«Mein Zuhause sind die Bücher» Patrick Tschan mit «Schmelzwasser» im Literaturhaus Thurgau

„In diesem kleinen pittoresken Weiler, am Rhein, zwischen Ober- und Untersee, gibt es nicht nur ein mächtiges Schloss, sondern auch ein Haus, in dem einst ein Dichter wohnte, der seine drei Schreibtische gestern verlassen hatte, um den Lesungen seiner Kolleginnen und Kollegen zu lauschen, die von einem Menschen eingeladen wurden, der wie ganz wenige auf dieser Welt Literatur lebt.“ Patrick Tschan

Patrick Tschan erzählte mir schon vor Jahren mit Leidenschaft von einem Buchprojekt, für das er damals schon des öfteren ins kleine Städtchen am Bodensee gereist war. Weil er aber sehr lange mit der Erzählperspektive zu kämpfen hatte und ihn schmerzhafte Einsichten immer wieder zurückwarfen, dauerte es ungewöhnlich lange, bis der berührende Stoff einer äusserst kämpferischen Frau, die an eine reale Person, eine Buchhändlerin aus Überlingen angelehnt ist, den Weg zwischen Buchdeckel fand.
Aus der realen Buchhändlerin Eleonore Weber wurde die Protagonistin Emelie Reber. Eine kämpferische Buchhändlerin in einem Nachkriegsstädtchen, das exemplarisch ist für die Zeit nach dem Tausendjährigen Reich. Emelie Reber liebt nicht nur die Freiheit, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, sondern die Sprache, einen untrennbaren Teil der Freiheit, der Wahrheit, der Gerechtigkeit. Und das Buch als Träger davon. Bücher als Inbegriff der Kultur. Sie bringt Tausende von Büchern aus Paris mit ans Bodenseeufer. Gleichzeitig ist Emelie Reber eine Versehrte, in vielerlei Hinsicht, auch in der Liebe. Trotzdem strahlt sie in unbändiger Kraft, mobilisiert eine ganze „Bewegung“.

„Ich weiss nicht, ob Mut einfach eine andere Form von Angst ist.“

Jeder Krieg ist ein Vernichtungskrieg. Ein Vernichtungskrieg gegen Leben. Aber auch ein Vernichtungskrieg gegen Kultur, nur schon deshalb, weil sich Kultur an keine Grenzen hält. Sinnbildlich in Deutschland für den Wiederaufbau in den Nachkriegsjahren, auch jener der Kultur, waren die „Trümmerfrauen“. Männer schlagen sich die Köpfe ein, Frauen ordnen, was übrig bleibt. „Schmelzwasser“ ist ein KämpferInnenroman.

Patrick Tschan erzählte im Literaturhaus Thurgau in seiner unnachahmlichen Art von einer kleinen Stadt, die sich, angetrieben von Frauenpower, aus dem Würgegriff alter Strukturen befreit. Da erzählte ein in Leidenschaft Getauchter nicht einfach von seinem Buch, sondern von der Macht der Literatur. Patrick Tschan ist einer, der an die Kraft der Literatur, die positive Macht der Worte glaubt. „Schmelzwasser“ ist eine Geschichte des Widerstands, des Kampfs gegen Unfreiheit und Borniertheit. Widerstand ist Überzeugung.

Zur Rezension von «Schmelzwasser»

Beitragsfotos © Sandra Kottonau

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Patrick Tschan «Schmelzwasser», Braumüller

Eine Kleinstadt am See will nach dem verlorenen Krieg nur ihre Ruhe. Aber eine Buchhändlerin, eine Fremde, eine Zugezogene mit ihren MitstreiterInnen stemmt sich gegen die Starre, gegen die alten Nazis, die sich hinter einer neuen Ordnung verstecken.

Was sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts als ein 1000jähriger Eiszeitgletscher über ganz Europa ausbreitete, war nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 nicht einfach weg. Eine von einer Rasse getragene Maschinerie der Unterdrückung, Gewalt und institutioneller Vernichtung löscht sich nicht mit einem Wisch ins Nichts. Hätten sich die Köpfe, die sich mit der Idee des Endsiegs, der Dominanz einer arischen Rasse, eines Grossdeutschen Reiches imprägnierten, nur ein paar Mal schütteln müssen, um sich von verinnerlichten Denkmustern zu trennen?

Patrick Tschans Roman „Schmelzwasser“ beschäftigt sich mit Schicksalen in den zwanzig Jahren nach dem Krieg. Mit dem langsamen Abtauen, dem stetigen Durchsickern jenes kontaminierten Schmelzwassers in einem Deutschland der Besiegten, der Verwundeten, der Abgesägten, der ewig Gestrigen. „Schmelzwasser“ ist die Geschichte einer Kleinstadt am Bodensee. Unverkennbar Überlingen, das nach dem Krieg in Schockstarre am liebsten in langes Vergessen versinken möchte, sich nur ja nicht konfrontieren will mit dem, was während Jahrzehnten der glorreiche Beginn einer tausendjährigen Ewigkeit hätte werden sollen. Der eigentliche Protagonist in Patrick Tschans neuem Roman ist diese kleine Stadt, ein Städtchen, das exemplarisch für viele Städtchen steht, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus.

Patrick Tschan «Schmelzwasser», Braumüller, 2022, 336 Seiten, CHF 37.90, ISBN 978-3-99200-330-3

Im Frühling 1947 steigt die Buchhändlerin Emilie Reber aus einem Linienschiff in der Kleinstadt am Bodensee. Voller Tatendrang eröffnet sie mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht in den Gassen der Altstadt eine Leihbücherei mit Antiquariat und Buchhandlung. Mit Büchern, die während der Nazizeit nicht gelesen werden durften, Bücher über die Nazizeit… Bücher, die helfen, zukünftig mit Rückgrat zu leben mit tausenden von Büchern aus der von Heinrich Mann in Paris gegründeten Freiheitsbibliothek. Emilie Reber, die in den Reihen der Resistance mit der Waffe in der Hand gegen die Nazis kämpfte, hat ihre Waffe nach dem Untergang der Schreckensherrschaft noch längst nicht an den Nagel gehängt. Nur die Waffe selbst ist eine andere geworden. Sie stellt sich dem modrigen Schmelzwasser, das alles durchdringt, das scheinbar friedliche und ruhige Städtchen am idyllischen Bodensee zu einem morastigen Sumpf werden lässt.

