Takis Würger «Der Club», Kein & Aber

Menschen sind voller Sehnsüchte. Eine davon, vielleicht die stärkste, ist die Sehnsucht nach einem Zuhause, einem Ort, an dem man sich in keiner Weise zu verstecken oder verstellen braucht. Takis Würger beschreibt in seinem ersten Roman «Der Club» solche Sehnsuchtsorte; das Zuhause und die Freundschaft, die Liebe.

Schon die erste Seite seines Romans spiegelt, was Takis Würger kann. Er bringt es auf den Punkt, ganz klar, unmissverständlich, mit dem sicheren Gefühl für die richtigen Bilder, unprätentiös in der Sprache und mit tiefer Empathie für die Figuren. Allein die erste Seite seines Romans ist eine Geschichte. Wer in der Buchhandlung steht, die erste Seite aufschlägt und liest, sieht eine ganze Reihe von Türen und Fenstern, die neugierig machen auf das, was dahinter steckt.

Hans wächst in einem kleinen Haus im südlichen Niedersachsen auf, direkt am Wald, mit Eltern, die ihn wachsen und gedeihen lassen und einem Pferd, das keinen Sattel mehr ertägt. Hans ist ein Sonderling, als Kind eines, das nicht spielt, viel lieber die Zeit im Wald verbringt, um die Welt zu beobachten. Er mag die Schule nicht, ausser wenn im Fach Deutsch Geschichten geschrieben werden, Geschichten, die ihm erlauben, seine Ordnung zu schaffen, die Welt zu verstehen. Als zuerst sein Vater bei einem Verkehrsunfall und ein halbes Jahr später seine Mutter am allergischen Schock eines Bienenstichs sterben, hätte ihn seine Tante Alex aufnehmen sollen. Sie tut es nicht und schickt ihn in ein Jesuiteninternat, wo ihm Pater Gerald aus dem Sudan im Keller das Boxen beibringt. Boxen als eine Art Sprache, ein Rhythmus, der ohne Worte auskommt. Nach dem Internat inszeniert die Tante aus der Ferne, die Dozentin an der Eliteuniversität Cambridge ist, dass er zum Studenten an ihrer Universität wird. Es gibt eine Angelegenheit, bei der er ihr helfen soll. Hans wird zum Studenten Hans Stichler, der im Auftrag seiner distanziert agierenden Tante ein Verbrechen aufdecken soll. Ein Verbrechen im Club, im Pitt Club, einer äusserst elitären Vereinigung in einer äusserst elitären Universität. Hans› Tante Alex weiss, dass sie niemals Zugang zu den geheimen Machenschaften innerhalb des Clubs finden kann. Aber Hans ist ihr Schlüssel – und nicht nur dank seiner Intelligenz und seines Boxtalents. Hans besitzt eine Gabe, die ihn in seiner Bescheidenheit auffallen lässt; er kann zuhören. Er gibt seinem Gegenüber schon mit seiner Gestik, seinem Blick das Gefühl, in ihm einen Freund, ein Stück Heimat gefunden zu haben. Ausgerechnet Hans findet Freunde, die er täuschen muss, um hinter ein Geheimnis zu kommen, von dem er selbst nichts weiss, das ihn aber immer näher an den Abgrund bringt. Seine Lüge wird zum Nitroglyzerin, das jederzeit zu explodieren droht. Er träumt ein Leben lang von Liebe und Freundschaft, um seinen Traum zum Alp werden zu lassen.

Die Welt ausserhalb des Clubs ist aufgeteilt in Sieger und Besiegte, Raub- und Beutetiere, Clevere und ewig Dumme. Takis Würger erzählt mit den Stimmen der Protagonisten, u. a. auch mit der von Josh, dessen Stimme so unglaublich viel Verachtung, Arroganz und elitäres Bewusstsein zeigt, dass ich gewisse Passagen seiner Aussagen fast unausstehlich empfand. Ein geschicktes Konstrukt des Autors! Takis Würger weiss, wie Geschichten erzählt werden, weiss es, weil er als Journalist den Riecher für Geschichten hat, weil er weiss, wie viel er Preis geben muss, ohne dem Leser das Gefühl zu geben, am Gängelband zu sein.

«Manchmal ist das Leben ein Rausch. Ich habe diesen Roman wie im Rausch geschrieben. Die Idee war einfach da, und ich habe sie in drei Monaten zu Papier gebracht.»

