Was passiert, wenn ein Leben aus dem Tritt gerät. Wenn Lebenspläne abbrechen, der Ehemann beim Joggen stirbt, die Tochter zusammenbricht, das eigene Selbstverständnis ins Wanken gerät. «Halbinsel» ist ein Roman über die Nöte der Gegenwart. Halbinsel ist durchaus metaphorisch zu verstehen – wenn der Zugang zum Festland immer schmaler wird!
Annett erhält einen Anruf aus einem Spital, ihre Tochter habe einen Schwächeanfall erlitten, nichts Schlimmes, aber man behalte sie für weitere Abklärungen in der Klinik. Annett parkiert Bo, ihren Hund, bei Nachbarn und fährt hin, mit bangen Gefühlen. Annett ist mehr als verunsichert. Hätte sie merken sollen, dass es Zeichen gab? Mit einem Mal schwebt dieses Gefühl wieder über ihr, nicht genügt, zu wenig getan, die Zeichen nicht richtig gelesen zu haben. Wie damals, vor zwei Jahrzehnten, als Johan, ihr Mann, bei einer Runde Joggen nicht nach Hause kam, Annett mit dem Fahrrad verzweifelt zu suchen begann und Johan zusammengebrochen am Strassenrand fand. Damals starb ihr Mann und mit ihm das Vertrauen darauf, es würde sich schon alles zum Guten wenden.
Weil Annett spürt, dass Linn, ihre Tochter, Ruhe braucht, nimmt sie die junge Frau nach Hause, in das kleine Haus nicht weit vom Meer. In ein Zuhause, in das Annett sich in den letzten Jahren immer mehr zurückgezogen hatte, in ein beschauliches Leben mit Bo ihrem Hund, der Arbeit als Bibliothekarin in der nahen Kleinstadt – ein geparktes Leben. Dass Linn vorübergehend wieder in ihr altes, unverändertes Kinderzimmer zieht, verunsichert und berührt Annett gleichermassen. Nicht zuletzt darum, weil Annett nicht klar ist, was Linn aus ihrem Leben herausgerissen hat. Sie, die studierte, die sich mit Feuer der Natur verschrieben hatte, sich in als Umweltvolontärin für die Wälder in Schweden und Rumänien einsetzte, die ein eigenes Leben geführt hatte.
Was ist mit ihrer Tochter los, die in den ersten gemeinsamen Tagen im Haus das Bett kaum verlässt, keine Anrufe entgegennimmt und ihrer Mutter irgendwann verkündet, sie habe ihre Stelle noch vor Ende der Probezeit gekündigt und suche für ihre Wohnung Nachmieter? Wie soll sie reagieren, wenn ihre Tochter kaum Zeichen gibt, jede Frage zum Bumerang werden kann? Annett wird vom Hotel, wo es zum Zusammenbruch kam, informiert, man schicke ihr die Rechnung für Instandsetzungsarbeiten und die Restaurierung eines beschädigten Bildes. Was passierte an jenem Tag, von dem Linn in Bruchstücken erzählte, sie habe einen Vortrag gehalten, aber nicht das erzählt, was man hören wollte?

Annett macht sich auf den Weg. Weil ihre Tochter sie nur bruchstückweise an ihrem zum Stehen gekommenen Leben teilhaben lässt und sich das so ruhig gewordene Leben einer Witwe mehr und mehr in Schräglage sieht, braucht Annett eigene Antworten. Sie sucht in den Kisten und Schachteln, die sie im Keller ihres Hauses verschlossen glaubte. Sie sucht in abgebrochenen Spuren, im Hotel, in dem Linns Zusammenbruch stattfand, in der Wohnung, die aufgelöst wird. Langsam nähern sich zwei Leben an, zwei Leben, die sich nach dem Aufbruch Linns in ein eigenes Leben, voneinander entfernten und auseinanderdrifteten. Linns Leben in überschäumendem Aktionismus, Annetts Leben im unfreiwilligen Stillstand.
Kristine Bilkaus Roman ist nicht nur sprachlich überzeugend, sondern auch in der Vielfalt seiner Themen, ohne je überladen und konstruiert zu wirken. So viel Leidenschaft, so viel Verständnis und Empathie. Nicht nur für die Generation derer, die sich von der Lage der Welt zum Kampf aufgefordert fühlen und zu resignieren drohen, sondern für all jene, die sich einer permanenten Selbstbefragung ausgesetzt sehen. Einer Suche nach Antworten, die letztlich immer eine alleinige Suche bleibt. „Halbinsel“ erzählt viele Geschichten übereinander und ineinander; die Geschichte von Frauen, die ihre Rollen neu definieren, finden müssen, die Geschichte einer Mutter und Ehefrau, die Geschichte eines scheinbaren Friedens, der auf sandigem Grund gebaut ist, die Geschichte über den Zustand der Welt.
Jurybegründung der des Preises der Leipziger Buchmesse: «Leicht nacherzählbar scheint dieses Buch zunächst, doch das ist eine Täuschung. Kristine Bilkau trägt sukzessive Schichten von Fragen ab, die verunsichern. Das unerwartet zusammengeführte Duo aus Mutter und erwachsener Tochter braucht mehr als guten Willen für ein neues Lebensmodell. «Halbinsel» ist ein sensibel gebauter Roman über emotionale Altlasten, über Grosszügigkeit und über das Geschäft mit dem Klima-Gewissen.»
Kristine Bilkau, 1974 geboren, zählt zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Bereits ihr Romandebüt «Die Glücklichen» fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit «Nebenan» stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ihr neuer Roman «Halbinsel» wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Beitragsbild © Thorsten Kirves