Es gibt Bücher, die sich aus nicht immer erklärbaren Gründen tief in mein Gedächtnis eingraben. Bücher, die bleiben werden, sowohl inhaltlich wie die Eindrücke aller Gefühle, mit denen ich das Buch am Ende der Lektüre ins Regal reihte. Bücher, die mich zu einem treuen Begleiter der Autorin oder des Autors werden lassen, jedes Mal beschenkt, wenn ein Neues in den Buchhandlungen aufliegt.
2005 erschien der schmale Roman «Ein Tag mit Herrn Jules» der Niederländerin Diane Broeckhoven. Der letzte gemeinsame Tag eines alten Ehepaars, von Alice und Jules. Jules steht wie jeden Morgen etwas früher auf als seine Frau, lässt die Filterkaffeemaschine an und setzt sich in seinen Sessel im Wohnzimmer. Als Alice wenig später vom Duft des Kaffees geweckt wird, muss sie feststellen, dass es das Letzte war, was ihr Mann in seinem Leben tat. Alice beschliesst, diesen einen, letzten Tag mit ihrem toten Mann alleine zu verbringen, die Maschinerie des letzten Gangs noch aufzuschieben. Sie will Abschied nehmen und «aufräumen». Wer «Ein Tag mit Herrn Jules» noch nicht gelesen hat, sollte es nachholen!
Der Roman «Was ich noch weiss» geht der Frage nach, was Familie ausmacht, Jenes scheinbar so wichtige, tragende Gefüge, das die einen als Grundfeste beschwören, die andern als Schmelztiegel aller Enge und Probleme erleben. Dabei ist Familie wie alles andere Menschliche ein vorübergehendes Ensemble mit längeren Phasen der Stabilität, die aber niemals darüber hinwegtäuschen, wie schnell «Unfälle aller Art» Familie verändern und destabilisieren können.
«Was ich noch weiss» ist die Geschichte einer solchen Familienkonstellation. Eines Tages muss Peter, der Sohn der Familie, feststellen, dass Manon, seine Mutter, nicht die einzige Frau im Leben seines Vaters ist. Obwohl dieser Peter zu seinem Komplizen machen will, eine ebenso unmögliche Konstellation, bricht die Familie auseinander. Jahre später, verlassen von Ehemann und Sohn, erleidet Manon einen Schlaganfall, just an dem Tag, an dem ihr Sohn Peter Rebecca, seiner grossen Liebe, vor Publikum den offiziellen Heiratsantrag machen will, ein Wiedereintritt in die Familie. Manon rutscht ins Koma und wacht erst Monate später langsam in einem anderen Leben wieder auf, um festzustellen, dass das Leben sich ohne sie von ihr entfernte.
Das Buch hat zwei Stimmen, jene von Manon, die am Schluss des Buches notiert, «was sie noch weiss» und jener von Peter, einem Mann zwischen Frauen. Heimlicher Protagonist des Romans ist aber jener rote Ohrensessel, den sich Manon in der Zeit als Familienfrau als Zufluchtsort und Privatinsel, für Unbefugte verboten, kauft. Jenen Sessel, der Jahrzehnte später in der grell ausgeleuchteten Lagerhalle eines «Sozialkaufhauses» steht und zum zweiten Mal von der wiederauferstanden Manon erstanden wird.
Auf eine Mail, in der ich Diane Broeckhoven frage, wie sie denn zu dieser Geschichte kam, schrieb sie zurück: «Die Geschichte in «Was ich noch weiss» ist fiktiv, obwohl natürlich kleine Geschichten und Details aus meinem eigenen Leben kommen könnten. Ich habe zwei Söhne und eine Tochter. Ich weiss, wie junge Leute reagieren können. Ich weiss auch aus eigenen Erfahrungen wie es ist, wenn sich einst Liebende trennen und wie Kinder sich dann fühlen können. Die initiale Geschichte/Basis – eine Frau, die ihre Möbel und persönlichen Besitztümer in Flöhmarkten sucht – habe ich einmal am Fernsehen gesehen. Ihre Kinder hatten alles verkauft, um Geld für ihre letzten Lebensmonate zu sammeln. Dieses Bild war zuerst da. Das hat mein Herz berührt. Ich habe die ganze Geschichte von Manon und ihren Kindern um dieses Thema gebaut.»
Diane Broeckhoven, 1946 geboren, hat zahlreiche, vielfach ausgezeichnete Kinder- und Jugendbücher geschrieben. Unter ihren Romanen für Erwachsene, etwa «Eine Reise mit Alice» und «Herrn Sylvains verschlungener Weg zum Glück», wurde «Ein Tag mit Herrn Jules» zu einem Bestseller. Das Buch ist inzwischen in sechzehn Ländern erschienen und wurde über 250.000 Mal verkauft. Diane Broeckhoven lebt in Antwerpen.
Die Übersetzerin Isabel Hessel, 1973 geboren, erhielt 2003 das Stipendium des LCB für Literaturübersetzer. Sie lebt und arbeitet in Antwerpen und übersetzte schon mehrere Bücher von Diane Broeckhoven für C.H.Beck. Ihre Spezialität sind flämische Autorinnen.