Bücher wie «DerClub» sind der Grund, warum ich Krimis nicht mag. Nicht dass ich es unverständlich finde, dass Krimis gelesen und gesehen werden. Aber mir sind sie zu einfach, zu eindimensional, zu plump. Zu oft haben sie mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Unterhaltung? Klar, aber mir ist die Zeit zu wertvoll, um mich mit Dingen zu beschäftigen, die mit dem Leben nichts zu tun haben.
Als ich Takis Würgers zur Seite legte, wachte ich auf wie nach einem Rausch. Ein Rausch ist konzentriertes Leben, erst recht dann, wenn er ohne Verstärker herbeigeführt wird. Ein solcher Rausch hat viel mit Wirklichkeit zu tun, genau wie sein Buch. Ein Buch, das auch ein Krimi hätte sein können, es aber nicht ist. Da fliesst Blut, es gibt Tote, es gibt die Guten und die Bösen. Und trotzdem kein Krimi, sondern die Geschichte darüber, was mit Menschen passiert, die den Boden unter den Füssen verlieren. Seien es nun die Snobs, die Geldgeilen, die Besten und Stärksten, die Erfolgreichen, die Winner oder jene die von einem Gefühl so sehr geritten werden, dass sie mit Vollgas auf den Abgrund zurasen können. Ein Buch darüber, dass jene besonderen Fähigkeiten, die uns zu Menschen machen, nur dann zum Vorschein kommen, wenn sich jemand darum bemüht, in welcher Form auch immer, am ehesten durch Liebe, vielleicht durch Sehnsucht, die nie gestillt wird.
Die Widmung, die mir der Autor an den Weinfelder Buchtagen in sein Buch schrieb, glaube ich ihm mit jeder Faser. Vielleicht auch ein Grund, warum man sein Buch so gerne liest. Das merkt man. Und hätten er einen Krimi geschrieben, wär das so nie passiert.

Takis Würger, geboren 1985, ist Redakteur beim Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«. Im Alter von 28 Jahren ging er nach England, um an der Universität von Cambridge Ideengeschichte zu studieren. Dort boxte er als Schwergewicht für den Cambridge University Amateur Boxing Club und wurde Mitglied in verschiedenen studentischen Klubs.

Webseite des Autors

Titelbild: Sandra Kottonau

Wort – Laut und Luise, Lechts und Rinks 2017

Die 9. St. Galler Literaturtage WORTLAUT 2017 sind Erinnerung. Laute und leise Töne mit wenig und viel Publikum. Markige Sprüche, freche Zeichnungen, durchscheinende Lyrik und rundum Gespräche über Bücher und Literatur, Text und Kontur. Aber was blieb in Erinnerung? Was hat bewegt?

„Warum ist die Welt in Büchern nicht eine bessere als in der wirklichen Welt?“

Mein ganz persönliches literarisches Jahr beginnt mit den St. Galler Literaturtagen – jedes Jahr. Im Vorsommer dann die Solothurner Literaturtage, die Nabelschau der CH-Literatur und im Sommer dann das Literaturfestival in Leukerbad mit einem literarischen Blick weit über die Landesgrenzen hinaus. Es sind aber wie in jedem Bücher- und Literaturfest nicht so sehr die Bücher, die mich locken, sondern die Schöpferinnen und Schöpfer selbst. Vor allem jene, bei denen ich spüre, wie neugierig sie sind, was ihre Bücher mit mir machen.

„Warum hat die Literatur so viel Lust, den Antihelden scheitern zu lassen?“

Die diesjährigen Literaturtage begannen in der Provinz, mit einer Prologlesung des jungen Schriftstellers und Journalisten Frédéric Zwicker im Kulturforum Amriswil. Der Autor las aus seinem ersten Roman „Hier können sie im Kreis gehen“, der Geschichte des 91jährigen Johannes Kehr, der sich im Altersheim hinter einer vorgetäuschten Demenz vor den Menschen versteckt. Sein ernst zu nehmender Roman über den letzten Lebensabschnitt vieler Menschen, den man aber gerne verdrängt, mit dem man sich selbst meist erst kurz davor und nur ungerne auseinandersetzt. Die Geschichte eines alten Mannes, die erklären soll, warum sich jemand hinter einer vorgespielten Demenz vom Leben distanzieren will. Ein Unterfangen, das mit Bedacht und Vorbereitung angegangen werden muss, wenn Kehr sich nicht durch die Wirkung eines Medikaments oder einer unglücklichen Äusserung verraten will. Ein Abenteuer, das ihm ungeahnte Freiheiten eröffnet, weil niemand, nicht einmal seine Enkelin, deren Foto er seine Geschichte erzählt, sein Doppelleben erahnt. Eine Lesung, ein Gespräch, das sich mit vielen wichtigen Fragen auseinandersetzte; Was tun, wenn einem nichts mehr am Leben hält? Wie viel Freiheit braucht der Mensch, selbst dann, wenn er unberechenbar wird?

