Hoch über dem Thurtal mit weitem Blick auf die Alpenkette leben die Schriftsteller Michèle Minelli und Peter Höner in einem alten Bauernhaus, dass sie nicht nur für sich als Wohn- und Arbeitshaus benutzen, sondern dieses mit einem Coachingangebot für Schreibende zu einem Schreibhaus werden lassen. Michèle Minelli war bereits einmal Gast in Amriswil zu einer Hauslesung aus ihrem neusten Roman «Die Verlorene».

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich!
Mich treibt die Dringlichkeit der Geschichte. Aber wenn ich genauer hinschaue, ist da in jeder Geschichte die Geschichte eines Bruchs, und wenn ich den Bruch anschaue, dann sehe ich, dass es das ist, was ich erzählen will. Wie Menschen mit Brüchen umgehen. Mag sein, dass eine Tiefenpsychologin darin etwas Spannendes sieht, über das sie schreiben würde mit der ihr eigenen Dringlichkeit. Mir reicht es, die Geschichte, angetrieben durch den Bruch, schreibend zu erfahren und erfahrbar zu machen.

Ein Justizskandal:
Als Friedas Dienstherr die Tür verriegelt und sich an sie drängt, ist sie verloren. Hinter ihr liegt eine unbeschwerte Kindheit im thurgauischen Bischofszell, vor ihr die jahrelange Schmach einer unerlaubten Mutterschaft. Im aufstrebenden St. Gallen kann sie in der Anonymität der Stadt untertauchen, das Kind hält sie vor allen in einer Kinderbewahranstalt versteckt. Weil der Junge dort aber nicht bleiben darf und sie nicht für ihn sorgen kann, ergreift allmählich ein düsterer Plan von ihr Besitz …
Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest?
Für mich ist der schönste Moment, wenn ich die Schlussszene in einem Manuskript schreibe. Ich spare sie mir auf. Ich spare mir diesen Moment auf und will ihn mit viel Zeit geniessen. Den Schluss sehe ich wie auf einer Leinwand vor mir, auf den Schluss schreibe ich zu, und wenn er dann vor mir steht, ist da immer auch ein Moment voll Ehrfurcht, Atemlosigkeit.
Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ja, ich höre Musik. Jedes Buch, das ich geschrieben habe, jede Geschichte, hat ein besonderes Lied. Ich lasse mir jeweils Zeit, es zu finden, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Und wenn ich es habe, höre ich es in Endlosschlaufe im Hintergrund. Sobald ich also in mein Schreibzimmer gehe, mich hinsetze, den Tee neben mir, und diese Musik einschalte, weiss mein Gehirn: Aha, es geht wieder los! Und dann geht es los.
Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Ich glaube, ich denke klarer, wenn ich schreibe. Scharf genug?

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tust du aktiv etwas dafür/dagegen?
Wenn damit der Ort in meinem Inneren gemeint ist, an dem ich an mein entstehendes Werk glaube und nicht zweifle, dann ist dieser Ort tatsächlich keine Festhalle. Und doch gibt es Menschen, mit denen ich mich über das Schreiben austauschen kann, die an diesem Ort zugelassen sind, auch wenn die Dinge noch im Prozess sind; das sind dann eben gute Freunde, die wissen, wie man sich an einem solchen Ort benimmt. Das sind, wie ich: Schreibende, die das Schreiben als eine Mischung aus Zauber und Arbeit verstehen und genau wissen, dass Schreiben Bewegung ist, Prozess.
Das wäre eine erste Antwort.
Eine zweite lautet: Ja, diese Einsamkeit gibt es, es ist aber viel mehr ein Alleinsein mit sich und dem Text, denn eine Einsamkeit. Da ist keine Trauer, da ist nur Konzentration.
Zähl bitte drei Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben?
