Wilhelm Genazino «Ausser uns spricht niemand über uns», Hanser

«Ich wurde das Gefühl nicht los, dass meine Art zu denken zu einem Siebzehnjährigen passte, zu einem erwachsenen Mann aber nicht.» Zumindest diese Erkenntnis holt den Protagonisten am Schluss des Romans «Ausser uns spricht niemand über uns» ein. In Wilhelm Genazinos neuem Buch dreht  sich das Geschehen um genau jene Sorte Protagonist, der keine Sympathie abverlangt, auch gar nie einen Versuch in diese Richtung wagt.

Er wohnt am Stadtrand, seine Freundin in der Stadtmitte. Man trifft sich mal hier, mal dort. Sein Bett ist breiter, ihre Wohnung aufgeräumter. Er ist nicht arbeitslos, geht aber auch keiner geregelten Arbeit nach, hangelt sich als abgehalfterter Schauspieler von Engagement zu Engagement, mal als Stimme im Funkhaus, mal als Rezitator launiger Ehegedichte bei irgend einer Hochzeit. Er sehnt sich nach Bedeutsamkeit, bleibt aber haften bei der Sehnsucht danach, froh darüber, bis jetzt vor «der Vernutzung des Lebens» bewahrt worden zu sein. Ein ewig Unentschlossener um die 40, der in seinem wohlig warmen Alltag herumdümpelt. Ein Typ, dem ich  während des vergnügten Lesens gerne öfters einen Tritt in den Hintern versetzt hätte. Nicht weil er ein Müssiggänger oder faul wäre, sondern weil es der Protagonist meisterlich versteht, seine Umgebung nach seinen Bedürfnissen ein- und auszurichten. Einer jener Sorte Mensch, der selbst durch «Schicksalsschläge» und mehr als deutliche Seitenhiebe nicht gezwungen werden kann, einen Blick über die eigene Nasenspitze hinauszuwerfen. Da wird Carola, seine Freundin, schwanger, wenn auch nicht sicher, eher Genazino_25273_MR1.inddunwahrscheinlich von ihm, aber so doch in seiner Nähe. Aber Carolas Schwangerschaft ist wie eine Schlechtwetterlage. Sie geht vorbei, schmerzhaft für Carola, fast ungerührt bei ihm. Ein Protagonist, der sich vor nichts mehr fürchtet als vor Zuständen und Dingen, die nicht sind, vor allem und im Speziellen vor dem «beginnenden Alter». Carola und er scheinen sich irgendwie zu verstehen. Was längst nicht bedeuten muss, dass es auch etwas zu reden gäbe. Was er als noble Distanz zu erklären weiss, ist in Wahrheit die Angst davor, sich mit allem Gegenüber zu sehr zu verstricken. Eine Partnerschaft, selbst eine Liebe, ist bloss Arrangement, nicht mehr, eine Zweckgemeinschaft der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung, die sich unter Umständen auch aufzwingen lässt. Selbst die Lust des anderen wird zum drohenden Gewitter, zur Laune der Natur, zur Anomalie der Normalität. «Leider (oder zum Glück) war es uns nicht gegeben, diese Feinheiten hinterher oder am nächsten Tag zu besprechen, was ich an manchen Tagen bedauerte, an den meisten Tagen aber in Ordnung fand, weil ich nicht zu den Menschen gehören wollte, die aus jeglicher Regung zwischen den Geschlechtern eine unausweichliche Sprechstunde machen mussten.»
Man muss den Protagonisten nicht mögen, auf keiner Seite, den Mann, der bloss sich selbst ernst nimmt, sehr, sehr ernst. Das Verlassenwerden von seiner Freundin nimmt er hin wie lästige Kopfschuppen.

Wilhelm Genazino ist Beobachter des Feinen und Unscheinbaren. Der Roman wurde eine Sammlung kleiner Begebenheiten, die vermuten lassen, dass auch der Autor selbst die Kunst des Müssiggangs versucht, wohl das einzige, was er mit dem Protagonisten gemein hat. Gut konstruiert, hat mich das «böse» Buch bestens unterhalten!

genazino_wilhelm_h7_2013Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebt in Frankfurt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt «Tarzan am Main» (Spaziergänge in der Mitte Deutschlands, 2013), «Leise singende Frauen» (Roman, 2014) und «Bei Regen im Saal» (Roman, 2014).

Wilhelm Genazino liest am 28. Oktober im Rahmen des Literaturfestivals «Zürich liest» in der coalmine in Winterthur. Die Lesung beginnt um 19.30.

(Titelbild: Sandra Kottonau)

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