Ein paar Sekunden
Ich weiss nicht, welches Gefühl ich schlimmer finde. Das Gefühl gleich nach dem Unfall? Oder das jetzt, wo es in meinem Bauch zieht und mein Herz sich anfühlt, als klaffe ein riesiges Loch darin?
Ich dachte immer, die Wahrheit wäre etwas Gutes, etwas, das man unbedingt wissen möchte. Doch vor einigen Minuten wurde mir das Gegenteil bewiesen. Die Wahrheit kann auch verdammt schmerzhaft und zerstörerisch sein. Denn durch eine grausame Wahrheit habe ich einen Freund verloren. Gerade eben. Und den einen Teil meines Herzens hat er gleich mitgenommen. Noah.
Ich drehe mich um und stürze aus seinem Zimmer. Ich renne aus dem Haus, über die Strasse und weiter über die Wiese. Es ist mir egal, dass Noah nach mir ruft, es ist mir egal, dass meine Schuhe vom Gras nass und schmutzig werden. Es ist mir egal, dass es im nächsten Moment wieder zu regnen beginnt und es ist mir auch egal, dass es schon Abend und somit dunkel wird. Mir ist alles egal und ich renne einfach immer weiter.
Meine Kleidung ist klitschnass und mein Gesicht dreckverschmiert, als ich mich keuchend an den dicken Stamm eines Baumes lehne. Nach kurzer Zeit komme ich wieder einigermassen zu Atem und klettere vorsichtig die Leiter zum Hochsitz empor. Schon unzählige Male bin ich hier hochgestiegen, die einzelnen Tritte könnte ich trotz des morschen Holzes im Schlaf erklimmen.
Auf der kleinen Plattform angekommen, lasse ich mich auf den Boden sinken und atme den Geruch von feuchtem Holz ein. Ich lehne mich an die Rückwand und diese gibt ein lautes Knarzen von sich. Durch die Schlitze der fehlenden Bretter auf der Vorderseite blicke ich auf die verregnete und trübe Landschaft.
Schon immer mochte ich diesen alten Hochsitz, welchen Noah und ich auf einem unserer Streifzüge durch den Wald entdeckt hatten. Viele Stunden haben wir gemeinsam hier oben verbracht und geredet. Noah wird bestimmt wissen, dass ich hier bin. Doch ich glaube nicht, dass er mir bis hier hin folgt. Er kennt mich besser als jeder andere und weiss, dass ich jetzt einfach Zeit brauche.
Unwillkürlich muss ich an die vielen Dinge denken, welche ich ihm hier oben erzählt habe. Wie wir gemeinsam gelacht und manchmal auch geweint haben, an die sternenklaren Nächte, welche wir in einen Schlafsack gekuschelt auf dem Hochsitz verbracht haben, an die vielen Snickers, die wir hier oben geteilt haben, an die Tiere, welche wir von unserem Ausguck beobachten konnten, an die Geständnisse, welche wir vor dem anderen abgelegt haben und auch an die letzten Wochen, als Noah immer bei mir war und zugehört hat. Und nun das… Mir steigen Tränen in die Augen, und ich versuche gar nicht erst, sie wegzuwischen. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und weine. All die Wut, die sich in mir aufgestaut hat, verpufft und Tränen kullern über meine Wange. Meine Brust fühlt sich ganz eng an und bei der Stelle, wo früher noch ein Teil meines Herzens war, spüre ich einen drückenden Schmerz. „Scheiss Leben!“, brülle ich in den Wald hinaus. Ein lautes Schluchzen dringt aus meiner Kehle und schniefend kauere ich mich auf den Boden des Hochsitzes. Ich weine alle Tränen, die ich noch übrig habe. Ich glaubte, das können nach den letzten Wochen nur noch wenige sein, doch da habe ich mich gewaltig getäuscht.