„Literatur mag Personal, das etwas riskiert.“

Bei der offiziellen Eröffnungsveranstaltung las Max Küng, bekannt durch seine Kolumnen im Tages-Anzeiger Magazin, ein letztes Mal aus seinem Roman „Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück“. Ein Roman darüber, was hinter der Fassade eines Zürcher Stadthauses passiert, wenn alle im Haus gleichzeitig die Kündigung ihres Mietverhältnisses zugeschickt bekommen. Max Küng ist gewiefter Beobachter, Journalist und Schriftsteller. Max Küng tut, was er wirklich kann. Er blickt mit dem Brennglas auf Grossstadtmenschen, Menschen, die nur dort leben können, bunte Kampffische im Aquarium. Ganz offensichtlich verlief die Dernière mehr nach den Vorstellungen des Autors als die Buchtaufe im vergangenen Herbst auf dem Dach seines Zürcher Verlags. Damals ass man Biosandwiches unmittelbar unter der Sonne, ein kleiner Haufen. Das Buch kam unter all den Kulturlöwen kaum zu Wort.

„Figuren die allzu positiv besetzt sind, interessieren die Literatur nicht.“

Und am Samstag, dem eigentlichen Haupttag des Festivals, waren es nicht die grossen Namen, die mich überzeugten. Dafür umso mehr jene, die es verstehen, aus Beobachtungen fein ziselierte Literatur zu schaffen. Die noch junge Franziska Gerstenberg, die über ihrem Erzählband „So lange her, schon gar nicht mehr wahr“ sagt: „Die Figuren sind alle ich, mit allen Fragen, allen Zweifeln.“ Sie gehe langsam vor, versuche sich psychologisch anzunähern, hineinzuhören, nicht auszuleuchten, nicht gewillt einer Pointe nachzurennen. Es reize sie, die Perspektive zu wechseln und sich nicht wie bei Romanen über Jahre mit dem gleichen Personal herumschlagen zu müssen. Franziska Gerstenberg , zierlich, fast zerbrechlich, las in Lederstiefeln mit drei grossen Schnallen übereinander, als müsse sie wenigstens in ihnen Halt finden. Sie las von Menschen in Not, wie dem stillen Dichter Stoll, der in der Orangerie an der Kasse hinter der Theke sitzt und mit seinem Lächeln auf Besucher wartet. Stoll, der in seinem Schreibzimmer zuhause den einzigen Ort besitzt, in dem und für den es sich zu leben lohnt.
Die noch immer junge Anna Weidenholzer: In ihrem neusten Roman „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ erzählt sie von Karl. Karl fährt weg in einen Winterort ohne Schnee. Ein Mann, der nur forschen will und kann, sich auf dieser Reise ganz vom Zufall leiten lässt, davon überzeugt, dass es für alles und jedes mindestens zwei Möglichkeiten gibt. Bloss nicht für die Stimme in seinem Kopf, für die Stimme seiner Frau, die alles kommentiert, von der er stets weiss, wie und was sie sagen wird, wenn er etwas tun oder sagen will. Eine Stimme, die immer nur das „Richtige“ kennt. Anna Weidenholzer webt in ihren Roman Sätze, die haften bleiben, Sätze wie Schnappschüsse einer Meisterfotografin. Sätze, die klingen, Sätze, die man irgendwie kennt. Johannas Kehr bei Frédéric Zwicker, Stoll bei Franziska Gerstenberg und Karl bei Anna Weidenholzer; Männer, die zu verschwinden drohen.

