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Berufsverkehr, alle haben es eilig, nach Hause zu kommen, nur du stehst da ganz ruhig an der Ecke und wartest auf mich, in deinem Karohemd und deiner schwarzen Jacke, die du immer zur Arbeit trägst, und hältst diese braune Papiertüte in der Hand. Zur Begrüssung küssen wir uns nicht. Wir gehen nebeneinander her und schweigen. Deine Stirn ist gerunzelt. Wir überqueren den Fluss und sagen immer noch nichts. Deine Höflichkeitsfragen interessieren mich nicht, und meine Antworten haben nur eine Silbe. Unter hellem Frühlingsgrün, das unangemessen hübsch und hoffnungsfroh an den Bäumen der Allee spriesst, frage ich dich, ob ich dir etwas abnehmen soll, und du verneinst; trägst die Tüte bis zum Hafen. Wir setzen uns ans Ufer, meine Beine baumeln über den Rand, der Teer drückt sich in meine Handballen. In das Schweigen fallen dumpfe Sätze, die stammelnd vermitteln, wie sich das anfühlt, was geschehen ist. Von den violetten Industriewolken, die von der untergehenden Sonne beschienen werden, wende ich mich ab, weil ich dir in die Augen sehen möchte beim Versuch zu verstehen, ob du mein Gesicht von Ratten zerfressen lassen würdest. Wir haben beide Orwell gelesen. Aber du brauchst keinen Grossen Bruder, vielleicht genügen auch schon deine eigenen Interessen. Meine verbale Vehemenz verunsichert dich, dennoch bewahrst du die Contenance. Zurück bei den Brücken fragst du, wie es weitergehe. Die unvermeidliche Frage, aber es geht nicht weiter. Wir laufen in Richtung Bahnhof, manchmal lachen wir und ich sortiere vergeblich Gefühle, die Schubladen passen nicht. Hungrig vom langen Gehen und Sprechen bestellen wir bei Burger King Pommes und Eis. Als wir uns verabredet hatten, hatte ich gesagt, ich wolle dich nicht in einem Restaurant treffen, weil ich nicht in einem Restaurant heulen wolle. Aber als du mir die geliehenen Bücher und die Tüte hinstreckst und endlich verrätst, was darin steckt: bröselige Maiswaffeln, glutenfreie Linsenpasta, trockenes Beerenmüsli – du nennst es: «deine Sachen» –, da weine ich dann doch. Ich entgegne dir: Das will ich nicht, dass das dasjenige ist, was bleibt, und ziehe schniefend den Rotz hoch. Die Sechzehnjährigen an den Nebentischen drehen sich zu uns um, ich versuche ihre irritierten Blicke zu ignorieren. Du schaust mich entschlossen an und sagst: Komm, wir gehen. Der erste Satz an diesem Abend, für den ich dir dankbar bin. Ich nehme die Papiertüte in meine Hand, sie fühlt sich fremd und schwer an, und bringe das Tablett zurück, wundere mich, dass meine Beine tragen. Auf dem Bahnhofsplatz umarmen wir uns zwischen sich kreuzenden Tramlinien, dann gehen wir auseinander, und ich halte die Papiertüte, deren Inhalt ich am liebsten in den Müll schmeissen würde. Mit festen Schritten gehe ich am Abfallkübel auf der Passerelle vorbei. Mein Über-Ich flüstert mir ein, dass du recht hast, dass das Cracker und Müsliflocken sind wie alle anderen und kein Symbol. Deshalb gehe ich weiter und trage die Tüte, die sich anfühlt wie Feuer in meiner Handfläche, die Strasse hinunter, bis ich zum Haus des Mannes komme, der lange vor dir da war und es immer noch ist, weil wir Kinder zusammen haben. Er soll die Nahrungsmittel haben, für ihn lässt sich ihr Gehalt in Kalorien zählen. Zitternd suche ich mit nassen Augen den Schlüssel, da kommt er aus dem Haus, aufgekratzt, mit zurechtgegeltem Haar, neben ihm eine Frau, die schon da war, bevor ich da war. Mit rauer Stimme rufe ich seinen Namen und hebe die Tüte hoch, erkläre ihm den Inhalt, drücke sie ihm in die Hand. Und bin sie los.
Anna Pieger geboren 1981 in München, sesshaft in Basel. Schreibende, Mutter von zwei Kindern. Studium an der Universität Basel. Ihre Brötchen verdient sie als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache. Ihr literarisches Schaffen umfasst Prosa und Gedichte. Im Moment schreibt sie an ihrem zweiten Roman. Mit ihrem Mentor Urs Mannhart, den sie ihm Rahmen der Literaturplattform «double» des Migros-Kulturprozents kennengelernt hat, verbindet sie die Leidenschaft für kontroverse Diskussionen über Texte und eine Vorliebe für rezenten Käse. Unterstützt von der Literaturförderung Basel-Stadt geht das Mentoring mit ihm 2017 in die zweite Runde.