„Das Land hat sich verändert, wir werden nie wieder so sein wie einst.“ Artur Klinaŭ erzählte im Literaturhaus Thurgau

Artur Klinaŭ, Schriftsteller, Architekt, einer der wichtigsten Künstler Weissrusslands ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, lebt und arbeitet während zweier Monate im Literaturhaus Thurgau. Zusammen mit Moderator Ulrich Schmid, Professor an der HSG und der Vorleserin Rebecca C. Schnyder, las und diskutierte er auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau.

Artur Klinaŭ bezeichnet seine Aufenthalte im Ausland, ausserhalb seiner Heimat Weissrussland, nicht als Exil, sondern als Durchgangsreise. Auch wenn es unmöglich scheint, in nächster Zeit gefahrlos in seine Heimat zurückzukehren, verströmt Artur Klinaŭ ungeheure Zuversicht, erst recht, weil er seinen klaren Blick nicht verliert und es versteht, auf dem Boden einer ernüchternden Realität die Hoffnung nicht zu verlieren.

Offener Künstler in einer Diktatur zu sein, ist schwierig genug. Wenn Drohung und Verfolgung, Inhaftierung und Folter zur Tagesordnung werden, wird es immer schwieriger. Bis zu den Massenprotesten in Weissrussland 2020 war es im kleinen Kreis noch möglich, sich kritisch dem Regime gegenüber zu zeigen. Seit der blutigen Niederschlagung dieser Proteste aber hat sich das geändert. Für einen einzigen, falschen Satz kann man im Gefängnis landen.

Artur Klinaŭ nennt den weissrussischen Diktator Alexander Lukaschenka in seinem Buch „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ kein einziges Mal mit seinem Namen, bloss Batka. Sein Buch ist Auseinandersetzung und Abrechnung zugleich, ein Versuch der Einordnung, ein Protokoll der Suche nach seiner für Tage verschwundenen Tochter. Artur Klinaŭ ist davon überzeugt, dass eine Revolution in Weissrussland in der gegenwärtigen Lage aussichtslos wäre. Viele Stimmen im Land sind zwar laut, aber nur die wenigsten haben einen „Plan“, wie eine Zukunft in einem ganz anderen System aussehen müsste, allen voran die Opposition unter Swetlana Tichanowskaja, wo mit Slogans den Menschen in diesem leidgeprüften Land nur der „Kopf verdreht“ wird. Russland würde einen „aufmüpfigen“ Nachbarn sofort schlucken, zumal Weissrussland sich nicht dagegenstellen könnte, auch wenn viele in der protestierenden Masse aufrichtig beseelt waren von den Ideen einer Revolution.

Die Verhaftungen in Weissrussland sind willkürlich, die Gefängnisse voll, die Justiz systemgesteuert, Verurteilungen ein Hohn. Erfahren musste das auch Ales Beliazki, Menschenrechter und Friedensnobelpreisträger, der mehrfach festgenommen, immer wieder verurteilt und inhaftiert wurde. Nicht nur die Gassen im Regierungsviertel der Hauptstadt Minsk sind Sackgassen. Artur Klinaŭ nennt selbst die Architektur in seiner Hauptstadt, eine Retortenstadt, die nach dem 2. Weltkrieg fast vollkommen zerstört war, kafkaesk, „Realität in permanenter Katastrophe“, mit totalitärer Struktur, ohne jeden Raum für Individualität. Diktator Alexander Lukaschenka sträubt sich gegen jede Veränderung, eine Tatsache, die sich bis in die staatsgestützte Kunst spiegelt.

Der Abend mit Artur Klinaŭ hinterliess ein beklemmendes Gefühl, etwas Lähmendes. Bei mir nicht zuletzt darum, weil sich kaum jemand in der Schweiz bewusst ist, wie privilegiert ein Leben hier ist, in einem Land, in dem man sich über Nichtigkeiten echauffieren kann.