Kaum eröffnet, siegt die Neugier. Und natürlich sind die ersten die Schriftsteller, die in den Regalen nach ihren Büchern suchen, die meisten enttäuscht, weil ihre Bücher, geschrieben in der Zwischenkriegszeit oder im Schweif der Naziideologie, in der Auswahl Emelie Rebers ihren Platz in ihrer Buchhandlung nicht verdienen. Aber Neugier allein füllt die Buchhandlung nicht mit Kundschaft. Es harzt. Man scheint keine Lust zu haben, sich mit den Auslagen der Buchhandlung provozieren zu lassen. Man will nach den Jahren des Krieges seine Ruhe. Es soll erst mal Gras über die Sache wachsen. Aber Emilie Reber will nicht. Sie findet Verbündete; Fräulein Ilse, die den frivolsten Friseursalon Süddeutschlands eröffnet, Hildegard Zahnlaub, die in ihrem Laden zuerst bloss unter dem Tisch Artikel aus dem Beate-Uhse Sortiment verkauft und echte amerikanische Jeans der Marke Levi. Die Frauen treffen sich regelmässig zu einer Flasche Chablis und besprechen ihre Strategien zur Unterspülung, jene der Aufklärung und Reflexion. Mitstreiter wird Ignaz Franck, ein Heimatloser, einer, der sich am liebsten in einer Ecke des Buchladens aufhält, weil dort alles ist, was man ihm genommen hatte. Und Ignaz Franck schreibt.

Obwohl dem Buchladen immer mehr Kundschaft die Treue erklärt, die Karteikartensammlung Emilie Rebers, auf der sie die Eigenschaften ihrer Kundschaft notiert immer umfangreicher wird, hat das Gespann arg zu kämpfen gegen all jene, die sich in ihrem Innersten nach der verlorenen braunen Ordnung zurücksehnen. Immer wieder kommt es zu offenen Bösartigkeiten, bis eines Nachts sogar ein Schuss fällt. Aber Emilie Reber lässt sich nicht klein kriegen. Die, die Bücher liebt, liebt die Wahrheit, die Konfrontation, die Offenheit. Was in ihrem Buchladen beginnt, breitet sich immer mehr in den verkrusteten Strukturen eines verschüchterten, verwundeten, verstörten Nachkriegsstädtchens aus. Selbst die alten Nazis, die noch immer ihre Gefolgschaft zu mobilisieren verstehen, werden mit dem Geist einer „neuen deutschen Welle“ aus Literatur, Musik und Lifestyle aus ihren Löchern gespült.

Patrick Tschans Roman „Schmelzwasser“ ist ein höchst unterhaltsames und gekonnt erzähltes Sittenbild mit cineastischer Wirkung. Was sich in dem kleinen Städtchen am Bodensee ereignete, ist stellvertretend für einen Kontinent, der aus der Starre erwacht.

Patrick Tschan liest aus seinem Roman im Literaturhaus Thurgau am 24. November 2022!

Interview

Ein Faszinosum deines Romans „Schmelzwasser“ ist seine Beispielhaftigkeit. Sei dies nun im Rückblick auf die Zeit nach einem Krieg, nach dem Zusammenbruch einer alles dominierenden Ideologie oder im Ausblick auf all das, was noch kommen wird, wenn die aktuellen Diktaturen (zumindest vorübergehend) ihr Ende finden. Oder den ewigen Kampf zwischen Verweigerung und Konfrontation. War das auch eine der Intentionen beim Schreiben deines Romans?
Ideologien jeglicher Couleur sind immer ein Graus. Früher oder später werden ihre Exponenten intolerant und diktatorisch, da sie davon ausgehen zu wissen, wie das Glück der Menschen zu gestalten ist. Die einen sind mörderischer, andere weniger in ihren Methoden. Gehen sie zu Ende, hinterlassen sie „grosse Löcher“ und Orientierungslosigkeit. Da müssen sich die Menschen zuerst mal wieder zurechtfinden. Am einfachsten ist dies bei den „alten Ideen“, einer Verklärung der Vergangenheit (Putins Zarenzeit, Österreich anhaltender Kaiserkult). So sprangen viele im Deutschland der Nach-Nationalsozialismus-Zeit wieder ins gesellschaftliche Korsett der Kaiserzeit zurück. Dieses Gemisch aus Verklärung, nicht zurückweisbarer Schuld und Hilflosigkeit (Löcher) führte zu diesem Mief, dieser Verkrustung, diesem Schweigen, von dem mir viele Zeitzeugen berichteten.

Obwohl du den Namen des kleinen Städtchens am Bodensee nie nennst, ist Ortskundigen schnell klar, dass die Kulisse Überlingen beschreibt. Das muss mehr als Zufall sein. Was an deiner Geschichte ist Historie?
Macht Euch auf Spurensuche …

Drei Frauen und ein Mann stemmen sich gegen die verkrusteten und verhärteten Strukturen, die im Hintergrund einer Bodenseeidylle jede offene Auseinandersetzung zu verhindern versuchen, die sich mit letzter Kraft an alten Bündnissen zu halten versuchen. Auch die Gegenwart ist durchsetzt mit reaktionären Kräften, sei es in der Klima-, Integrations- oder Finanzpolitik. Würde uns nicht ein gutes Stück mehr Frauenpower näher an die Lösung vieler Probleme bringen?
Mehr Frauenpower bestimmt, keine Frage. Aber mit der nötigen Toleranz und auch fachlichen Kompetenz. Da schliesse ich alle Seiten (auch Männer) mit ein. Nicht einfach Quoten und Oasen, sprich unzählige Fachstellen schaffen. Das hilft auf Dauer auch nicht.

