Einmal im Jahr trifft sich eine kleine Schar Literaturinteressierter, um nach der Lektüre eines Buches auch dessen Verfilmung anzusehen, Buch und Film, soweit wie möglich einander gegenüberzustellen. Heuer war es «On Chesil Beach», deutsch «Am Strand» von Ian McEwan, 2007 bei Diogenes erschienen und 2017 unter dem gleichen Titel von Dominic Cooke verfilmt.
Florence und Edward haben geheiratet und sitzen sich am Tisch in der Hochzeitssuite eines Hotels am Strand von Chensil Beach gegenüber und wissen beide, dass die Nacht, die vor ihnen liegt, etwas Platz machen muss, was bisher verborgen blieb. Sie stochern in ihrem Abendessen herum und das Himmelbett im Zimmer nebenan wartet auf das, was kommen soll. Sie lieben sich. Sie lieben sich wirklich, wenn auch jeder auf seine Art. Und weil man 1962 weder über Gefühle, Ängste, Befürchtungen und schon gar nocht über Wünsche spricht, schwebt über dieser einen Nacht das Damoklesschwert.
Florence stammt aus einer gutbürgerlichen, „gebildeten“ Familie, der Vater Fabrikant, die Mutter Professorin. Florence studiert, spielt Geige und träumt von einer Karriere als Musikerin. Edwards Elternhaus starrt vor Dreck, sein permanent überforderter Vater kämpft sich durch ein Leben zwischen Pflichten, der Liebe zu seiner Familie und dem Umgang mit einer geisteskranken, „verrückten“ Frau. Für Florence und Edward ist das Studium eine Flucht aus der Enge ihrer Herkunft. Sie treffen sich zufällig an einer Anti-Atombomben- Versammlung, eine Begegnung, von der beide glauben, sie sei schicksalshaft. So sehr Edward fasziniert ist von der Anmut seiner Angebeteten, so sehr ist Florence überzeugt, in Edward jemand Besonderen gefunden zu haben.
Die frühen Sechzigerjahre sind in Sachen Sexualität Ewigkeiten von der Gegenwart entfernt. Man spürte zwar die Spannung, man erzählte sich gegenseitig Geschichten. Aber „freie Liebe“ spielte sich nur in düsteren Strassen und schummrigen Lokalen ab. Über Sex sprach man nicht. Sex spielte sich in abgedunkelten Ehebetten ab, ob Pflicht oder Routine, ein Geschehen, das ohne den nötigen Sauerstoff durch Gespräche sehr bald verlor, was es davor an Geheimnisvollem barg. Die Pille war noch nicht da und sehr oft fehlte allein schon das Vokabular, um sich dessen bewusst zu werden, was sich zwischen Kopf und Lenden abspielte.
Zwar waren Florence und Edward schon lange vor ihrer Hochzeit ein Paar, aber darüber zu reden, was Sex zwischen den beiden hätte sein können, trauten sie sich nicht in einer Mischung aus Unwissen und Ängsten. Was dann an diesem späten Abend in der Hochzeitssuite nach einem verkorksten Abendessen passiert, ist logische Konsequenz. Beide werden enttäuscht. Beide glauben, versagt zu haben. Beide manövrieren sich in einen Zustand unverrückbarer Verwundung hinein. Florence verlässt panisch das Schlafzimmer. Und als Edward sie später am Strand, über einen Kilometer vom Hotel entfernt wiederfindet, schlingert sich Katastrophe in Ausweglosigkeit.
Das Faszinierende an diesem literarischen Meisterstück sind die kleinen Mosaikstücke, mit denen Ian McEwan den Weg ins Unausweichliche zeichnet, die Dramaturgie, die Mischung aus Rückblenden, die eine Ahnung dessen geben, warum sich die Dinge nicht anders entwickeln können und die Chronologie des Unausweichlichen, Millimeter für Millimeter.
Vielleicht funktioniert der Film nach der Lektüre auch darum, weil Ian McEwan das Drehbuch schrieb. Der Film hält sich sehr stark an die literarische Vorlage, auch wenn die Rückblenden ein viel grösseres Gewicht tragen. Im Film ist auch sonnenklar, dass Florence traumatisiert ist von einem sexuellen Übergriff ihres Vaters, dass sie den Ekel von damals nicht ablegen kann. Im Buch sind diese Zusammenhänge viel durchscheinender beschrieben. Während das Buch von seiner Erzählweise getragen wird, sind es im Film die schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller Saoirse Ronan und Billy Howle. Der Kontrast zwischen tiefer Liebe, maximaler Sehnsucht nach Zusammensein und bodenloser Enttäuschung und Kränkung ist bravurös gespielt. Ein Film, der es in sich hat!
Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg «Abbitte» ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt kamen «Am Strand» (mit Saoirse Ronan) und «Kindeswohl» (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.
Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, John Williams, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.