Der Abend war auch ein Gedenken an all jene, die in Diktaturen auf der ganzen Welt ihr Leben nicht leben können, weil ihnen mit Knüppeln diktiert wird.

Rezension von „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ auf thurgaukultur.ch

Interview zwischen Artur Klinaŭ und Lukas Bärfuss auf literaturblatt.ch 

Rebecca C. Schnyder «Gewitter nach dahin»

Man fühlt sich nicht unbedingt fremd, da wo man gerade ist und doch denkt man für sich, dass man sich auch nicht unbedingt wie zu Hause fühlt, da wo man gerade ist. In diese Gedanken dann mischen sich Bilder, Bilder von früher und damals, Bilder vor dem inneren Augen, dem Innenauge; leicht verzerrt sieht man also vor dem Innenauge Bilder und denkt sich, ob das, was auf diesen Bilder ist wohl dorthin gehört, wo man sich zu Hause fühlt. Diese Bilder sind grün und braun und man denkt sich, das also sind sie, die Farben von damals, die einen nicht verlassen haben, und die noch immer gespeichert sind, da drinnen, tief drinnen in einem selber. Und man sieht auf diesen Bildern Umrisse von Hügeln und Gestalten, erahnt die Formen und denkt sich, das also sind sie, die Formen von damals – auch sie haben einen nicht verlassen.
Und genau in diesem Moment, in dem man sich dies alles fragt und dies alles für sich denkt, da zuckt der Himmel, genau in diesem Moment türmen sich Wolken auf, als wollen sie ein Turm bauen da oben im zuckenden Himmel. Und man erschrickt sich ein wenig, weil es so laut ist und so plötzlich, so plötzlich und laut eben, dass man sich erschrecken muss, gar nicht anders kann als sich zu erschrecken. Doch es ist kein böses Donnern und Grollen, das man hört und ab dem man sich erschreckt hat, schon gar kein unheimliches geschweige denn ein bedrohliches, es ist lediglich ein Donnern und Grollen, das sich seinen Weg gebahnt hat bis zu einem, bis dahin, wo man gerade sitzt oder liegt oder steht. Und es ermahnt einen, es gebe noch diesen Ort, diesen Ort gebe es doch, der einen jetzt rufe mit Wolkentürmen und zuckendem Himmel; es ist der Ruf nach dahin, dem Ort, wo man früher war und dachte, das ist es, hier dieser Ort, hier will man sein und bleiben, hier zu diesem Ort gehört man.
Und trotzdem man das wusste ging man weg, irgendwann dann eben doch weg, weil es könnte ja doch noch andere Orte geben und vielleicht gibt es woanders einen Ort, zu dem man sogar noch mehr gehört. Aber man zögert keine Sekunde damit, ihm zu folgen, diesem Ruf, der einen plötzlich ereilt und man braucht nicht zu fragen, wo er ist, dieser Ort, weil ehe man sich versieht, ist es lauter zu hören; das Donnern und das Grollen über dem Kopf und man sieht einen zuckenden Lichtstrahl quer über den Himmel, der wie zufällig die Richtung anzeigt. Und man muss nicht rennen, nicht hasten, gar darob stolpern, nur folgen diesem Ruf der ruft: Hier, komm, hier, hier ist dein Ort.
Und anstatt dass man im Gewitter den Kopf einzieht, streckt man ihn hoch, hoch in den Himmel und zwar so hoch, dass man ihn plötzlich in den Wolken hat und darüber und runter schaut auf die eigenen Füsse, die weit unter einem über grüne Hügel dem Ruf folgen. Man denkt nicht, muss nicht nachdenken, denn es läuft automatisch, die Füsse und alles was dazu gehört laufen ganz automatisch.