Mittlerweile ist es dunkel und meine Augenlider werden immer schwerer. Wegen der nassen Kleidung zittere ich am ganzen Körper und schlinge meine Arme um die Knie. In Gedanken fühle ich Noahs Arm um meine Schulter, wie er mich an sich drückt und sachte über meinen Rücken streicht. Nach dem Unfall, bei welchem ich meine Eltern und meine Schwester verloren habe, gab er mir Halt und hat immer zugehört, ist mitten in der Nacht nach draussen gekommen und hat mit mir geweint. Ja, die Wochen nach dem Unfall waren schwer, doch da hatte ich einen Freund an meiner Seite. Aber jetzt, wo ich ihn verloren habe, bin ich ganz alleine. Den Kopf auf meine Knie gelegt, weine ich mich in einen unruhigen Schlaf.
Das laute Knacken eines Astes reisst mich unsanft aus dem Schlaf. Ich schrecke hoch und bleibe stocksteif sitzen. Ich höre ein Rascheln und dann beginnt jemand, vorsichtig die Leiter hochzusteigen. Das kann nur einer sein, denke ich. Die Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf und angespannt warte ich darauf, dass Noahs brauner Haarschopf vor mir auftaucht. Tränen treten mir wieder in die Augen, als er sich mit einem unruhigen Blick neben mich setzt. Ich starre stur geradeaus und versuche vergeblich, nicht zu heulen. Die Tränen kullern über meine Wange und Noah rückt etwas näher zu mir. „Mili, es tut mir so leid“, flüstert er mit erstickter Stimme. Als ich zu ihm blicke, merke ich, dass auch er weint. Ich beisse mir auf die Unterlippe und schüttle leicht den Kopf. „Ich habe lange überlegt, ob ich es dir sagen soll. Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren. Aber du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu kennen. Und… ich hielt es nicht mehr aus.“ Noahs Stimme bricht. Wieder schüttle ich den Kopf. Wie kann das alles sein?
Ich erinnere mich daran, wie ich gleich zu Noah geflohen bin, als mich die schreckliche Nachricht erreicht hatte. Ich kann mich noch genau an sein geschocktes Gesicht erinnern, als ich ihm vom Unfall erzählte. Wie erstarrt stand er da, ehe er mich in den Arm nahm. Ich hatte ja keine Ahnung, dass er in diesem Moment erfuhr, dass er die Eltern seiner besten Freundin umgebracht hatte. Noah sass nämlich am Steuer des Wagens, dem meine Eltern ausweichen mussten. Ihr Auto krachte frontal in den Baum neben der Strasse. Die Insassen überlebten nicht. Und Noah fuhr einfach weiter.„Geh Noah, bitte. Ich bin noch nicht bereit, mit dir zu reden. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es jemals sein werde.“ Ich schaue ihm direkt in die Augen und presse meine Lippen aufeinander. Ich weiss, dass ihn meine Worte hart getroffen haben. Aber ich muss mich schon zusammenreissen, ihn nicht anzuschreien. Noah wendet den Blick von mir ab und steht auf. „Ich weiss, Mili. Und ich erwarte das auch ich von dir“, stösst er hervor. „Aber ich möchte, dass du eins weisst: Du bleibst immer meine Freundin. Ich weiss, dass ich den Schaden, den ich angerichtet habe, um nichts in der Welt wieder gut machen kann. Es ist schlimm für mich zu wissen, dass du meinetwegen deine Familie verloren hast. Und nun auch deinen Freund.“ Noahs Stimme versagt, er dreht sich um und beginnt vorsichtig, die Leiter hinunter zu steigen. Er blickt mich ein letztes Mal an. „Ich gehe jetzt zur Polizei und zeige mich an. Mach‘s gut Mili, du bist der stärkste Mensch, den ich kenne“, flüstert er traurig und verschwindet aus meinem Sichtfeld. Ich höre seine Schritte, die sich schnell entfernen. ‚Ja, geh!‘, schreie ich ihm in Gedanken nach. ‚Verschwinde! Ich möchte dich nie wieder sehen!’ Wie erstarrt sitze ich da und rühre mich nicht. ‚Wieso?‘, frage ich mich immer wieder. Und wieso genau ich?
