Was braucht es, um mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen? Wie kann man einer Mutter, die ohne ein Wort in ein bereitstehendes Taxi steigt und nicht mehr wiederkehrt, verzeihen? Damals als Vierjähriger oder im Angesicht des Todes als Erwachsener? Peter Henning schrieb mit biographischen Bildern einen bewegenden Roman über den Versuch des Verstehens.
Als die Mutter für lange Zeit aus seinem Leben verschwand, war Heinrich Kaplan vier. Eine Nachbarin fand den kleinen Jungen, der sich mit einer Decke und Spielsachen in der Badewanne verkrochen hatte, tags danach. Kaplan wuchs im Heim auf, eine Zeit bei seinen Grosseltern, wurde Antiquar, lernte Martha kennen und arrangierte sich mit einem Leben, das schlecht begonnen hatte. Zwar gab es dann und wann Berührungspunkte, aber da die Mutter in den letzten zehn Jahren geschwiegen hatte, spielten Gedanken an sie schon lange keine Rolle mehr. Umso überraschender der Anruf aus einem Krankenhaus: Seine Mutter war mit Herzstillstand auf dem Bahnhof zusammengebrochen und lag im Koma auf der Intensivstation. Man habe bei ihr seine Nummer gefunden und den Hinweis, bei einem Notfall nach ihm zu rufen.
Kaplan hatte sich in seinem Leben eingerichtet. Die Tatsache, dass er mit Martha eine Frau gefunden hatte, die ihm fast alles bedeutete, schien ihn mit seiner Vergangenheit versöhnt zu haben. Eine Tatsache, die mit dem Telefonat zerbröselte, erst recht als er am Bett auf der Station stand, mit einer Frau konfrontiert, die nur noch schwaches Abbild davon war, was er an Erinnerungen mit sich getragen hatte. Kaplan entscheidet sich, sieben Tage lang zu bleiben, in der Wohnung seiner Mutter, das Gefiert einer Frau, die sich bereits aufgegeben hatte. Eine Wohnung ohne Spiegel.
Peter Hennings zarter Roman widmet sich der Zersetzung jener Bilder, die wir uns automatisch machen, wenn uns schlüssige Informationen zu einem klaren Bild fehlen. Letztlich ist jedes Bild, das wir uns von jemandem zusammenschustern, ein Bild aus Versatzstücken. Aber wenn sich die Erinnerung mit Schmerz, mit Verwundungen koppelt, wenn man vieles an der eigenen Biographie an einer Vergangenheit entschuldigt, die Jahrzehnte im Halbdunkel stand, dann ist nicht verwunderlich, dass mit unfreiwilligen Konfrontationen Bilder auftauchen, die sich mit der fixen Kulisse eines Lebens nicht vertragen.
Nebst der ein Leben lang nagenden Frage, warum die Mutter ihn verlassen hatte, was passiert sein musste, dass jener Schritt für die junge Frau damals der einzig gangbare Ausweg sein konnte, tauchen mit einem Mal Menschen und Bilder auf, die Kaplan dazu zwingen, sich mit dem eigenen Leben, seinen Erinnerungen, seinen Erklärungen auseinanderzusetzen. Kaplan lernt den Nachbarn seiner Mutter kennen, eine alte Freundin seiner Mutter, die Dinge erzählt, die Kaplan erst verdauen muss – und Fetzen einer schrecklichen Kindheit, Erklärungen dafür, dass seine Mutter ein Leben lang nicht bloss auf der Flucht, sondern auf der glücklosen Suche nach Liebe war.
„Bis du wieder gehst“ erzählt vom langen Abschied, letztlich vom Versuch einer Versöhnung. Der Roman ist keine Abrechnung, viel mehr der Versuch einer Annäherung. Peter Henning erzählt behutsam. Sein Protagonist muss sein Leben neu ordnen, denn je tiefer er in das Leben seiner Mutter leuchtet, desto klarer wird, dass nicht nur er das Opfer war, sondern Opferrollen oft von Generation zu Generation weitergegeben werden. Er springt ins Wasser und rettet letztlich sich selbst.
Peter Henning, 1959 in Hanau geboren, studierte Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und lebt heute als freier Schriftsteller und Journalist in Köln. Seit 2015 unterrichtet er zudem als Lehrbeauftragter der Universität Köln Kreatives Schreiben. Seine literarische Arbeit wurde mit Stipendien der Kunststiftung NRW und der Robert Bosch Stiftung gefördert. Zuletzt erschien sein Roman «Die Tüchtigen» im Luchterhand Literaturverlag.
Beitragsbild © Marie Rauch