„Schmelzwasser“ aus einem dicken Gletscher, der nur ganz langsam schmelzt. Der Gletscher Nationalsozialismus hätte ja 1000 Jahre über Europa liegen sollen. Aber auch die drei Frauen bringen mit ihrem Kampf ewiges Eis zum Schmelzen, wagen sich dafür aber ziemlich weit aus ihrer Komfortzone. Sind wir eine Gesellschaft der Feiglinge geworden, die angesichts der Zeichen, die überdeutlich lesbar sind, zu keinem Kampf mehr bereit sind?
Bei meinen Figuren steht ihr Kampf um ihr privates Glück im Vordergrund. Das setzte damals wie heute einen unabhängigen Geist voraus. Gerade damals wurden die Frauen nach dem Krieg wieder ins zweite Glied gedrängt, nachdem viele durch den Krieg ganz andere Fähigkeiten an sich entdeckt haben, welche plötzlich nicht mehr gefragt waren. Das hat bei vielen Frauen zu Depressionen (Valiumkonsum USA, Frauengold als antidepressive Alkoholika in Deutschland) geführt. Meine Figuren wollen nur das private Glück, aber das weckt Widerstände und gegen die lohnt sich allemal zu kämpfen. Und dieser Kampf lässt sich nicht mit Gendersternchen führen. Dazu müsste man zuerst mal zu sich selbst finden und das Handy mal weglegen.

Emilie Reber ist mir über alles sympathisch. Eine Frau, die für ihre Überzeugung kämpft, wenn nötig gar mit mehr als „nur“ ihrem Verstand. Sie liebt Bücher, rettet die Bestände der Freiheitsbibliothek, die Heinrich Mann zusammen mit anderen in Paris zusammentrug. All jene Bücher, die die Nazis auf dem Scheiterhaufen ihrer Ideologie verbrannten. Dein Roman ist voller Querverweise, in die man sich verlieren kann. Was kann Literatur?
Ich glaube, Literatur kann enorm viel und gleichzeitig nichts. Viel, bei den wenigen die sie erreicht, nichts bei den vielen anderen. Nun, die Literatur hatte damals noch einen ganz anderen Stellenwert, da ein Buch, eine Geschichte, noch nicht mit derart vielen und unterschiedlichen Medien und Erzählformen in Konkurrenz standen. Ich glaube Emilie Reber spürt instinktiv, das die Zerstörung der deutschen Literatur eine unwiderrufliche Zäsur darstellt. Da nützt auch die Rettung der Freiheitsbibliothek nichts. Darum öffnet sie sich auch, weil sie ahnt, dass das, was sie möchte, das Aufbrechen des Eises, Literatur niemals alleine leisten kann, sondern die Literatur nur im Bund mit anderen Kunst- und Lebensformen (Mode, Musik, Freigeist, Erotik etc.) den Staub auf den Seelen der Menschen fortblasen kann.

Patrick Tschan, geb. 1962 in Basel, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, führte in zahlreichen Theaterstücken Regie, war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Autor zahlreicher Essays und Kolumnen. Er ist Präsident der Schweizer Schriftsteller- Fussballnationalmannschaft. Nach Keller fehlt ein Wort», «Polarrot», «Eine Reise später» und «Der kubanische Käser» ist «Schmelzwasser» ist sein fünfter Roman.

Vormerken: Patrick Tschan liest am Donnerstag, 24. November, um 19.30 Uhr aus „Schmelzwasser“ im Literaturhaus Thurgau!

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Highlights aus den 41. Solothurner Literaturtagen

Fast gleich viele wie im letzten Jahr, als es einen neuen Besucherrekord zu verzeichnen gab! Die Solothurner Literaturtage leben, glänzen und tun genau das, was die Besuchenden an diesem Festival zu schätzen wissen.

Aber Solothurn ist auch „Familientreffen“ der kleinen Schweizer Literaturszene. Die Schriftsteller-Nationalmannschaft spielt die sich ewig wiederholende Revanche gegen Rakete Solothurn (1:1!), im Park auf der anderen Aareseite performen die alten Hasen Bänz Friedli, Patrick Tschan, Wolfgang Bortlik, Maurizio Pinarello und Franco Supino ihre Texte unter dem ausladenden Geäst der Uferplatanen, in denen sich ebenso lautstarkes schwarzes Gefieder eingenistet hat. An langen Tischen zwischen der Geburtsstädte der Solothurner Literaturtage, dem Restaurant Kreuz, in dem 1978 Autoren wie Peter Bichsel und Otto F. Walter das Festival gründeten und dem Landhaus branden engagierte Gespräche zwischen den „wilden Jungen“, den „Literaturaktivistinnen“, die sich mit Recht gegen Verkrustungen, betonierte Hierarchien und die ewig Gestrigen auflehnen und aufregen. Und zwischen allen sitzt, plaudert und pafft der ungekrönte König von Solothurn, der mittlerweile 84jährige Peter Bichsel.

Ferdinand von Schirach, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Es gab sie, die grossen Namen, auch wenn die aktuelle Deutsche Buchpreisträgerin Inger-Maria Malke mit ihrem preisgekrönten Roman „Archipel“ fehlte. Ferdinand von Schirach, Judith Schalansky, Thomas Hürlimann oder der in Paris lebende Türke Nedim Gürsel oder alt gediente Säulen der Schweizer Literaturszene; Lukas Hartmann, Milena Moser, Ruth Schweikert, Klaus Merz oder die nimmer müden Ernst Halter und Beat Brechbühl.

Aber was muss unbedingt gelesen werden:
„Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach. Kein Nahrungsratgeber, obwohl die beiden momentan meistverkauften Bücher im deutschsprachigen Raum solche sind. Ferdinand von Schirach verkauft seine Süchte auch nicht als Eingangstore in die grossen Erkenntnisse der Welt. Es geht in seinem Buch um die grossen Fragen des Lebens. Gibt es eine Grenze zwischen Gut und Böse? Wann gilt ein Leben als erfolgreich oder gescheitert? Ferdinand von Schirach ist verstörend ehrlich, direkt und auf seine Weise authentisch. Nach Bestsellern mit den Titeln „Tabu“ oder „Strafe“, in denen er von seinen zwanzig Jahren Erfahrung als Strafverteidiger erzählt, ist „Kaffee und Zigaretten“ sein persönlichstes Buch über eine Jugend voller Traumatisierungen. Ferdinand von Schirachs Auftritt, etwas zischen welt- und staatsmännisch und empfindsamer Scheu beschreibt exakt, was im Buch geschieht. Er breitet aus, sich und die Welt, macht kein Geheimnis aus seinen Depressionen und dem Leiden an der Welt und fordert mehr als deutlich, dass ihm ein Leben mit Respekt und deutlich gelebter Ethik überlebenswichtig erscheint.