Ich lehne mich wieder an die Wand und schliesse die Augen. Es klingt wahrscheinlich seltsam, aber jetzt, wo Noah fort ist, fühle ich mich auf einmal schrecklich einsam. Und erst jetzt wird mir richtig bewusst, wie viel Mut es Noah wahrscheinlich gekostet hat, noch einmal zu mir zu kommen. Und ich Idiot habe ihn eiskalt abgewiesen.
Einerseits bin ich wahnsinnig wütend auf ihn. Doch eigentlich weiss ich: Es ist nicht direkt Noahs Schuld. Am Unfalltag bekam er den lang ersehnten Führerschein. Er war auf dem Heimweg, als er nur ganz kurz eingenickt ist. Ein paar Sekunden, die unser beider Leben veränderten. In der Zeit danach war er für mich da, dabei hätte er Unterstützung benötigt. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, mit solchen Schuldgefühlen zu leben.
Ich beginne daran zu zweifeln, ob es richtig war, Noah so hart abzuweisen und ihm allein die Schuld zu geben. Doch dann sage ich mir: Jeder braucht Zeit, um so einen Schock zu verarbeiten. Und ich nehme mir ganz fest vor, Noah noch eine Chance zu geben. Denn er ist kein schlechter Mensch, im Gegenteil! Mit ihm kann man lachen bis zum Umfallen und er hält immer zu einem.
Ich werde mir die Zeit nehmen, die ich brauche. Und dann werde ich es versuchen. Und ganz langsam kann ich mir auch vorstellen, dass ich soeben nicht zum letzten Mal mit Noah hier oben sass.
Denn er ist mein bester Freund. Und wird es wahrscheinlich immer bleiben.
Aline Popp, 3. Sek.
Laudatio zu „Ein paar Sekunden“ den Siegertext von Aline Popp in der Kategorie D
Aline Popp hat sich mit ihrem Text eine anspruchsvolle Aufgabe gestellt. Sie erzählt darin von einem Dilemma, das die Heldin innerlich fast zerreisst: ihr bester Freund hat mit dem Auto ihre eigenen Eltern zu Tode gefahren. Es ist die Geschichte einer grossen Trauer – und eine Geschichte voller gefährlicher Klippen für die Autorin. Doch Aline Popp umschifft sie geschickt, beschreibt die Ambivalenzen genau und behutsam, spürt den emotionalen Umschwüngen akkurat nach und gelangt so zu einer Wahrhaftigkeit, die die Jury sehr beeindruckt hat.
Jens Steiner, Schriftsteller, Jurymitglied 45
Die 20 besten Geschichten werden in einem Büchlein abgedruckt, dass ab Mitte Juni bei der Schulverwaltung Amriswil käuflich zu erwerben ist.
Jury für den Schreibwettbewerb 2020/2021 :
Katja Alves, 1961 in Coimbra, Portugal geboren. Verfasserin von Radiotexten und Hörspielen, Romanen, Sachbücher für Kinder und Erwachsene. Daneben arbeitet Katja Alves arbeitet sie als leitende Lektorin für den NordSüd Verlag. katjaalves.ch
Jens Steiner, 1975 in Zürich geboren, schreibt seit zwölf Jahren Bücher für Erwachsene und Kinder. Seit Kurzem lebt er an der deutschen Ostseeküste. jenssteiner.ch
Urs Bader, Lic. phil. I Universität Zürich. Von 1984 bis 2019 Redaktor beim St.Galler Tagblatt, lebt in Amriswil.
Gallus Frei-Tomic, 1962 in St. Gallen geboren, Primarlehrer in Amriswil, Literaturvermittler und seit 2020 Programmchef im Literaturhaus Thurgau. literaturblatt.ch
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