Unten sieht man bald Kühe, klein und braun, so braun wie die Häuser, die ebenfalls klein im Blickfeld von hoch oben aus dem Himmel stehen und zwar nicht angeschmiegt an die Hügel sondern thronend auf deren Kuppen. Sie sagen Hallo hier bin ich und auch wenn ich alt bin und klein und in deinen Augen nichts Besonderes, ich stehe hier, werde stehen bleiben, thronend auf der Kuppe der Hügel. Und mit dem Kopf oben in den Wolken sorgt man sich um diese kleinen Häuser auf ihren Kuppen mit ihrem altehrwürdigen Braun, das nur zum Schein unscheinbar ist, weil dahinter sich ja Geschichte verbirgt, nicht nur Geschichte sondern auch Geschichten, von Menschen, die einst gewohnt haben in diesen alten und kleinen Häusern; Geschichten von Menschen, die darin gewohnt haben und gelebt, die darin gelacht haben und manche wohl auch geweint. Und so sorgt man sich weil man den Kopf in den Wolken hat mitten im Donner und Gewitter und deshalb weiss um die Blitze, die sich noch immer wie zuckende Lichtstrahle, manche wie Lichtgestalten gar, quer durch den Himmel ziehen und nicht nur das, sondern sich zuweilen auch frech dem Boden nähern, der Erde, ebendieser auf welcher die braunen Häuser auf den Hügeln thronen.
Und dann, auf einmal hört man da oben mit den Ohren voll Wolken und Nass und Regen ein paar Töne, Klänge viel mehr und denkt sich ob das wohl die gleichen sind wie damals, früher, als man noch viele solcher Klänge hörte in dieser Gegend; und dass man irgendwann keine solche Klänge mehr gehört hat, hat nicht daran gelegen, dass es keine mehr gab, hier in dieser Gegend, sondern dass man selber weg war, also nicht mehr in der Gegend, ortsfremd und ortsfern geworden war, und solche Klänge nur mehr im leichten Schlaf gehört hatte, sozusagen im Traum obwohl die Tiefschlafphase nicht erreicht war. Denn so fein sind die Klänge, dass sie da nicht durchkommen, durchdringen, nicht so weit hinein reichen wie in die Tiefschlafphase in der normalerweise die Träume einen ereilen. Und so fragt man sich, ob man wieder träume, einen dieser Leichtschlaf-träume, das fragt man sich wenn man sie plötzlich wieder hört, diese Klänge. Bis man sie aber hört, immer deutlicher, mehr und lauter und weiss, dass kann kein Leichtschlaf-traum sein; nein sie sind da in aller Wirklichkeit, sie schwingen und klingen und finden das Ohr auch im Regen und durch die Wolken, Klänge, die sich gegenseitig suchen und finden, sich übereinanderlegen und einander folgen, Klänge aus Mündern, die sich im Kreis formieren.
Und so will man sich bücken, den Kopf aus den Wolken ziehen, gestrengter hinhören, mehr erhaschen von diesen Klängen, die drinnen im Innenohr, im Drinnenohr gespeichert waren trotz Ortsfernheit; trotz dessen dass man das Weite gesucht hatte, wortwörtlich die Weite, die Ebenen, die Durchatmungslandschaften in denen keine Erhebung den Blick aufhält. So lange hatte man dies Weite gesucht bis es gefunden war um dann doch zu denken: Ach, wie wäre es schön es gäbe eine Erhebung, ein Hügel oder Berg, die den Blick aufhalten würde.
