Carlo Cassola «Ins Holz gehen», Kampa

Was für ein Geschenk, wenn man vergessene Schätze kennenlernt, wenn Verlage Namen in ihr Programm aufnehmen, denen man sonst nie und nimmer begegnet wäre. Der vor fast 40 Jahren verstorbene Römer Carlo Cassola schrieb mit dem schmalen Roman „Ins Holz gehen“ ein Denkmal der Schlichtheit, der Reduktion, der Ehrlichkeit.

Die Geschichte ist schnell erzählt; ein noch junger Witwer geht mit einer Gruppe Holzarbeiter einen Winter lang in ein abgelegenes Tal, um jene Bäume zu schlagen, die vertraglich ausgemacht wurden. Man nimmt Vorräte mit, macht sich auf einen langen, beschwerlichen Weg, baut sich eine einfache Hütte, teilt sich die Arbeit und das karge Leben im Niemandsland, hofft, dass nichts den Lauf der Dinge unterbricht und das zurückgelassene Leben einem danach wieder mit offenen Armen empfängt. Fünf Männer, durch die Arbeit verbunden, holzen, essen, spielen, schlafen und rauchen – mehr nicht.

Heutigen Geschichtenerzählern würde das nie und nimmer reichen. Eine solche Geschichte müsste mit einer ordentlichen Portion Dramatik aufgepeppt werden. Wenigstens die Psychologie unter den fünf verschiedenen Männern müsste zu Zerwürfnissen führen, einem Unglück, irgend einer Form von Katastrophe. Aber Carlo Cassola tat es nicht. Er dramatisiert nicht, mischt nicht auf, würzt nicht, schlägt keine Wellen. Aber wahrscheinlich ging es dem Autor auch gar nicht darum, eine Geschichte, eine Story zu erzählen. Carlo Cassola wollte ein Bild malen. Ohne Effekte, ohne grelle Blitzlichter. Sein Bild ist die Schilderung eines Winters, eines Lebens, einer Sehnsucht, einer Angst, einer grossen Trauer. „In Holz gehen“ ist ein Roman, der ins Innere geht, der sich dem Kern nähert, existenzielle Fragen stellt.

Carlo Cassola «Ins Holz gehen», Originaltitel: Il taglio del bosco, Kampa, aus dem Italienischen von Marina Galli, 112 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-311-10119-2

Gugliermo ist noch nicht einmal vierzig und hat nach acht Jahren Ehe seine Frau verloren. Sie starb schnell, an einem Fieber, das sich niemand erklären konnte. Gugliermo lebt mit seinen Kindern und seiner Schwester, die ihm im Haus zur Hilfe gekommen ist, in einer Art Schockstarre, noch immer unfähig, das Geschehene als Tatsache zu akzeptieren, ein neues Kapitel zu beginnen, sein unterbrochenes Leben wieder aufzunehmen. Wieder ein Winter weg im Holz, weg von all den Dingen und Orten, die ihn an das verlorene Leben mit einer Frau erinnert, die er noch immer liebt, kommt ihm gerade recht. Jetzt sowieso, wo er weiss, dass seine Schwester zum Rechten schaut, ihm den Raum gewährt und er sich wenigstens als Ernährer behaupten kann.

Sie ziehen weit weg von den letzten Dörfern, widmen sich ganz der harten Arbeit in dem grossen Stück Wald, das man ihnen zur Rodung verkauft hatte. Fünf Männer, die nicht durch Freundschaft, sondern durch wirtschaftliche Interessen verbunden sind. Jeder mit einer Geschichte, mit der man bei den andern nicht zu hausieren gedenkt. Man macht seine Arbeit, isst die kargen Mahlzeiten, spielt an den langen Abenden Karten, lässt das Feuer nicht ausgehen und hofft, dass einem weder Wetter, Krankheit noch Unglück einen Strich durch die Rechnung machen. Gugliermo hat sich ergeben, in seiner Arbeit, seinem Leben, in denen er längst längst aufgegeben fühlt. Durch einen ganzen Winter, über die Weihnachtstage bis in den Frühling hinein.

Carlo Cassola erzählt ganz schlicht, als wäre seine Absicht eine dokumentarische. Aus heutiger Sicht ein Leben, dass in seiner Einfachheit Lichtjahre vom unsrigen entfernt scheint. Ein Leben wie ein Holzschnitt. Aber auch ein Leben, das Tiefen und Abgründe nicht ausleuchtet. Da ist ein Enttäuschter, ein Zurückgelassener, ein Gefangener, ein Verschlossener, der sich nach Erlösung sehnt, aber keine Ahnung hat, wie er sie gewinnen soll. „Ins Holz gehen“ ist reinste Poesie, ein Sprachschmuckstück, eine literarische Perle.

Carlo Cassola, 1917 in Rom geboren, begann An­fang der vierziger Jahre, kurz nachdem er sein Jurastudium absolviert hatte, mit dem Schreiben. Während des Zweiten Weltkriegs war er am Widerstand der Partisanen beteiligt, eine Erfahrung, die viele seiner Erzählungen prägte. In simpler Prosa mit lyrischem Unterton porträtiert sein Werk zumeist die Landschaft und die Menschen der ländlichen Toskana. 1960 erhielt Carlo Cassola für «Il taglio del bosco» den Premio Strega, der Roman wurde von Luigi Comencini verfilmt. Carlo Cassola starb 1987 in Monte­ Carlo.

Marina Galli, geboren 1993, studierte Geschichte, Verglei­chende Romanische Sprachwissenschaft und Italienisch in Zürich, Venedig und Lau­sanne mit Spezialisierung in literarischer Übersetzung am Centre de traduction litté raire. Sie übersetzt freiberuflich aus dem Italienischen und Fran­zösischen und lebt in Basel.

Beitragsbild © Kampa