Ich gratuliere dem Preisträger des Deutschen Buchpreises 2016 Bodo Kirchhoff!
Bereits im September lobte ich seinen Roman:
«Erinnerungen sollen wie Abschnitte in einem Handbuch sein, nur dazu dienen, in bestimmen Situationen die richtigen Worte in der richtigen Reihenfolge zu sagen, aber es sind Einflüsterungen, die einen betören oder mit Schwert erfüllen oder beides.»
Reither ist 64, hat seinen Verlag samt Buchhandlung liquidiert und seiner Wohnung mitten in Frankfurt den Rücken gekehrt. Er versucht Ruhe in sein aufgewühltes Leben zu bringen, nach der «Scheidung von seiner Lebensaufgabe», an einem stillen Ort im April mit Sicht auf den letzten Schnee. «Er hatte als Einziger dem Umstand ins Gesicht gesehen, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab.» Bis es an der Tür zu seiner neuen Wohnung klingelt und Reither mit dem Drücken der Klinke weiss, dass danach alles in ein anderes Licht getaucht sein wird. Sie heisst Leonie Palm, die vor seiner Tür steht und genau wie er den Kampf aufgegeben hat, sie mit Hüten, er mit Büchern. Mit der Frage «Was kann ich für sie tun?» beginnt das «Widerfahrnis», ein eigenartiges Roadmovie, denn sie besteigen das eingeschneite Auto der Frau, um gemeinsam in den Morgen zu fahren, aufzubrechen und bleiben sitzen in dem mobilen Arrangement, das einem ungewollt zu Nähe zwingt. Und weil die Zeit lange wird und die beiden irgendwann längst über den Morgen hinausgefahren sind, beginnen beide zu fragen und zu erzählen, nicht zuletzt darum, weil beide alleine geblieben sind, nicht nur an Menschen, sondern auch in der Welt. Reither wird in ungewohnter Heftigkeit mit seiner und der Vergangenheit seiner Begleiterin konfrontiert, erst recht, als sich ihnen nach einer turbulenten Fahrt bis nach Sizilien ein Mädchen in einem roten Fetzenkleid anschliesst. Ein Mädchen, das nicht spricht, keinen Namen nennt, etwas will, was sich nur erahnen lässt und zum Katalysator wird, bis die zaghaft aufgeweichte Situation zu eskalieren beginnt.
Bodo Kirchhoff schreibt frei aller Sentimentalität über das Zusammenkommen zweier in die Jahre Gekommener, über das Hereinbrechen von Gegenwart und Vergangenheit, über die tiefen Schnitte ins Leben, die wohl vernarben aber nie verheilen, über zwei, «die Pleite gemacht haben, eben nicht nur mit Büchern und Hüten». Bodo Kirchhoff tut dies so kunstvoll, dass es mich als Leser zuweilen überrascht, mit welcher Leichtigkeit er schwierige, nicht zu beantwortende Fragen des Lebens in den Text verwebt. Er erzählt, als wäre die Novelle die Analyse des Geschriebenen selbst und macht den Text noch um eine Facette reicher. Eine Novelle, der alles birgt und doch nicht überbordet; von der zaghaften Liebesgeschichte bis zur Begegnung mit dem Flüchtlingselend in Sizilien. Reither wird gerettet, gerettet nicht durch Liebe, nicht durch den Aufbruch, sondern vom Faden eines afrikanischen Fischers.
Bodo Kirchhoff gelingt, was vielen misslingt. Er dringt nicht ein, weder in Personen, Geschichten oder Wahrnehmungen. Bodo Kirchhoffs Schreiben erzeugt Tiefe durch Präzision und Nähe. Nichts wirkt konstruiert und zurechtgebogen. Aber nach der Lektüre bin ich reicher!
Geboren 1948 in Hamburg, beschult in einem christlichen Internat am Bodensee, Ausbilder beim Militär und Eisverkäufer in Amerika. Ab 1971 studierte er Heilpädagogik in Frankfurt am Main. 1979 erschien seine erste Veröffentlichung im Suhrkamp Verlag. Viele seiner zahlreichen Romane beschäftigen sich mit der Organisation von Intimität, etwa der Freundschaftsroman «Eros und Asche» oder die Paar- und Liebesromane «Wo das Meer beginnt» und zuletzt sein großartiges Meisterwerk «Die Liebe in groben Zügen». Ein Roman unter anderem über «die unstillbare Sehnsucht nach Liebe: die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam», den ein Kritiker als ein Liebesbrevier für Fortgeschrittene bezeichnete. Im Herbst 2014 erschien sein Roman «Verlangen und Melancholie» und wurde von der Kritik einhellig als großes Werk gefeiert.
«Geschriebenes ist die einzige Wahrheit, die sich korrigieren lässt.»