Und während dem gestrengten Hören, dem Erhaschen dieser Klänge, Klänge, die einen Erinnerungsschleier lichten, lichten sich auch die Wolken, der Dunst vom Regen und man erhascht nicht nur die Klänge sondern auch den Blick auf einen Berg. Ein Berg, den man doch kennt, so denkt man für sich, einer wie es ihn nur einmal gibt und wie man ihn unter allen Bergen wiederfinden würde, ganz gleich wo und unter welchen Bergen. Und während man ihn betrachtet diesen Berg durchfährt es einen; es durchfährt einen mit der Gewissheit ob der eigenen Naivität und man lacht leise in sich hinein, über sich selber lacht man leise in sich hinein, dass man so naiv war und woanders gesucht hatte.
Und während man lacht, leise in sich hinein und über sich selber, ja während man also so lacht und gleichzeitig läuft, ganz automatisch läuft, währenddessen schickt man seinen Blick an den Berg und denkt, gut, dass es ihn gibt. Diesen Berg, um den man so froh ist, glücklich auch, ihn zu sehen, wieder zu erblicken, und zwar so sehr, dass man ihn gern aufgreifen möchte, einpacken, einstecken und zwar in die Hosentasche, um sich an ihm zu erfreuen ganz heimlich, noch mehr aber um ihn zu jedem Zeitpunkt aus der Tasche nehmen zu können, vor sich aufzustellen und einen Blick darauf zu werfen, auf diesen Berg, der Erinnerungsschleier lichtet. Dann aber mahnt einen das Donnern und Grollen – dieser Ruf – daran, nirgendwo hin zu gehen, wo man ihn bräuchte, diesen Berg in der Hosentasche, weil man doch da ist, wo er steht, im Original, gross und verankert; dass man da hingehen soll, und ebenso da bleiben soll, wo es nicht nötig ist, den Berg aus der Hosentasche zu nehmen, weil er ja vor einem steht, original, gross und verankert.
Und dann, ganz langsam, schleichend sogar verziehen sich die Wolken und die Türme und man realisiert, dass auch das Donnern und Grollen ein Ende nimmt, gar schon genommen hat, dass man kein Donnern und Grollen mehr im Ohr hat und auch keinen Regen im Auge oder auf den Füssen, sogar wieder über trockene Hügel läuft. Wenn also das Donnern und Grollen aufgehört hat, denkt man sich dann, oder fragt sich vielmehr, ob also der Ruf zu Ende ist, weil man da ist, wohin es einen gerufen hat. Und man schaut umher und sieht so viel Grün in all seinen Schattierungen, ein Grün, das sich hervortut unter den Wolken, die letzten Wolken sogar vertreibt und weil es sich so vertraut anfühlt, dieses Grün zu sehen und mehr noch, es unter den Füssen zu haben, kommt man nicht umhin zu lächeln. Denn wenn es also so ist, dass der Ruf zu Ende ist, dann bedeutet das, dass man wieder da ist; an dem Ort, der zu einem gehört und an dem Ort, zu dem man selber auch gehört.
Dann lächelt man also und sucht das passende Wort für diesen Ort und freut sich über den Reim, aber sucht dann weiter und man lächelt noch mehr, strahlt sogar, lacht auch laut vor Freude und etwas Schalk, weil man es gefunden hat, das Wort. Und man lacht weiter, ganz laut und sogar immer lauter und ist froh, dass man ihn wieder gefunden hat, diesen Ort, wieder hierher gefunden hat, nicht nur das sondern auch ein Wort gefunden hat für ihn, diesen Ort und denkt für sich, zum Glück bin ich gefolgt, diesem Donnern und Grollen, das mich ereilt hat, zum Glück bin ich gefolgt diesem einen Ruf, diesem Ruf nach Heimat, zum Glück.

