«Ein verinnerlichtes Buch» Meinrad Inglin in der orte-Literaturzeitschrift

Rechtzeitig zum 50. Todestag des Schriftstellers Meinrad Inglin finden nicht nur verschiedene Gedenkanlässe statt und gab sich die Meinrad Inglin-Stiftung ein neues Gesicht, es erscheint im appenzelleschen Schwellbrunn auch eine neue Ausgabe der Literaturzeitschrift orte, die sich ganz dem grossen Schweizer Autor widmet. Meinrad Inglin ist eine Entdeckung wert!

 

zur Literaturzeitschrift orte

Beitragsbilder mit freundlicher Genehmigung der Meinrad Inglin-Stiftung

Meinrad Inglin «Urwang», Pro Libro Verlag

Letzthin bekam ich von einem österreichischen Verlag ein Buch als Rezensionsexemplar zugeschickt, das davon erzählt, wie einst in den schottischen Highlands ein Staudamm errichtet wurde und in der Folge ein ganzes Dorf umgesiedelt werden musste. Ein Roman darüber, was es bedeutet, aus seiner Heimat herausgerissen zu werden. Ich legte den Roman wieder weg, weil während des Lesens dauernd die Erinnerung an einen anderen Roman mit ganz ähnlichem Thema durchdrückte – und zwar so beharrlich, dass ich statt des im Herbst erscheinenden Romans, jenen aus dem Jahr 1954 wieder in die Hand nahm und zu schmökern begann.

"Urwang", erstmals 1954 beim Atlantis Verlag in Zürich erschienen
«Urwang», erstmals 1954 beim Atlantis Verlag in Zürich erschienen

Im «Urwang» einem kleinen Tal in der Innerschweiz, dem der Schriftsteller Meinrad Inglin die Geschehnisse im Wägital (Kanton Schwyz) zum Vorbild nahm, soll ein Staudamm gebaut werden. Fünf Bauernfamilien müssen von ihren Höfen ausziehen und klammern sich mit allen Mitteln an ihre über Generationen vererbte Scholle. Protagonist Aschwanden soll als Vertreter des ausführenden Unternehmens die Betroffenen dazu bringen, ihre Anwesen nicht durch zwangweises Abführen verlassen zu müssen. Ein schwieriges Unterfangen! Meinrad Inglin nimmt die Technisierung der Gesellschaft zum Thema, jenen Moment in der Geschichte, in der die Einführung der Elektrizität, die Errungenschaften der Technik für die Mehrheit der Menschen eine Erleichterung, ein Fortschritt bedeutete, für den andere aber mit Leib und Gut bezahlen mussten. Inglin vermeidet es gekonnt, verklärte Nostalgie aufkommen zu lassen. Was am Schluss des Geschehens in den Wassermassen des gefluteten Stausees untergeht, ist nicht einfach Idylle, letztes Paradies, sondern auf der Rech1923.06.16_Alt-Waeggithal_Kuehe_vor-Staumauernung der Preis für den Einzug der Moderne. Und dass diese Rechnung nicht ohne Verlierer, ohne Kampf und Leidenschaft ausgetragen wird, davon erzählt der Roman «Urwang». Inglins Roman beschreibt einen Moment der Geschichte, einen Moment, der sich immer wieder abspielt.

204864Meinrad Inglins (1893 – 1971) Kindheit war überschattet vom frühen Tod der Eltern, den Vater durch ein Unglück, als Meinrad 13 und die Mutter durch eine schwere Krankheit, als er 17 war. Schon 1909 publizierte er erste Texte in Zeitungen und 1922 seinen ersten Roman «Die Welt in Ingoldau». Meinrad Inglin nahm Stellung zu aktuellen politischen und sozialen Fragen, schrieb viel mehr als ‹Heimatliteratur›. Hauptwerk bleibt sein 1938 erschienener Roman «Schweizerspiegel», ein grosses Panorama  über die Grenzbesetzung und den Generalstreik, Themen, die vor Beginn des 2. Weltkriegs aktueller nicht sein konnten. Verfilmungen von «Der Schwarze Tanner» und «Das gefrorene Herz» von Xavier Koller oder die regelmässig aufgeführte Bühnenadaption des «Chlaus Lymbacher» von Thomas Hürlimann machen deutlich, dass das Werk von Meinrad Inglin noch heute lebendig geblieben ist und zu Entdeckungen einlädt.

imgres«Urwang» ist beim Verlag Pro Libro Luzern oder im Buchhandel erhältlich!

Webseite der Meinrad Inglin-Stiftung

PS Man stelle sich vor; Als ich zwischen 1979 und 1984 meine Lehrerausbildung in Zug machte, las unser Deutschlehrer Werner Hegglin als Vorbereitung zu eine «Konzentrationswoche» im Wägital Inglins ganzen «Urwang» der Klasse im Unterricht vor. Heute noch vorstellbar? Nein. Dabei spüre ich die Wirkung jener Vorlesestunden noch heute. Vielen Dank an «meinen» hochgeschätzten Deutschlehrer, den «Chef»!

Werner Hergglin
Werner Hergglin