Antoinette Rychner «wo auch immer wir sind», verlag die brotsuppe

Antoinette Rychners Buch „wo auch immer wir sind“ ist auf dem Buchdeckel als Erzählung deklariert. Aber diese Erzählung ist ein ganz persönlicher Bericht aus ihrer Familie, ein Nacherzählen dessen, was nach einer Diagnose wie ein Tsunami über die Familie der Autorin hereinbrach.

Betroffenheits- oder Verarbeitungsliteratur, Nabelschauen sind nicht mein Ding. Bücher, die einen siegreichen Kampf beschreiben oder wie man trotz eines zerstörerischen Schicksals doch wieder auf die Beine kam, sind nicht meine Sache. Wäre die Autorin dieses Buches nicht Antoinette Rychner gewesen, eine vielseitige und erfolgreiche Autorin, hätte ich das Buch nicht einmal zur Hand genommen. Das ist gewiss ein Vorurteil. Aber weil Antoinette Rychner aus einem persönlichen Kampf, einem beinahe tödlichen Schicksal ein Stück Literatur machte, interessierte mich das Buch dann doch und hielt mich bis zur letzten Seite in Bann.

Familien sind filigrane Gefüge, die ganz schnell in Schieflache geraten können. Das wissen alle, die sich in dieses Abenteuer stürzen oder man weiss es aus eigenen Erfahrungen als Kind. Dafür, dass „Familie“ noch immer als Grundpfeiler eines Staates bezeichnet wird, eine ziemlich wacklige Grundfeste.

Stellen Sie sich vor; eines ihrer Kinder klagt über Schmerzen. Es ist noch nicht in der Schule und kann nur ganz ungenau verorten, woher der Schmerz kommen könnte. Stellen Sie sich vor, der Schmerz nimmt ihr Kind immer mehr ein, überfällt es wellenartig, zerreisst es vor Ihren Augen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit Ihrem Kind ins Spital, Sie tragen es in die Notaufnahme und man teilt Ihnen nach Stunden mit aller Freundlichkeit und Vorsicht mit – Leukämie – Burkett Leukämie – eine der schnellstwachsenden Tumorarten.

Antoinette Rychner «wo auch immer wir sind», verlag die brotsuppe, aus dem Französischen von Yla M. von Dach, 2022, 152 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-03867-062-9

Antoinette Rychner erzählt dem kleinen Bruder von Aloys, Benjamin, der bei der Diagnose drei Monate ist, von dem einen halben Jahr, das über Leben und Tod des grösseren Bruders entscheidet. Sie erzählt es ihm, um ihm im Nachhinein zu erklären, warum jene Zeit nicht so verlief, wie sie hätte verlaufen sollen, wie sich es eine junge Familie wünscht, eine Familie, in der sich Mutter und Vater lieben, in der eigentlich alles ist, wie es sein sollte. Von einem halben Jahr, in dem alles wie im Sturm durch die Familie fegt. In dem alles bedroht scheint, alle Normalität aufgehoben ist, kein Stein auf dem andern zu bleiben scheint. Von einem halben Jahr, in dem alles neben der Krankheit und der Sorge um den fünfjährigen Aloys zur Nebensache wird, auch das Familienleben. In der alles bloss noch funktionieren muss, um das Überleben aller zu sichern.

Mutter und Vater, Aloys und Benjamin überstehen das halbe Jahr. Nicht weil sie gesiegt haben, nicht weil sie der Krankheit getrotzt haben, nicht weil sie Übermenschliches geleistet hätten. Sie überstanden, weil sie es schafften, sich ihrem Elend nicht zu ergeben, weil sie es schafften, die Lasten in diesen Monaten auf viele Schultern zu verteilen, weil sie an die Liebe glaubten, auch wenn sie tief unter Automatismen begraben wurde. Weil sie sich ihrer Grenzen bewusst waren, weil sie Schwäche eingestehen konnten, weil sie nicht in erster Linie zu siegen hatten.

„wo auch immer wir sind“ ist ein zärtlicher Monolog mit dem kleinen Benjamin, von dem die Mutter weiss, das er irgendwann verstehen will. Und nicht zuletzt ist dieses Buch ein Zeugnis für all jene Privilegien, die wir ganz unbekümmert in einem Land geniessen, dessen Gesundheitssystem in aller Regel alles tut, um mit Respekt der Gesundheit zu dienen. „wo auch immer wir sind“ macht demütig, auch gegenüber dem filigranen Gefüge „Familie“.

Antoinette Rychner, 1979 geboren, studierte in Vevey Theatertechnik, arbeitete danach in verschiedenen Westschweizer Theatern, bevor sie selbst Bühnenstücke zu schreiben begann. Sie hat am Literaturinstitut in Biel studiert und wurde 2016 für ihren ersten Roman «Der Preis» (ebenfalls von Yla M. von Dach ins Deutsche übersetzt und im verlag die brotsuppe erschienen) mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. »Peu importe où nous sommes« erschien 2019 in den éditions d’autre part.

Yla M. von Dach lebt als freischaffende Autorin, journalistische und literarische Übersetzerin in Paris und Biel. Für ihre literarischen Übersetzungen wurde die Autorin mehrfach ausgezeichnet, für ihr übersetzerisches Gesamtwerk 2018 im Rahmen der Schweizer Literaturpreise mit dem Spezialpreis Übersetzung. Sie hat unter anderem Nathacha Appanah, Nicolas Bouvier, Catherine Colomb, Sylviane Chatelain, François Debluë, Marie-Claire Dewarrat, Sandrine Fabbri, Alice Ferney, Janine Massard, Henri Troyat, Sylviane Roche, Catherine Safonoff und Alexandre Voisard übersetzt.

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