Rebecca C. Schnyder, 1986 in Zürich geboren, lebt und arbeitet als freie Autorin (Drama/Hörspiel, Prosa) in St. Gallen. Für ihre Arbeiten erhielt Rebecca C. Schnyder mehrere Auszeichnungen, unter anderem den «Preis für das Schreiben von Theaterstücken» der Schweizerischen Autorengesellschaft, den Jurypreis am Autorenfestival SALZ! am Theater Lüneburg, den Publikumspreis am Autorenwettbewerb der Theater Konstanz und St. Gallen und zuletzt den Förderpreis der St. Gallischen Kulturstiftung. 2013/2014 war Rebecca C. Schnyder Teilnehmerin am Dramenprozessor am Theater Winkelwiese in Zürich und wurde mit «Alles trennt» zum Heidelberger Stückemarkt 2015 eingeladen (verteten durch Hartmann&Stauffacher Verlag). Seit Februar 2016 ist der Debütroman «Alles ist besser in der Nacht» im Buchhandel erhältlich (Dörlemann Verlag, 2016, Zürich).

Literaturfest mit Christoph Keller and friends

«Drachenschuppen, Wolfsgebeiss, Hexengift und Vollgeschiss aus dem Bauch des Salzmeerhais, Schierlingswurzel dunkelweiss, von dem Lästerjud die Leber; Ziegengalle; Blütengeber, die man von den Bäumen riss, als der Mond in Finsternis, Türkennas, Tartarengrind und den Finger von dem Kind, das erwürgt wird bei Geburt von ner Frau, die strassenhurt – all das macht den Kessel fein, und mit Tiger-Innerein wird die Suppe bald fertig sein.»

Christoph Keller, zuhause in New York und St. Gallen
Christoph Keller, zuhause in New York und St. Gallen

Zwar war nicht Mitternacht und man traf sich auch nicht im Pilzkreis im Hätterenwald. Aber was am späten Nachmittag in der Militärkantine St. Gallen rund um den Schriftsteller Christoph Keller und seinen neuen Roman «Das Steinauge & Galapagos»  (Sammlung Isele) über die Bühne ging, war derart gestopft mit künstlerischen Leckerbissen von unterschiedlichem Giftgehalt, dass das Gemisch durchaus an einen wilden Tanz um die Kunst erinnerte. Christoph Kellers Gäste waren die Musiker Zelda Umur und Daniel Schnyder, die Schriftsteller Jan Heller Levi, Rebecca C. Schnyder, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch und Peter Weber, der Verleger Parantrap Chakraborty und die Künstler Marlies Pekarek und Roman Signer.

Alle abgebildeten Fotografien sind Arbeiten Christoph Kellers "Mugwumps are what they seem."
Alle abgebildeten Fotografien sind Arbeiten Christoph Kellers «Mugwumps are what they seem.»

In Christoph Kellers Roman kämpft Philip Gundolf mit der latenten Mitschuld am frühen Tod seines Schulfreundes Stieglitz. Gundolf, der erfolglose Schauspieler, quartiert sich einen Sommer lang im Elternhaus seines Freundes ein, um der Frage nachzugehen, ob er am Ende gar nicht sein eigens Leben, sondern das seines verstorbenen Freundes gelebt hat.
Die Tatsache, dass der Roman aus dem Erinnerungsbuch «Der beste Tänzer» nicht mehr bei S. Fischer Platz fand, mag darin begründet sein, dass Christoph Keller nicht daran interessiert ist, einfache Bücher zu schreiben. Wem Christoph Kellers Roman gefallen soll, muss sich einlassen, muss bereit sein, von der wilden Suppe zu kosten!

Rebecca C. Schnyder mit "Alles ist besser in der Nacht" (Dörlemann)
Rebecca C. Schnyder mit «Alles ist besser in der Nacht» (Dörlemann)

Ein herrlicher Vorabend. Während draussen der Regen trommelte, der Wind die Fenster quietschen liess, führte Eva Bachmann gekonnt und überaus freundschaftlich durch den Kulturmix: Rebecca C. Schnyder, junge St. Galler Schriftstellerin las aus ihrem ersten Roman «Alles ist besser in der Nacht» (Dörlemann), böse Stücke, Texte wie schwere Motorräder mit Auspuffen, die knallen, Stücke aus ihrem Roman über eine junge Frau, die mit allem Tun schmerzen will, selbst mit ihren verkorksten Liebeserklärungen.