„Wir leben in einer postheroischen Gesellschaft.“

Und dann noch Nico Bleutge, ein Dichter aus dem Norden, aus Berlin, den ein Stipendium nach Istanbul am Bosporus schickte, eine Stadt, die er bereits aus früheren Besuchen kennt, eine Stadt, in der es brennt. Eine Stadt zwischen Zeiten, Fronten und Kulturen. Nico Bleutge schreibt Lyrik in langen, farbigen Bändern, in „Nachts leuchten die Schiffe“ Wortgemälde mit Sicht auf die grossen Kähne, die durch die Meerenge ziehen. Auch wenn zu dieser Lesung in dem sonst gut besetzten „Raum für Literatur“ in der Hauptpost nur wenige Neugierige dem Dichter ihre Aufmerksamkeit schenkten, galten für mich diese 45 strahlenden Minuten als einer der Höhepunkte der diesjährigen St. Galler Literaturtage.
Was bleibt? Ich hörte zu und es taten sich Horizonte auf!
(Die eingefügten Zitate sind Fetzen eines sonst missratenen Literaturgesprächs zwischen Sabine Gruber, Jonas Lüscher und Andrea Gerster.)

Simone Meier «Fleisch», Kein & Aber

Fleisch. Allein das Wort schmerzt. Den Vegetatier, die Veganerin, den Magersüchtigen, die Übergewichtige, den Enthaltsamen, die Yogalehrerin. Anna und Max, durch aus einmal mit viel Sympathie verbunden, vor Jahrzehnten zusammen in die Schule gegangen, sind auch über 40 noch ein Paar. Ein Paar? Max ist «Begleitfreund»! Anna mit Bürojob im Kulturbetrieb, Max Lehrer.

Eine Beziehung als Zweckgemeinschaft, totgelaufen, ausgeluscht. Beide an dem Punkt, an dem das Altern und alles, was sicht- und unsichtbar dazugehört, nicht mehr zu leugnen ist. Zwei irgendwie lebensmüde Grossstadtjunkies, deren grösstes Problem die eigene, aufgeblasene Existenz ist, die Sorge um den nächsten Augenblick, vor allem darum, weil sie mit fortschreitendem Alter nicht weniger oft in den Spiegel schauen. Fleisch. Während Annas Kurven unkontrolliert zu schwellen drohen, isst sie mit ihrem schwulen Freund Fleisch, in ausgesuchten Lokalen, mit Verstand! Und nun, über der Mitte des Lebens, mit der Frage, ob es das nun gewesen sei, bricht sie noch einmal aus; die Lust, wirklich zu leben, Max zu entlassen. Während Anna sich in die junge Lilly verliebt, die in einer Bar serviert, Anna Stunden dort verbringt, um von ihr bedient zu werden, beschliesst der entsorgte Max, nicht mehr auf das zu verzichten, von dem es bisher nur in Massen gab. Auch Fleisch. Er lernt Charly kennen, eigentlich Sue, die ausgerechnet mit Lilly in der gleichen WG wohnt. Die Lage spitzt sich zu.

Simone Meier hat ein rotzfreches Buch geschrieben, dessen Titel in vielerlei Hinsicht zum Roman passt. «Fleisch», der zweite Roman von Simone Meier, ist ein «Sittenroman» – beschreibt die Ängste auf sich selbst Losgelassener. Eine Welt, in der Beruf und Familie längst nicht mehr die Stützpfeiler für Glück und Zufriedenheit sind, wo einmal unumstösslich scheinende Strukturen wie «Familie» aufbrechen und längst bröckeln. Wie bei Lillys Bruder Jonas, den die Eltern der Schwester vor die Tür setzen, weil sie nicht mehr die Kraft haben, dem Vierzehnjährigen die Stirn zu bieten, um nicht endgültig vom Räderwerk des Dorfklatschs überfahren zu werden.
«Fleisch» ist ein schamloses Buch, geschliffen geschrieben, von einer Autorin, die ihrem Roman ordentlich Fett einschmiert. Ein Buch wie «Foie gras» – würzig, dekadent und nicht wirklich gesund.

Simone Meier, geboren 1970 in Lausanne, ist Autorin und Journalistin – früher bei der «Wochenzeitung» und beim «Tages-Anzeiger», heute bei «watson» – in Zürich. Sie hat diverse Preise und Stipendien gewonnen. Ihr Romanerstling «Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben» erschien im Jahr 2000. Simone Meier lebt glücklich von Liebe, Fleisch und Fernsehen. Und vom Schreiben.