Wild wie die Wellen des Meeres“ von Anna Stern und „Balg“ von Tabea Steiner. Wie gut, waren sie da! Zwei engagierte junge Autorinnen in so gänzlich verschiedener Lebens- und Schreibsituation. Anna Stern, eine Akademikerin, die sich in ihrem Brotberuf wissenschaftlich mit Umweltfragen beschäftigt, Tabea Steiner eine „junge Wilde“, die sich auf ganz vielen Bühnen und Wirkungsfeldern innerhalb des Literaturbetriebs bewegt. Anna Stern erzählt vom Fluchtversuch einer jungen Frau, eine Geschichte, die sich geographisch aus der Heimat entfernt und Tabea Steiner jene eines Ausgegrenzten, das eingezwängte Dasein in dörflicher Enge. Beide Bücher sind auf literaturblatt.ch besprochen. Ich würde mich nicht wundern, wenn die beiden Titel im September auf der ominösen Shortlist des Schweizer Buchpreises erscheinen würden.

Franco Supino, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Auch wenn Simonetta Somaruga ihrem Mann bei seiner Lesung am Sonntag einen Besuch abstattete und ich mich einmal mehr wunderte, dass eine Ministerin in der Schweiz wie jede andere als Privatperson durch die Solothurner Innenstadt spazieren kann, ohne dass an jeder Ecke ein bis auf die Zähne bewaffneter Soldat jeden Anwesenden mit durchdringendem Blick nach seinem Gewaltpotenzial scannt und mir der neue Roman ihres Mannes ausgesprochen gut gefällt (Eine Rezension und Interview mit Lukas Hartmann folgt!), war es der Rückkehrer Thomas Hürlimann, der mit seiner ersten Lesung aus seinem vor einem Jahr erschienen Roman „Heimkehr“ den Solothurner Literaturtagen einen grossartigen Abschluss bescherte.
Thomas Hürlimann ist unbestritten einer der Grossen, nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen deutschsprachigen Literatur. „Das Gartenhaus“, eine Novelle, die die Geburtsstunde des vielvermissten Ammann-Verlags bedeutete, ist genauso Eckpfeiler, wie fast alle folgenden Publikationen, Prosa oder Theater. Und jetzt, nach Krankheit, langer Abwesenheit, las Thomas Hürlimann zum ersten Mal vor grossem Publikum aus seinem Roman „Heimkehr“. Heinrich Übel, Fabrikantensohn, hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater. „Heimkehr“ beschreibt die Rückkehrversuche eines Sohnes in die verlassene Welt der Familie. Ein Autounfall katapultierte ihn aus seinem Leben, seiner Identität. „Heimkehr“ ist ein vielschichtiger Roman mit einem grossen Bruder, Max Frischs „Stiller“. Dem Tod von der Schippe gesprungen, sei alles neu gewesen, erzählte Thomas Hürlimann. Auch das Schreiben. Ein zu der Zeit fast fertiger Roman musste noch einmal neu erzählt werden. Die Frage „Bin ich oder bin ich nicht mehr?“ war in der Fassung vor der Krankheit und dem drohenden Tod nicht vorhanden. Thomas Hürlimanns Roman sprudelt vor Fabulierlust, Witz bis hin zur „Klamotte“. Ein grosses Buch!

Beitragsbild zeigt Viola Rohner © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Patrick Tschan mit «Der kubanische Käser» in Amriswil

Ein grosser Tisch, darauf Leckereien und Wein, rundum Gäste, dazwischen Bücher. «Literatur am Tisch» hat Tradition; Angelika Waldis, Jens Steiner, Hansjörg Schertenleib u. a. waren schon Gäste am Tisch in Amriswil. Patrick Tschan brachte seinen neuen Roman «Der kubanische Käser» und einen «Kuba Mutschli» der Käserei Stoffel aus Unterwasser im Toggenburg, dem Ausgangspunkt Tschan Romane «Polarrot» und «Der kubanische Käser».

Traditionelle Lesungen sind das eine. Aber wenn sich interessierte Menschen, die das Buch bereits gelesen haben, an einem gedeckten Tisch mit dem Schriftsteller treffen, dann schlägt Literatur ganz andere Wellen. Dann wird fassbar, was Schreiben bedeutet, deutlich, was Leidenschaft erschafft, durchscheinend, wie Literatur entsteht.

«Irgendwann im April 2019 tat der Säntis einen Schritt zu Seite und rief derart verheissend nach Noldi, dass sich der Chäserrugg aus Erbarmen duckte, damit der Gallus seine Einladung über den Walensee, die Bündner Alpen, das ligurische Hochgebirge und den Anfang des Apennins bis aufs offene Meer rufen konnte, diese weiter klang, am hohen Atlas-Gebirge nach Westen abbog, sich über den Atlantik bis in die Karibik kämpfte, wo gerade jetzt der Noldi vor seine Mine trat, ganz weit weg ein ungewohntes, aber doch vertrautes Geräusch hörte, auf den Karstkegel stieg um es besser zu hören, jetzt sicher war, dass der Gallus aus Amriswil zu «Literatur am Tisch» lud, worauf der Noldi sogleich ein Mutschli und einen Grind einpackte, die Beine unter die Arme nahm, dieses Tal, indem das Glück kubanisch sprach, verliess, einschiffte, über den Atlantik segelte, in Genua anlegte, noch einen Gang höher schaltete um ja rechtzeitig am Tisch mit Käse, Brot und Wein, an der St. Gallerstrasse 21, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic einzutreffen.
Es war ein wunderbarer Abend mit wunderbaren Menschen und wunderbaren Gastgebern, und der Duende, dieser Geist, der dem Mark des Lebens die Bühne bereitet, legte sich auf die Runde und befeuerte die Energie des Erzählens, der Geschichten und des Redens über Geschichten, die den Menschen die Seele reinigen.
So war es, in Amriswil, am 29. Mai 2019, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, deren Herzenskraft der Literatur den Rücken stärkt.» Herzlich Patrick

