den Leserinnen und Lesern, die sie, wenn auch nicht nacherzählt, an ihrem Leben teilhaben lässt. Damals an jenem 30. März, zwei Wochen bevor ihr Geliebter Paul seine Verlobte Emma standesgemäss heiraten sollte, liegen Jane und Paul dieses eine Mal nackt in Pauls Zimmer, allein in einem grossen Haus, weil sämtliches Personal an diesem Muttertag frei bekommen hatte. Was nach Zufälligkeit aussieht, ist der Moment der zweiten Geburt. Damals, Paul war schon weggefahren, schwebt Jane immer noch nackt durch das grosse Haus ihres Geliebten. Während Paul bei einem Selbstunfall in seinem Auto verbrennt, wandelt sie wie Gott sie erschuf durch die Zimmer des riesigen Hauses, in die Bibliothek, über Treppen, in die Küche. Als würde sie eine noch fremde Welt in Besitz nehmen, flügge werden, ein Leben als Waise und Dienstbotin abstossen. Aber dieser eine Tag brennt sich ein, in alles, was an den folgenden Tagen im Leben Janes und im Leben der Schriftstellerin entscheidend sein wird. Dieser eine Tag wird alles Tun und Schreiben durchtränken, unauslöschlich. Nicht bloss diese wenigen unvergesslichen intimen Stunden im lichtdurchfluteten Zimmer ihres Geliebten, sondern ein ganzes Leben, hinauskatapultiert in die Tragödie, nackt, während die Uhren auch nach der Katastrophe weitertickten.
Der schmale Roman des Engländers Graham Swift leuchtet in das Geheimnis einer alten Frau, einer Schriftstellerin, die genau weiss, dass es Brüche sind, die einen aufbrechen lassen. Graham Swift schildert aber nicht nur die leidenschaftliche Liebesgeschichte einer 23jährigen Dienstmagd. Graham Swift erzählt von den Initialzündungen des Schreibens, dem Finden einer eigenen Sprache, der Entdeckung der eigenen Kreativität. Ein Abenteuer, das 1924 nicht der Normalfall einer Frau in Europa war. «Ein Festtag» ist ein Roman über das Schreiben, das Erzählen. Ganz am Schluss seines Romans schreibt Graham Swift: «Es ging darum, dem, was das Leben ausmachte, treu zu sein, zu versuchen, genau das einzufangen, was Lebendigsein bedeutet, obwohl das nie gelang. Es ging darum, eine Sprache zu finden. Und es ging darum … der Tatsache treu zu sein, dass viele Dinge im Leben, oh, so viele mehr als wir uns vorstellen, nie erklärt werden können.»
«Ein Festtag» von Graham Swift ist eine Perle.
Graham Swift, geboren am 4. Mai 1949 in London, arbeitete nach dem Studium in Cambridge und York zunächst als Lehrer. Seit seinem Roman «Waterland», der mit Jeremy Irons verfilmt wurde, zählt er zu den Stars der britischen Gegenwartsliteratur. «Letzte Runde» wurde 1996 mit dem Man Booker-Prize ausgezeichnet und, hochkarätig besetzt, von Fred Schepisi verfilmt. Swift favorisiert unzuverlässige Erzähler, die den Funktionen der Erinnerung und der Verknüpfung persönlicher Erinnerung mit zeit- und weltgeschichtlichen Ereignissen auf den Grund gehen – das Ergebnis sind psychologisch Glanzstücke von äußerster Raffinesse.
Bild: Sandra Kottonau