Simone Meier – watson

Bild: Sandra Kottonau

Max Küng «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück», Kein & Aber

Lieber Max

Wir sassen auf dem Dach des Verlags Kein und Aber, zusammen mit deinem Verleger, deiner Lektorin, der Pressefrau, ein paar von den Printmedien und dir und deiner Frau. Das neue Buch „Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück“ lag neben Sandwiches, eingeschweisstem Salat und Petflaschen auf dem Tisch unter der ungewöhnlich heissen Spätsommersonne Zürichs. Das Buch, dein neuer Roman, war flügge!

Am Schluss, kurz bevor ich mit heisser Glatze das Dach verliess, schriebst du „I hope you like it“ aufs Vorsatzpapier deines Zweitlings. Ich verabschiedete mich und begann noch im Zug zurück nach Amriswil mit der Lektüre.

Yes, I like it! Ich wünsche deinem Buch viele LeserInnen, nicht nur weil es die Neugierde der Menschen stillt, die wie ich so gerne wissen, was hinter all den Fassaden steckt. Auch nicht nur darum, weil es in der CH-Literaturszene fast konkurrenzlos scheint, was Witz und Biss angeht. Sondern weil es überrascht, wenn auch nicht bis zur allerletzten Seite. Wer nach der Ankündigung auf dem Buchdeckel einen Hausbesetzerroman oder den Kampfroman gegen den aus dem Ruder laufenden Immobilienmarkt erwartet, mag enttäuscht sein. Aber wer dein Motto: „Wir wissen nichts über unsere Nachbaren. Das ist gut so. Wenigstens im richtigen Leben“, liest und weiss, wie gerne du mit scharfer Zunge kommentierst, der kommt auf seine Kosten. Und nicht weil du scharf machst, was fade ist. Du kannst auch feine Töne zelebrieren, ganz leise, pastell, um dann die nächste Pointe umso lauter platzen zu lassen.

img_0150An der Zürcher Lienhardstrasse 7 (braucht man nicht zu googlen) bekommen alle fünf Parteien auf fünf Stockwerken die An-Kündigung. Das filigrane Biotop eines Mehrfamilienhauses von Spekulation, Toleranz, Weghören und Heimlichkeiten ist nicht nur bedroht, sondern die einzelnen Spezies werden genötigt, ihre Distanziertheit, mit der man sonst doch so gut fährt, für den Kampf beiseite zu legen. Und mir als Leser, der zusammen mit dir als Schöpfer in ein offenes Puppenhaus blicken kann, offenbaren sich nicht nur Einsichten, sondern genauso viele Abgründe, von denen mich schon meine Eltern mit dem Satz „Was andere Leute tun und denken, geht uns nichts an“ zu schützen versuchten.

Im Erdgeschoss wohnt der Fahrradeinsiedler Vischer, zusammen mit seinen Drahteseln im Dunst von Schostakowitsch und Kriechöl. Ein wortkarger Sonderling, dessen einziges Ziel es scheint, alle 127 Pässe der Schweiz mit seinen Fahrrädern abzuklappern. Im ersten Stock Gutjahrs, er eine selbstverliebte TV- Grösse, ein Opportunist, ständig paarungsbereit, weit weg von seiner Familie, seiner Frau, die hadert mit Vergangenheit und Gegenwart. Im zweiten Stock Paola und Fabio, glücklich kinderlos, sie Journalistin, er Immobilienheini, beide blind und geil, sie nach der ultimativen Enthüllungsstory, er nach dem grossen Geschäft und der ultimativen Wette. Im dritten Stock Virginia mit ihrer pubertierenden Tochter Cosima. Virginia, verlassen nicht nur von ihrem Mann, sondern allzuoft von guten Geistern, wenn sie nachzuholen versucht, was ihr ihr Mutterunglück während Jahren entzog. Und oben unterm Dach Delphine, eine Kunststudentin auf der Suche nach dem Nichts und Empfangsdame im Fitnesscenter Mangenta.