«Ein Tisch. Ein Buch. Ein Autor. Sechs Leserinnen. Zwei Leser. Das sind in diesem Fall die Zutaten fürs Zusammensein am Familientisch. Angerichtet haben die Schose Irmgard und Gallus Frei-Tomic in Amriswil. Gestern stand Patrick Tschan mit seinem Buch «Der kubanische Käser» im Zentrum zwischen Chüeboden, Brot, Murmeli, Weingläsern, Käsesorten, Noldi Abderhalden aus Alt St. Johann im Jahr 1620 und ziemlich lauten Fürzen. ‹Es war ein hueren Puff zu dieser Zeit in dieser Ecke der Welt›, steht im Buch. Ein sauschöner Abend. Herzlichen Dank an Patrick, Irmgard, Gallus, die andern und an den ‹Kugelfang-Noldi›!» Gregor Meili.

«Der kubanische Käser» ist aber noch mehr als ein Roman: In szenischen Lesungen zusammen mit Schauspielerinnen und Jodlerinnen soll «der Käser» in Zukunft die Kleinbühnen beleben. Die Vorbereitungen dazu sind in vollem Gange (Informationen).

 

Patrick Tschan «Der kubanische Käser», Zytglogge, Gast in Amriswil

Noldi Abderhalden, den ein schauderhafter Rausch aus seinem geliebten Toggenburg (Tal in den Schweizer Voralpen) 1620 in die Hände von Söldnern trieb, wird durch Zufall ein Kriegsheld. Aber statt auf seinen Lorbeeren auszuruhen und ein Leben lang von diesem einen, glorreichen Moment zu profitieren, schwemmt ihn sein Verlangen nach mehr bis in ein abgelegenes Tal auf Kuba, wo er die Zeit seines Dienstes für die Krone aussitzen muss.

In Europa tobt der Dreissigjährige Krieg. In manchen Gegenden dezimiert er zusammen mit Seuchen, Armut und Hunger die Bevölkerung um mehr als die Hälfte. Ein jahrzehntelanges Gemetzel, bei dem es vordergründig um den rechten Glauben geht, aber eigentlich nur um Macht, Besitz und Geltungssucht, ein Morden, das bis in die entferntesten Winkel vordringt und das Antlitz Europas für immer grundlegend verändert.

Anwerber der Spanischen Armee streifen durch die Lande und suchen nach Frischfleisch für den Kampf gegen den Protestantismus. In einer eisigen Winternacht, in der Noldi Abderhalden seinen Liebeskummer im Schnaps zu ertränken versucht, setzt er sturzbetrunken sein Zeichen unter einen Vertrag, wird als Sechzehnjähriger mitgenommen, um irgendwo und überall im Namen des richtigen Glaubens Köpfe rollen zu lassen. Nach Ausbildung, Drill und Entjungferung rettet er in einer Schlacht das Leben seines Kommandanten Gómez Suárez de Figueroa, schlägt eine dahersirrende Kanonenkugel mit blossen Fäusten aus seiner tödlichen Bahn, wird zum umjubelten Held, gelangt bis an den Hof des Königs, wo er aber wegen seiner unstillbaren Lebenskraft und Leidenschaft für Jahrzehnte in die spanische Kolonie Kuba verbannt wird, um dort eine Hand voll Schweizer Kühe zur Herde werden zu lassen.

Noldi Abderhalden erwacht zu spät, mehr als einmal. Aber Noldi Abderhalden ist es gewohnt, in die Hände zu spucken und die Dinge anzupacken. Er sitzt seine Zeit nicht einfach ab, sondern mausert sich auf der anderen Seite der Welt zum Züchter, Käser und Geschäftsmann. Sogar das Donnerrollen, das aus seinen Lenden zu stammen scheint, bekommt er in den Griff, lernt Liebe kennen und das Glück des Tüchtigen. Nur die Sehnsucht nach dem kleinen Tal zwischen Säntis und Churfirsten lässt sich nie ganz zähmen, ob im Geschmack seines Käses oder nach dem Verstreichen seiner besiegelten Pflicht.

Patrick Tschan ist gelungen, was er wirklich kann. Er mischt Historie mit Fiktion, würzt mit Humor und träfer Sprache, heizt ordentlich mit schnoddriger Schärfe und fast südamerikanischer Erzählfreude und formt eine Geschichte, die in eidgenössischer Literaturlandschaft seinesgleichen sucht. Der Roman strotzt vor Helvetismen, es wird gewettert (gleich mehrdeutig) und geflucht, dass es eine Freude ist. Ob ‹Heilandsack›, ‹huere Feigling› oder spanisch ‹Me cado en la lache!‘, Patrick Tschan erzählt nicht zimperlich. Mehr als einmal bebt das Zwerchfell während des Lesens, mehr als einmal überrascht Patrick Tschan durch das Tempo in seinem Erzählen. Schon einmal war der Ursprung eines Tschan’schen Abenteuers das kleine Toggenburg im Kanton St. Gallen. Damals war es im Roman „Polarrot“ Jack Breiter, der zuerst als Heiratsschwindler in St. Moritzer Hotels sein Glück versucht und später den Nazis das Polarrot für ihre Fahnen hektoliterweise verkauft. Noldi Abderhalden, der mit zwölf durch ein Unglück zusehen muss, wie seine Eltern sterben müssen, ist das, was man ein «Stehaufmännchen“ nennt, Archetyp dessen, was den einen oder andern auch in der Gegenwart an der Gerechtigkeit zweifeln lässt. Was die Geschichte so sehr lesenswert macht, ist dieser ganz eigene Ton, den Tschan für seine Heldengeschichte trifft. Ein Roman mit grossen Händen, starken Oberarmen und markigen Sprüchen!

Am 29. Mai, 2019, bringt Patrick Tschan seinen neuen Roman „Der kubanische Käser“ an die St. Gallerstrasse 21 in Amriswil. Wer das Buch bis zu diesem Datum gelesen hat und mit Schriftsteller und Gästen diskutieren und austauschen will, ist mit Anmeldung (info@literaturblatt.ch) herzlich bei Irmgard & Gallus Frei-Tomic eingeladen. Die Runde beginnt um 19 Uhr, dauert bis ca. 21 Uhr und kostet inkl. Speis und Trank 30 Fr.

