Mitte des 18. Jahrhunderts zerschellt die Wager, ein königlich, britisches Eroberungsschiff vor der Küste Chiles. 30 Männern gelingt es, sich auf eine unbewohnte, lebensfeindliche Insel zu retten. Eine Rettung, die zum Todesurteil wird, wenn sich die hilflos zerstrittene Mannschaft nicht zusammenraufen kann, sich aus eigener Kraft aus der Misere zu reissen.
Als Kind sah ich den Film „Meuterei auf der Bounty“ mit Marlon Brando, ein Streifen, der sich mit seinen Szenen auf hoher See unauslöschlich in meine Erinnerung brannte und ein Baustein war für einen verklärten Blick auf Seefahrerromantik und -abenteuer, die so gar nie existierten. Im Schweif dieser Filme und Bücher (zB. „Störtebekker“) zeichnete ich während Jahren mit Vorliebe stolze Dreimaster mit mehreren Reihen Kanonenluken, alle Segel gesetzt, in hohem Wellengang.
Dass Seefahrerei, wie sie im 18. Jahrhundert betrieben wurde, so gar nichts mit Romantik zu tun hat, wie sehr Schiffe damals eine strategische Waffe sowohl in der Kriegsführung, in direkten Auseinandersetzungen und in Wirtschaftskriegen waren, verdeutlicht das Buch „Der Untergang der Wager“. Wie überdeutlich wirtschaftliche Interessen Königreiche, Staaten, Schiffseigner und Mannschaften auf Reisen lockten, von denen alle wussten, wie entbehrungsreich oder gar tödlich sie enden könnten, schildert David Grann in einem Bericht, der sich nicht in die Menschen damals versetzen will, sondern Abläufe, eine Geschichte verstehen will.
Die Wager war damals ein Kriegsschiff einer grösseren Flotte, die von England aus einen Krieg gegen die spanische Seeübermacht führen sollte. Doch nach etlichen Verzögerungen, die schon im englischen Heimathafen ihren Anfang nahmen, erwischte die Wager bei ihrer Passage des Kap Horns am südlichsten Zipfel Südamerikas einen denkbar schlechten Zeitpunkt. Das Schiff geriet bei fatalen Stürmen immer mehr in Bedrängnis, während eine eh schon von Entkräftung, Hunger und Krankheiten geschwächte Mannschaft auf dem Schiff zu rebellieren begann. Im Januar 1742 zerschellte der manövrierunfähige Koloss an der Westküste Patagoniens. Nur mit grösster Not rettete sich eine kleine Gruppe zusammen mit ihrem Kapitän Davis Cheap auf eine unbewohnte Insel (Wager Island, noch heute unbewohnt und weitab aller Zivilisation), die permanenten Stürmen und Unwettern ausgesetzt bloss mit knorrigen Bäumen bewaldet ist. Man schleppte unter Todesgefahr vom Wrack auf die Insel, was sie die ersten Monate überleben liess, um in ihrer Verlorenheit immer deutlicher zu verstehen, dass nichts und niemand sie auf dem unwirtlichen Eiland zurück in die Heimat bringen würde.
Sehr bald zerbrachen die hierarchischen Strukturen, die ein Leben, ein Überleben auf dem Schiff, jetzt auf dem Eiland, auf engstem Raum garantierten. Gepeitscht von Hunger, Krankheit und Entkräftung eskalierte die Situation auf der Insel, die Gruppe spaltete sich, man griff zu den verbliebenen Waffen, es gab noch mehr Tote.
Im Wissen darum, dass eine Rettung nur aus eigener Kraft gelingen konnte, flickte man aus den seeuntüchtig gewordenen Beibooten rudimentär seetüchtige Schiffe zusammen und machte sich in verschiedenen Gruppen auf den hoffnungsvollen Weg zurück ins alte Leben. Aber auch diese Versuche standen unter einem schlechten Stern. Immer wieder waren die überfüllten Boote in ihrer Not gezwungen, Männer zurückzulassen. Fast ein Jahr nach ihrem Schiffbruch und einer 3000 Kilometer langen Reise voller Torturen erreichte eine erste, kleine Gruppe Geretteter die ersten Ausläufer der Zivilisation. Nachdem es noch weitere Monate dauerte, bis sie zurück in England waren, begann in ihrer Heimat aber ein zweiter Kampf; der Kampf um die „Wahrheit“, ein langwieriger Prozess, an dem die sensationslüsterne Öffentlichkeit lechzend teilnahm.
Was die Qualität dieses Buches ausmacht, ist weder Sprache nach Dramatik. David Grann gibt sich erstaunlich sachlich und die Dramatik folgt den Geschehnissen, die durch Log- und Tagebücher einigermassen nachvollzogen werden können. Grann schildert den Schrecken der Seefahrt, die Brutalität eines Lebens auf engstem Raum unter maximalen Entbehrungen. Er verklärt mit keinem Satz und zeigt auf, wie die Geltungssucht der einen und der Hunger nach Reichtum jede Gefahr auszublenden vermag. Wie sehr der Mensch bei einem drohenden Zusammenbruch hierarchischer Strukturen in die Anarchie rutscht und wie staatspolitische Interessen das eine zu einem Schauprozess werden lassen, das andere aber wohlweisslich unter den Teppich kehren.
Ungemein spannend und erhellend!
David Grann, Jahrgang 1967, ist preisgekrönter Journalist und Sachbuchautor. Er arbeitet als Redakteur bei The New Yorker und veröffentlicht Artikel u.a. in The Washington Post, The Atlantic Monthly, The Wall Street Journal. Sein Buch «Killers of the Flower Moon» erschien auf Deutsch bei btb und wurde von und mit Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio verfilmt, die sich auch die Rechte an seinem neuesten Bestseller «The Wager» gesichert haben. «The Wager» stand wochenlang auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und schaffte es auf die Summer Reading List von Barack Obama.
Rudolf Mast, geboren 1958, war Segellehrer und Segelmacher, bevor er Theaterwissenschaft und Philosophie in Berlin studierte. Dort arbeitet er heute als Theaterwissenschaftler, Lektor und Übersetzer.
Beitragsbild © Rebecca Mansell