Geprägt haben mich in meiner Jugend die Bücher von Jakob Wassermann («Christian Wahnschaffe» oder «Caspar Hauser» oder die Trilogie «Der Fall Mauritzius», «Etzel Andergast» und «Joseph Kerkovens dritte Existenz»; Joyce Carol Oates (einfach alles, was ich auf Deutsch oder Englisch in die Hände bekam)) und Philippe Djian mit seiner „Betty Blue“. Hin und wieder blättere ich in diesen Büchern auch heute noch und entdecke darin die Michèle von 15, von 17, von 20 Jahren.
Michèle Minelli, 1968 in Zürich geboren, ist dort Dozentin für kreatives Schreiben. Sie hat Dokumentarfilme gedreht, Sachbücher, eine Reisereportage und einen Roman veröffentlicht, bevor 2012 ihre grandiose Familiensaga «Die Ruhelosen» erschien. 2013 folgte der Kriminalroman «Wassergrab» Sie erhielt verschiedene Preise und Stipendien. Ihr neuer Roman «Die Verlorene» (2015) erzählt die authentische Geschichte der Frieda Keller, die 1904 in St. Gallen in einem aufsehenerregenden Justizskandal verurteilt wurde. Ebenfalls im Jahr 2015 veröffentlichte Michèle Minelli zusammen mit der Fotografin Anne Bürgisser beim Verlag Hier und Jetzt den Foto- und Textband «Kleine Freiheit» zu den Jenischen in der Schweiz.

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wünschte mir, ich hätte meinen Vater als Kind auch eine zugefügt.“ Jens, Johannas Vater, ist aus der Familie ausgetreten, weggegangen und nie zurückgekehrt, als Johanna noch ein Kind war. Ein halbes Jahr nach seinem Verschwinden kam eine läppische Karte. Noch später blieben alle Zeichen aus. Johannas Vater ein Republikflüchtling? „Andere Kinder hatten imaginäre Freunde oder imaginäre Superhelden; ich hatte einen imaginären Vater.“ So wie ihre Mutter, die eigentlich das Zeug und die Ausbildung zur Tierärztin hätte, den Mist in den Gehegen des städtischen Zoos zusammennimmt, lernt sie im von der Mauer befreiten Berlin Strassenbahnführerin, von der Mutter unverstanden und bis zu ihrem Auszug mit Ratgebern aller Art bombardiert.
Paula Fürstenberg, Jahrgang 1987, wuchs in Potsdam auf. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Frankreich studierte sie von 2008 bis 2011 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Seither lebt, schreibt und studiert sie in Berlin. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Hattinger Förderpreis für Junge Literatur und dem Arbeitsstipendium des Landes Brandenburg; 2014 war sie Stipendiatin der Autorenwerkstatt am Literarischen Colloquium Berlin. «Familie der geflügelten Tiger» ist ihr erster Roman.




Ein Mann wohnt in Berlin, zusammen mit seiner Geliebten – und doch allein. Vielleicht ist genau das jenes Gefühl, jene Einsicht, die bleibt, wenn man Matthias Zschokkes neuen Roman «Die Wolken waren gross und weiss und zogen da oben hin» liest. Auch wenn da im Roman noch andere gehen, warten, zögern, stören, mich als Leser interessieren, denen ich in verschiedenen und sie mir mit verschiedenen Qualitäten begegnen. Aber der Mann, man bleibt allein, schlendert durch die Stadt, kauft am Kiosk die Zeitung, die man mehr des Kaufes wegen kauft, als dass er, der Mann, man interessiert wäre, was darin steht. Roman lebt in Berlin, trägt in seinem Kopf Geschichten und Theater mit sich herum, besucht an den immer gleichen Tagen seine Mutter ein paar hundert Kilometer weit entfernt, die ihn mehr oder weniger flehentlich darum bittet, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, genau wie Freund B., der es auch nicht scheut, Roman zu beauftragen, Grill, Kohle und genügend Klebeband zu kaufen und zu schicken, das wäre eine sichere Sache. «Menschen ist es nicht erlaubt, lebensmüde zu werden. Sie müssen jauchzen und springen bis ans Ende ihrer Tage, auch wenn das Jauchzen in Wahrheit ein Winseln ist und das Springen eins auf glühenden Kohlen.»