Ein paar Fragen an Patrick Tschan:

Schon in deinem Roman „Polarrot“ fragte ich mich, wie der Mann aus Allschwil bei Basel an seine Geschichten kommt, die nun schon ein zweites Mal im Toggenburg, das so weit weg vom Nabel der Welt scheint, seinen Ursprung haben? Liegen dort die besseren Geschichten als in der Stadt Basel? Oder braucht es einen dicken Nacken, der all das tragen kann, was deinen Protagonisten in die Quere kommt?
Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Bei Breiter könnte es sein, dass der vorlagegebende Onkel aus dem Thurgau kommt und dies für eine Romanfigur nicht unbedingt eine literaturgeschwängerte Region ist. Und so fiel mir das Toggenburg mit seinem «Armen Mann» ein. Beim Abderhalden war die interessante konfessionelle Konstellation im Toggenburg interessant. Und ein Ort, wo die Berge Frümsel, Hinterrugg, Chäserrugg, Leistchlamm, Brisi oder Schafsberg und Alpen Chüeboden, Vrenechele, Obere und Untere Schnebere oder Chreialp heissen, der schreit geradezu als literarische Kulisse verwendet zu werden.

Neben den Ortsbezeichnungen sind es aber vor allem Flüche und Kraftausdrücke, die du in deinem Roman zu einem Mantel Abderhalden werden lässt. Abderhalden, der Käser aus dem Toggenburg, schlägt sich zwar wacker im Dreissigjährigen Krieg, ist aber alles andere als ein Schläger oder Grobschlächtiger. Seine Flüche, seine Jodler sind wie die Türme seiner eigentlich so sehr gebeutelten Seele. Flüche als eine Art der Befreiung? Liest man deine im Roman verwendeten Flüche, dann sind sie Banner der Verbildlichung innerer Zustände, so ganz anders als die Flüche heute, die ausgerechnet eine Ausdrucksform der Liebe in den Dreck ziehen. War da pure Lust oder auch ein bisschen Rehabilitation jener Kraftausdrücke, die Leiden-schafft?
Wohl beides. Ein Noldi Abderhalden ist nicht einer, der sich hinsetzt und sein Verhältnis zu Gott, der Welt, der Liebe und den Frauen reflektiert, dies dann den Lesenden fein säuberlich mitteilt. Das wäre berichtet statt erzählt und somit langweilig. Also jodelt und flucht Noldi, wenn seine Gefühlswelt wieder mal derart von Gott, der Welt, der Liebe und den Frauen durcheinandergeschüttelt wird, dass er nicht mehr weiss, ob die Chreialp wirklich da oben ist und der Chässerugg nicht in den Walensee gefallen ist. Ja, und die alten Flüche sind wahrlich eine Lust, stecken doch eine Menge überlieferter lokalgefärbte Gefühls- und Glaubenswelten in ihnen, Heilandsack!

Der dreissigjährige Krieg, wohl einer der vernichtensten Kriege gemessen an der damaligen Bevölkerung, ist der Grund dafür, dass Noldi Abderhalden gegen Bezahlung für 10 Jahre in den Dienst der Spanischen Krone in Schlachten zog. Kriege, die an Brutalität kaum zu überbieten waren. Er ist Schauplatz seiner und deiner Heldengeschichte. Eine Heldengeschichte, die wie alle Heldengeschichten nicht nach Wahrheitsgehalt gemessen werden kann und soll. Wir brauchen sie. Je verrückter, desto wirkungsvoller. Und weil die Literatur alles darf, ist sie der ideale Ort, um Heldengeschichten zu produzieren. Literatur als «Opium für das Volk»?
Leider rauchen viel zu wenige aus dem Volk diese Art von Opium. Obwohl: ein paar gute Geschichten gut erzählt wären wohl für viele Wunden heilsamer als mutlose, nach Aktualitäten schielende Mainstream-Berichte.

Wenn erzählt wird, sind es die Momente, in denen Brüche entstehen, die bannen. Noldi verliert als Kind seine Eltern, muss der Katastrophe zuschauen. Im Krieg ist er es, der im Moment eingreift, etwas aus der logischen Konsequenz buxiert. Das, was ihm als Kind damals unmöglich war. Manchmal sind wir zum reagieren verdammt, manchmal gelingt es uns zu agieren. Noldi ist in deinem Roman einer, der es in die Hand nimmt. Das braucht es in einer Welt, in der sich alle so schnell stets als Opfer sehen. Richtig?
Das hast Du wunderbar gesagt, mit den Brüchen. Am besten sind sie dann, wenn sie aus der Figur kommen. So wirkt jedes Klischee weniger klischeehaft. Der Noldi nimmt ja erst in Kuba sein Leben in die Hand; mit dem Entschluss zu käsen. Vorher hätte er viele Gründe gehabt, sich selbst zu veropfern. Aber dieses gibt es in der Manstream-Gegenwartsliteratur ja genug. Das ist auch nicht spannend, das berichtet und erzählt nicht.

Vielen Dank und deinem Buch die verdienten Leserinnen und Leser!

Patrick Tschan, 1962 in Basel geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und ist seit vielen Jahren in der Werbung und Kommunikation tätig. Er ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fussballnationalmannschaft. Zuletzt erschienen von ihm die Romane «Keller fehlt ein Wort» (2011), «Polarrot» (2012),»Eine Reise später» (2015) bei Braumüller. «Der kubanische Käser» ist sein erstes Buch bei Zytglogge.
Beitragsbild © Gallus Frei-Tomic

8. Literaturblatt

Patrick Tschan «Der kubanische Käser»

