Wie sehr Literatur überraschen kann, beweist Marica Bodrožić mit ihrem neusten Roman „Das Herzflorett“. Pepsi ist ein Mädchen, hin- und hergeschoben zwischen Dalmatien und dem bundesdeutschen Hessen. Ein junges Mädchen, eine junge Frau, die sich wehrlos all den Zwängen ihrer Kultur, ihrer Herkunft, ihrer Familie, der Geschichte und den Wirren in ihrem Heimatland ausgesetzt fühlt.
Pepsi ist noch sehr jung, als sich die Eltern der Arbeit wegen Richtung Norden, nach Deutschland auf den Weg machen. Manchmal lebt sie bei der Grossmutter, machmal bei Tanten. Ihre Eltern sieht sie nur ganz selten, wenn sie mit Taschen vollbepackt von dort herkommen, wo sich in der Ferne ihr Leben abspielt. Pepsi hat gelernt, sich in ihrer kleinen Welt zurechtzufinden, genauso wie ihr Bruder und ihre Schwester. Sie fühlt sich oft allein, ein Gefühl, das erst mit den Jahren zu Einsamkeit wird. Liebe zu ihren Eltern gibt es nicht. Das einzige, was im Leben ihrer Eltern zu zählen scheint, ist die Arbeit in Deutschland. So wie Pepsi in einem Leben dazwischen festhängt, so tun es die Eltern. Pepsi gibt sich ganz in die begrenzte Welt um sie herum, die Natur, die feinen Beobachtungen, aber manchmal auch das vielfache Gefühl von Hunger. Pepsi wird nie nur annähernd satt, sei es körperlich, emotional oder geistig.
Auch Pepsis Versuche einer Annäherung, ihre Liebe zu ihrer Mutter anzusprechen, scheitern schmerzlich.
Irgendwann werden die drei Geschwister in ein altes Haus in Deutschland mitgenommen, in eine Wohnung, in der es an allem fehlt, Nähe nur aufgezwungen ist. Das Land, aus dem ihre Eltern zuvor Taschen voller Geschenke mitbrachten, entpuppt sich als grau, fremd und abweisend. Pepsi fühlt sich in der neuen Umgebung noch viel offensichtlicher fremd, als dort in Dalmatien, wo ihr wenigstens die Natur Augenblicke der Geborgenheit schenkte. Pepsi verstummt, trotz der Strenge ihrer Mutter. Erst recht durch den Alkoholismus ihres Vaters, die grünen Flaschen, die den Vater in ein tobendes Ungetüm verwandeln. Einziger Ort, an dem Pepsi Trost und Welt findet, sind Bücher. Erst ein altes Lexikon, das sie verstecken muss, das ihr die Welt der Erwachsenen erschliesst, eine Welt, die ihr in Hessen niemand erklärt. Bücher, Worte, Sätze werden zu einem Tor in eine andere Welt, während die Eltern im Kampf gegen scheinbar drohende Armut immer mehr verhärten. Nur wenn Vater säuft und die Mutter ihren ungefilterten Emotionen freien Lauf lässt, bricht etwas auf. Etwas, das tief verletzt. Nicht nur Pepsi.
Ihre Schwester versucht aufzubegehren, stemmt sich gegen die nicht verhandelbaren Regeln ihrer Eltern. Sie bricht aus. Und als sie zurückgeholt wird, ist sie nicht mehr die selbe, abgesunken in ein tiefes Schweigen, als wolle sie sich ganz auf sich selbst zurückziehen. Pepsi nennt ihre Schwester zärtlich Herzmandel. Aber ihre Schwester scheint ebenso verloren wie sie selbst. Ganz anders der Bruder, der sich als Junge viel leichter in die partiarchischen Strukturen seiner Diaspora einzufügen weiss.
Es sind äussere Begebenheiten, zuerst die Katastrophe von Tschernobyl, später der Jugoslawienkrieg, das Auseinanderbrechen eines Staates, das sich schon lange angekündigt hatte. Die kleine Wohnung in Hessen wird zu einem Dreh- und Angelpunkt vieler Flüchtlinge, die alles verloren haben. Die Familie versinkt in der Pflicht zu helfen und im Kampf selbst überleben zu müssen. Bis sich auch Pepsi mit letzter Kraft aufzulehnen versucht.
„Das Herzflorett“ sticht mitten ins Herz. Dieser Roman ist mit derart viel Empathie geschrieben, das man das Buch zwischenzeitlich weglegen muss. Zum einen die unsägliche Einsamkeit eines Mädchens, einer jungen Frau, zum andern die tiefen Verletzungen durch körperliche und verbale Übergriffe. Und doch schreibt Marica Bodrožić zart, meist in langen Sätzen, voller Bilder, die treffen. Atemlos erzählt, weil die Sprache alles ist, was Pepsi hat, um einer Welt zu begegnen, einer Welt zu entgegenen, die ihr fast keinen Platz lässt. Marica Bodrožić erzählt nicht nur eine schwierige Kindheit und Jugend. „Das Herzflorett“ ist der Palast, den sich Pepsi mit Sprache erschafft.
„Das Herzflorett“ ist ein Geschenk einer Autorin, die mich zu tiefst berührt.
Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodrožić lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.
«Ich bete mich buchstabenweise ins Nichts»: die Schriftstellerin Marica Bodrožić, von /
Beitragsbild © Antonio Maria Storch