Matthias Zschokke, geb. 1954 in Bern, aufgewachsen in Aargau und Bern, lebt seit 1980 als Schriftsteller und Filmemacher in Berlin. 1982 debütierte er mit dem Roman «Max», für den er den Robert-Walser-Preis erhielt. Zschokke veröffentlichte zahlreiche Romane, Theaterstücke und Spielfilme. Er wurde mit renommierten Preisen gewürdigt, darunter der Gerhart-Hauptmann-Preis, der Solothurner Literaturpreis und der Prix Femina étranger für den Roman «Maurice mit Huhn».
Am 11. März 2011 rollte eine gigantische Welle über grosse Teile Japans, ein Land, das mit Beben aller Art zu leben schien. Aber was an Wassermassen über Japan hinwegschwappte, überstieg alle bisher gehegten Befürchtungen. Der Tsunami überflutete eine Fläche von 470 Quadratkilometern, soll eine Höhe von 16 Metern erreicht haben und zerstörte einen bis zu 10 km breiten und über Hunderte Kilometer langen Küstenstreifen. Im Bewusstsein des Westens blieb die damit ausgelöste Reaktorkatastrophe von Fukushima. All diese Schrecken jenes Tages und der darauf folgenden Jahre wären schon Grund genug, sich ins Bewusstsein zurückzurufen, was damals eine ganze Welt den Atem anhalten liess. Nina Jäckle ist aber nicht einfach «bloss» ein literarisches Denkmal gelungen. Nina Jäckle schlüpft in die Seele eines Japaners, der als Zeichner den unkenntlich gewordenen Opfern der Katastrophe ein Gesicht zurückgeben soll. Anhand von Fotos zeichnet er die Opfer zurück, damit den Angehörigen eine Identifizierung erst möglich wird. Für viele wird die Trauer erst fassbar, wenn die vom Wasser geschluckten Opfer als Tote zurückkehren. Während er immer tiefer in seine Aufgabe hineinrutscht, entfernt er sich immer mehr von seiner Frau, die wie alle von den Geschehnissen traumatisiert ist. Sie schaffen es nicht einmal mehr, sich in die Augen zu sehen, schauen sich bloss noch zu, jeder in seinem Leben und seiner Trauer eingeschlossen. So wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg und nach den Schrecken des Holocausts, schämen sich viele Japaner ihres Glücks überlebt zu haben. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Das Meer ist nicht mehr jenes Meer, das nährt und das Auge freut. Landschaft ist nicht mehr Landschaft, Vergangenheit mit einem Mal ausgelöscht und eine Zukunft kaum mehr vorstellbar. «Immer würde man versuchen, das zu sehen, was einmal da war, man konnte nur mehr das Fehlen sehen.»
Nina Jäckle ist 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung «Nai oder was wie so ist», 2011 ihr Roman »Zielinski» und 2014 der Roman «Der lange Atem». Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen.
Die Brugger Literaturtage sind besondere Tage, besondere Literaturtage! Wo werden Bücherfreunde wirklich eingeladen? In Brugg! Dort lässt man seine Gäste höchstens für die Räucherwurst mit Kartoffelsalat anstehen, aber nicht für des Fest im Literaturstädtchen Brugg. Die Stadt gönnt sich den Luxus eines stadteigenen Bücherfests, organisiert durch die Vereine Salzhaus und Odeon.