Das wunderbarliche Leben und Lieben des Noldi Abderhalden

Es war nicht so, dass Noldi Abderhalden in dieser bitterkalten Winternacht im Februar 1620 freiwillig über die eisigen Trampelpfade auf den Chüeboden oberhalb Alt-St. Johanns aufgestiegen wäre, um von dort seinen ganzen Schmerz über dieses verdammte Tal hinwegzuschreien.
Nein. Die Heidi hatte ihn verlassen. Wegen dem Heiri Obderhalden.
Er war so stolz gewesen, dass gerade er die Heidi küssen und mit ihr gehen durfte. Wie ein Pfau war er Hand in Hand mit ihr die Dorfstrasse rauf und runter flaniert, unter den neidischen Blicken der anderen Burschen, die wie er fast täglich wegen der Heidi einen Ständer weggedrückt hatten. Geheiratet hätte er sie,  auf der Stelle – hätte er gekonnt, hätte er gedurft.
Aber, was eh nicht gut ausgehen durfte, war durch den Heiri bereits nach dem zweiten Gang am Ende der Dorfstrasse abgeklemmt worden.
«Komm Heidi», hatte er gerufen, und die Heidi hat die Hand vom Noldi losgelassen, sich beim Heiri untergehakt, sich zu Noldi umgedreht, ihm zugeraunt, der Heiri käme eben draus, im Gegensatz zu ihm, er solle jetzt ja nicht flennen, sondern zum kleinen Babettli gehen, die käme auch noch nicht draus, aber irgendwann kämen sie dann beide draus, und dann käme es schon noch gut für ihn.
Und so krümmte er sich jetzt dort oben auf dem Chüeboden vor Liebesschmerz mit einer Flasche saurem Wein im Kopf, beobachtet von Bär, Wolf und Gämsbock, tobte, schrie, stampfte, weinte und schluchzte so laut, dass sich Bär, Wolf und Gämsbock einig waren, dass nur Menschen sich so saudumm aufführen konnten.
Da er die Heidi doch schon ein gutes Stück weggetrunken hatte, wusste er plötzlich nicht mehr, was er eigentlich ausser Schreien und Toben dort oben wollte, und machte er sich daran, wieder vom Chüeboden hinabzusteigen, bahnte sich einen Weg durch die Dunkelheit und das einsetzende Schneetreiben, wählte im Suff zweimal die falsche Abzweigung, rutschte aus, landete unsanft auf dem Hintern, und da er auf dem blanken Eis nicht mehr hochkam, entschied er sich, in den Spuren der schweren Holzfällerschlitten auf dem Hosenboden ins Tal zu rutschen. Hei, da nahm der Noldi Fahrt auf, zog die Beine an und gab leichte Rücklage, nutzte die Schneewechten als Steilwandkurven, eine Tannenwurzel riss ein Stück Leder aus der Hose und dem Hintern und eine Eule stob aufgeschreckt in das ewig Gründunkle des Tannenwalds. Am Ende der Schussfahrt landete er geradewegs vor den Füssen eines Anwerbers für Reisläufer der von Plantas.
«Ha», rief der Anwerber, «da kommt ja einer vom Chüeboden geflogen. Schau, Trommler, ein stämmiges Exemplar von einem Alt-St. Johanner Sautreiber! He, was meinst du?»
Der Trommler antwortete mit einem kräftigen ‹Terrrräng›.
«Der wäre doch was, um gegen die vermaledeiten Bündner Protestanten, gegen den Jörg Jenatsch und Konsorten zu kämpfen. Was meinst du, Trommler?»
Terrrräng!
«Jörg Schnaps?», lallte Noldi und versuchte aufzustehen.
Der Anwerber drückte ihn zu Boden. Jetzt erst spürte er den stechenden Schmerz in seinem Hintern von all den blauen Flecken, Hautschürfungen und Rissen, die er sich beim wilden Ritt über Steine, Felsvorsprünge, Tannennadeln und -zapfen zugezogen hatte.
«Schnaps?»
«Schnaps!»
«Ja, was würde so ein daher gerutschter Sauhirt denn für Schnaps geben?»
«Kuhhirt!»
«Von mir aus. Also, was gäbe ein Kuhhirt für Schnaps?»
Terrrräng!
«Was würde denn so ein Herr mit Trommler wollen?», lallte Noldi dagegen.
Der Anwerber reichte ihm die Hand und half ihm aufzustehen. «Deinen Todesmut.»
Terrrräng!
«Das ist alles?» Noldi versuchte, die helfende Hand abzuschütteln, und fiel dabei fast wieder um.
«Ja.»
Terrrräng!
«Und was, was … also was, was gibt den, den Schnaps?», brabbelte Noldi.
«Dein Kreuz. Hier. Für zehn Jahre.» Der Werber hielt ihm ein Blatt mit grossem Wappen und mächtig geschwungener Schrift unter die Nase, zog eine Feder aus der Umhängetasche und zeigte Noldi die Stelle fürs Kreuz.
Terrrräng!
«Zeig den Schnaps, du, du, du Seelenkrämer …»
«Voilà.» Der Anwerber zeigte auf den Trommler und dieser zog ein kleines Fässchen Schnaps aus seinem Beutel.
Noldi nahm das Fässchen, zog den Zapfen, nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und ächzte: «Wuaah!»
«Veltliner.»
Terrräng!
«Gib … du, du Buhler, du.»
«Trommler!»
Der Tambour hob die Trommel hoch, der Anwerber legte das Blatt darauf und fragte Noldi scharf: «Name?»
«Noldi, du, du Leichenfledderer, du.»
«Wie noch?»
«Abderhalden, natürlich, du, du, Schnitter, du …»
Der Werber schrieb den Namen und Vornamen auf das Blatt, drückte die Feder in Noldis Hand, führte sie zur Stelle, wo dieser zu unterschreiben hatte, und machte dort drei Kreuze. Daraufhin nahm Noldi einen zu grossen Schluck Schnaps, prustete die Hälfte wieder hinaus und besudelte das Blatt. Der Trommler schrie «He!», der Werber nahm das Papier und wischte den Schnaps ab, und Noldi, ohne Stütze, fiel hin, krümmte sich, umschlang das Schnapsfässchen und entschied sich, nie mehr aufzustehen und für immer und ewig einzuschlafen.
Terrrräng! Terrrräng!
Er blieb liegen.
Terrrräng! Terrrräng! Terrrräng!
Er tat ein tiefer Seufzer.
«Wache!», befahl der Anwerber. Zwei mit Hellebarden bewaffnete Soldaten traten aus dem Dunkel der Nacht, hoben den Noldi hoch und schleppten ihn in einen Stall, wo sie ihn neben eine Kuh warfen.