Heinrich Kuhn "Alles Übrige ergibt sich von selbst" (VGS Verlagsgenossenschaft)
Heinrich Kuhn «Alles Übrige ergibt sich von selbst» (VGS Verlagsgenossenschaft)

Heinrich Kuhn, ein St. Galler Literatur-Urgestein, der zusammen mit Christoph Keller etliche Romane schrieb, las Geschichten aus seinem wieder mit Christoph Keller veröffentlichten Erzählband «Alles Übrige ergibt sich von selbst» um die beiden Stadtflanierer Maag und Minetti. Witzige, hintersinnige Texte, die mit Sprache und Möglichkeiten spielen; über den Arzt Dr. Guillotine, ein Taubenexperiment und die Möglichkeit, dass Dr. Röntgen auch Dr. Wolgensinger hätte heissen können.

Florian Vetsch "Steinwürfe ins Lichtaug" (Moloko Print)
Florian Vetsch «Steinwürfe ins Lichtaug» (Moloko Print)

Florian Vetsch, Lyriker, Herausgeber und Übersetzer rezitierte messerscharfe Gedichte, Lyrik, die weh tun kann, weil sie trifft und betroffen macht, die Weltgeschehen spiegelt, Zeuge ist für Literatur, die sich einmischt, unbequem, mit der scharf geschossen wird, weit weg vom lieblichen Schmeicheln.

Peter Weber "Gotthardfantasien" Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur von Boris Previšic (Verlag Hier und Jetzt)
Peter Weber «Gotthardfantasien» Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur von Boris Previšic (Verlag Hier und Jetzt)

Und Peter Weber, nicht vergessen, auch wenn schon lange nichts mehr auf der grossen Bühne erschien, bewies mit seinen Texten, warum es sich weiterhin lohnt, geduldig auf ein neues Buch von ihm zu warten, auf Sprache, die sich mit Peter Webers Wucht hoffentlich nicht in allzu ferner Zukunft auf mich Neugierigen wartet. Peter Weber ist nicht nur Textschöpfer, sondern Wortbildner. Da wabbert Hochliteratur! Und dabei waren seine Kostproben in Maultrommelkunst wie Telegramme, Signalreihen aus jener fernen, fremden Welt, in der Weber zum Medium wird.

Man möge mir verzeihen, wenn ich nicht allen in Aktion Getretenen gerecht werde. Aber ich war Zeuge eines Kunst-Sommerfests der Superlative.

Rebecca C. Schnyder „Alles ist besser in der Nacht“ Roman, Dörlemann Verlag

Wenn sie auf Bahnhöfen warten und in Zügen fahren, kennen sie sie; Nieten überall, Kapuze auf, Stiefel auf dem Polster, auf dem Klo rauchend. Ja nicht zu auffällig hinsehen, sonst passierts. Alles an ihnen ist Protest, jede Faser, jede Geste, jedes Wort. Protest gegen alles. Billy hat zwar schon einmal ein Buch geschrieben, aber nicht einmal das ist es wert, aufrecht zu gehen. Sie geht geduckt durchs Leben, gequält von den Anrufen ihrer Mutter, vom Drängen ihres Verlegers, selbst von der Liebe Noes, der ausgerechnet Theologie studiert. Rebecca C. Schnyder erzählt in ihrem ersten Roman vom inneren Kampf einer jungen Frau gegen sich selbst. Zugegeben, das Buch mag auf den ersten Seiten abschreckend wirken. Schon der zweite Satz schlägt in die Magengrube und es dauert eine ganze Weile Lesen, bis ich Mitgefühl für die Heldin aufbringen kann. Aber das ist Programm, braucht dieses Buch, diese Geschichte, um glaubhaft von einem Leben zu erzählen, das aus der Spur geraten ist. Kein Buch zur Erbauung, aber ein Buch, das einem eine Tür öffnen kann.

Lesung von Rebecca C. Schnyder am 2. April, Moderation: Joachim Bitter
Zeit: Samstag, 15:00 – 15:45 Uhr
Ort: Hauptpost, St. Gallen,Raum für Literatur, Eingang St. Leonhardstrasse 40, 3.Stock, www.wortlaut.ch