die bisher erschienen Romane hinausgeht, sind es Brüche, die die Autorin miteinander verwebt. Jener von von der jungen Isa, die mit der Familie bricht, getrieben nun endlich mit ihrem Leben Wirkung zu erzeugen. Jener von Beda, die mit ihrer Flucht aus dem Kaukasus mit ihrer Vergangenheit brach und im «neuen» Leben, in der neuen Stadt, im neuen Land wieder zum Abbrechen gezwungen wird; von ihrer Liebe, von ihrem wirklichen Selbst. Und jener von Innensenator Otten, der all die Brüche in seiner Vergangenheit spürt und jenen als Politiker, Vater und Ehemann, jenen, der ihn mit einem Mal einsam werden lässt. Ursula Fricker versteht es, viel Nähe zu den Protagonisten zu erzeugen, auch wenn der Eindruck aufkommen kann, die Autorin hege nicht gleichmässig Sympathien für jeden ihrer Protagonisten. Warum sollte sie auch! Beda verkörpert Wahrhaftigkeit, Otten die guten Seiten hinter allen Fassade, und Isa all jene, die mit grossen Idealen die Selbstreflexion, den Zweifel verlieren. «Lügen» im Titel, weil sie nicht einfach bloss schlecht sind. Fast jeder braucht sie, um sich aufrecht im Leben halten zu können.
Ursula Fricker,
Und ausgerechnet durch Wattenhofers Ermittlungen muss der Polizeiwachtmeister feststellen, dass sein Sohn, kaum abgenabelt, auf Konfrontationskurs mit der Staatsgewalt ist. Als ihm Helen, seine Gemahlin, offenbart, dass auch sie vor seiner Zeit einmal verbotene Rauschmittel ausprobierte und im Zuge der Opernkravalle für einige Stunden ein Gefängnis ausprobierte, und sich dann auch noch auf die Seite seines abtrünnigen Sohnes schlägt, der unter die Hausbesetzer gegangen ist, spitzt sich die Lage zu. «Wenn Helen ihm zwanzig Ehejahre lang verschwiegen hat, dass sie eine Nacht im Gefängnis verbrachte, welche Geheimnisse hat sie noch?» Aber Wattenhofer taugt nicht für Schlagzeilen und Filmstoff, allerhöchstens in seinen Fantasien, die ihn in unbedachten Momenten manchmal entgleiten lassen. «Der unerträgliche Unterschied besteht darin, dass bei den Tatort-Kommissaren die Philosophie, die liebende Frau, das Kind, die Imbissbude und der Ärger über Kollegen nur die Beilagen zu einem Mordfall sind, er hingegen kaut seit fünfundzwanzig Jahren darauf herum, als wären sie der Hauptgang.» Wattenhofer ist aus seinem Idyll vertrieben, mit der Erkenntnis, dass auch ohne Mord und Todschlag nichts mehr so ist, wie es einmal war. Da braut sich die Angst wie ein Sturm zusammen. Er muss feststellen, dass er stets ausserhalb der wirklichen Welt steht, nicht dazugehört, als Polizist höchstens Staffage ist. So stürzt sich Wattenhofer in seine Ermittlungen darüber, was ein Garderobenschlüssel und ein in lauter kleine Schnipsel zerrissenes Foto seines Sohnes mit dem schief hängenden Haus- und Dorffrieden gemein haben.
Lorenz Langenegger, Jahrgang 80, lebt und arbeitet als Schriftsteller in Zürich und Wien. Er studierte Theater- und Politikwissenschaft in Bern, wo seine ersten Arbeiten fürs Theater entstanden sind. Bei Jung und Jung erschienen bisher die Romane «Hier im Regen (2009) und zuletzt «Bei 30 Grad im Schatten».
Meine eigenen oder die des Lesers? Meine eigenen sowieso, s.o. Falls das auch bei anderen Menschen gelingen sollte, dann wohl am ehesten auf die Art, dass gefestigte Überzeugungen destabilisiert werden und derjenige muß sie dann wieder neu zusammensetzen. Was wir ja sowieso ständig im Leben tun sollten, sobald wir die Kapazität dazu haben. Ich würde gern der Welt die Komplexität, die wir ihr durch die täglichen Routinen (auch des Denkens und Fühlens) nehmen, wieder zurückgeben.
Eine Abenteuergeschichte über die Abgründe des eigenen Ichs, eine moderne Legende – bildmächtig, geheimnisvoll, bezwingend.