Babettli, die das alles von ihrem Fenster aus beobachtet hatte, stürmte, kaum waren die Soldaten wieder im Dunkel und Anwerber wie Trommler im Wirtshaus verschwunden, die Treppe hinunter, auf die Dorfstrasse und in den Kuhstall, in den sie den Noldi verfrachtet hatten.
Es war ein jämmerliches Bild, das sich ihr bot: ein verdreckter, blutverkrusteter Noldi, der sich an sein Schnapsfässchen klammerte und wirres Zeug stammelte. Die danebenliegende Kuh war so leibarm, dass sie trotz grosser Kälte nicht einmal dampfte.
Erfasst von Mitleid und ihr gänzlich unbekannten anderen Gefühlen legte sie sich eng an Noldis Rücken, begann sein Haar zu streicheln, sein Gesicht, seinen Hals, und irgendwie rutschte ihre Hand unter sein Hemd und von da – sie hatte wirklich keine Ahnung, welcher Teufel sie da ritt – in seine Hose, und da war das Ding, von dem alle sprachen, das sie aber noch nie gesehen, geschweige denn angefasst hatte.
Noldi stöhnte, spürte im Halbtraum etwas in seiner Hose, das sich wie ein Murmeltier anfühlte, weich, pelzig, warm, fettig, und von dem er hoffte, dass es ja nicht zubeissen würde. Irgendwann begann das Murmeli mit ihm zu sprechen, fragte ihn, wie er das finde, er antwortete, es solle weitermachen, aber einfach nicht beissen, es fragte, was er da mit den bewaffneten Männern gemacht habe, Zeugs verkauft, eben, antwortete er, was für Zeugs, er habe seine Todesverachtung verkauft, warum er dies getan habe, er sei halt so todesverachtend unglücklich, warum er denn so unglücklich sei, weil er die Heidi verloren habe.
Da biss das Murmeli dermassen zu, dass der Noldi sofort wieder nüchtern war, wie am Spiess vor Schmerz schrie, die Kuh darob verstört aufschreckte, ihm ein Huf an die Backe donnerte, derweil er noch einen Rockzipfel von dem weinend aus dem Stall stiebenden Babettli im Augenwinkel erhaschte.
Er krümmte sich noch mehr vor Schmerz, Liebeskummer und Suff, trank noch ein paar Schluck und schlief schliesslich ein, träumte von Murmelis und Heidis und Kühen und wurde am anderen Morgen durch einen kräftigen Fusstritt geweckt, in den eisigkalten Dorfbrunnen geschmissen und in die Uniform eines Söldnerregiments der katholischen Truppen der von Planta gesteckt.

Patrick Tschan, geboren 1962, lebt in Allschwil, Schweiz. Studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Er führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Patrick Tschan ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fussball-Nationalmannschaft.

Am 27. März, um 19 Uhr, ist Buchtaufe im Literaturhaus Basel. Petrik Tschans neuer Roman «Der kubanische Käser» erscheint bei Zytglogge. Der hier veröffentlichte Text ist der Einstieg in den Roman.

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In der Buchhandlung Johannes Heyn in Klagenfurt «Polarrot»

Es gibt sie noch, die besonderen Buchhandlungen. Es gibt sie überall, aber immer seltener. Buchhandlungen, bei denen ich als Kunde schon am Inhalt der Regale spüre, dass neben dem Bemühen, davon leben zu können, auch die Liebe zum Buch, zur Literatur, zum schönen, besonderen Buch durchschimmert. Es sind die Details, das Regal mit einheimischen Dichterinnen und Dichtern, die persönlichen Kommentare zu Büchern, die Kompetenz in der Beratung und hier in Klagenfurt, der Hauptstadt des Landes Kärnten, die Treppe ins Obergeschoss.

Dort in jener Buchhandlung leuchtete das Polarrot des Romans «Polarrot», dem zweiten Roman des Schriftstellers Patrick Tschan. Ein Roman, der es wert ist, auch vier Jahre nach seinem Erscheinen noch einmal in Erinnerung gerufen zu werden: Köbi Breiter, ein armer Mann (mehr) aus dem Toggenburg (Tal im gebirgigen Süden des Kantons St. Gallen CH), arbeitet sich mit viel Geschick und Charme nach oben, bis an die Seite einer reichen Russin im noblen Palace Hotel in St. Moritz, wo er eigentlich bloss Angestellter ist und sich mit einem geliehenen Anzug zum glücklosen Heiratsschwindler macht. Er wird entlassen. Aber selbst im Büro des Hoteldirektors schafft es Breiter, die Katastrophe auf ein titelseite-neuMindestmass herunterzuhandeln. Was für jeden anderen Schule genug gewesen wäre, ist für Breiter das Zeichen «Jetzt erst recht!». Er, nun Jack Breiter, wird Handlungsreisender in Farben eines Basler Chemiekonzerns und macht prächtig Umsatz mit dem Polarrot in den Fahnen und Wimpeln des nationalsozialistischen Nachbarn. Lässt sich Glück endlos strapazieren? Patrick Tschan erzählt eine erstaunliche Geschichte, fabuliert und fesselt, erzählt mit verblüffender Leichtigkeit und erzeugt derart Spannung, dass man das Buch nur ungern weglegt.

„Einen politisch derart unkorrekten Helden hat die Schweizer Literatur kaum je gesehen: Patrick Tschans Jack Breiter ist ein Hochstapler und ein Großmaul, er schmuggelt Geld und Gold und Menschen und schreckt auch nicht davor zurück, den Nazis das Rot für ihre Hakenkreuzfahne zu verkaufen -Tschan macht großes Kino.“ Alex Capus

ptweb2-e1438961673944Patrick Tschan, geboren 1962, lebt in Allschwil, Schweiz. Studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Er führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und war viele Jahre in der Werbung und Kommunikation tätig. Patrick Tschan ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fussball-Nationalmannschaft. Beim Braumüller Verlag erschienen die Romane «Keller fehlt ein Wort» (2011), «Polarrot» (2012) und «Eine Reise später» (2015).

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