Da liegt Zündstoff. Und du zündelst mit Wonne. Ich spüre das Vergnügen, dass das Schreiben dir gemacht haben muss. Sonst schreibst du Kolumnen im Tagesanzeiger Magazin. Eine gute Schule für den scharfen Blick. Den spürt man auch im Roman, jenen für die kleinen Dinge, den Blick dahinter, in Gegenden, wos wehtun kann, für den Schauenden und den Beobachteten, mit einem gehörigen und erfrischenden Schuss Respektlosigkeit. Falls empfindliche Stadtzürcher, Politgrössen wie Toni Brunner oder Redaktionsmenschen aus Bildchenzeitschriften den Roman angewidert und mit erhöhtem Puls weglegen, verstehe ich das gut und amüsiere mich doppelt.

Was ich jetzt schon weiss: „Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück“ ist ein Buch, das man hören sollte. Ich freue mich, wenn ich im dunklen Zuhörerraum sitzen werde und deiner Stimme lauschen kann!

Liebe Grüsse
Gallus

Max Küng liest
am 22. November in Luzern, Neubad
am 23. November in Basel
und am 1. Dezember in Stuttgart, Merlin

e8451401b40c7b16dfe666f193741db3Max Küng, geboren 1969 in Maisprach bei Basel, besuchte nach der Ausbildung zum Computer-Programmierer die Ringier Journalistenschule. Seit 1999 ist er Reporter und Kolumnist beim «Magazin» des «Tages-Anzeigers». Neben diversen Musikkompositionen und Veröffentlichungen erschien zuletzt sein erfolgreicher Roman «Wir kennen uns doch kaum» bei Rowohlt. Max Küng lebt seit 2005 in Zürich, ist verheiratet und Vater zweier Kinder.

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Bastian Asdonk «Mitten im Land», Kein & Aber

«Es ist erstaunlich, wie sehr der Geist dem Körper folgt. Man glaubt, der Verstand herrsche über das Empfinden, aber wenn ich jeden Muskel spüre und dabei sehe, was ich kraft meines eigenen Körpers erschaffen habe, bin ich glücklich.»

Bei einer «Spritztour» mit seiner Freundin entdeckt der Erzähler ein leer stehendes Haus an einem kleinen See, bleibt daran hängen und kauft es, um künftig als Selbstversorger darin zu leben. Ein Städter eben. Asthma- und allergiegeplagt macht er sich an seine neue Aufgabe, befreit das Haus von seiner Kruste, setzt Gemüse, badet im See und versucht sich vorsichtig den Dorfbewohnern anzunähern, dem einzigen Wirt, dem Baulöwen und Bürgermeister, dem bärbeissigen Nachbarn mit seinem debilen Sohn und am offensivsten Maja, der Kassiererin im Supermarkt. Maja ist die einzige, die er 0804_Asdonk_Mittenimland_farbemit einer Charmeoffensive schlussendlich bis zu seinem neuen Zuhause lockt, denn sonst bleibt ihm, dem Städter, das Dorf fern. Er, der das Leben in der Metropole satt hat, der dem dauernden Stress und Konkurrenzkampf, dem Neid und der Gier entfliehen will. Das von ihm erschaffene Idyll ist bedroht, zum einen von Zeichen, wie dem Hakenkreuz aus Kornblumen mitten im Feld oder einer Versammlung von «aggressiv gebärenden Nazifuchteln» im einzigen Gasthaus. Jeder hat Angst vor dem Anderen, er vor dem rechten Mob, die ewig Gestrigen vor einer beginnenden Invasion von Stadtflüchtlingen, die das filigrane Ungleichgewicht auf dem Land destabilisieren könnten. Und als dann urplötzlich, nachdem Maja zum ersten Mal überraschend auftaucht und sich nicht ganz freiwillig zum Bleiben bringen lässt, ein Schlägertrupp auftaucht, Blut fliesst und alle Beteiligten knapp an der Katastrophe vorbei schrammen, droht der dünne Frieden in offenem Krieg auszuarten.

Bastian Asdonks Roman passt in die lange Reihe jener Bücher, die die ländliche «Landliebe»-Idylle genauso entlarven wie den naiven Glauben daran. In seinem Debüt baut der junge Autor gekonnt Spannung auf, auch wenn sie zuweilen absackt, wenn zu viel platte Ideologie Handlung und Dialoge belasten. Dabei kann ich mich als Leser durchaus mitfreuen über all die kleinen Siege im Garten vor dem Haus. Aber es ginge auch ohne den Schuss Ideologie, den mir Bastian Asdonk serviert. So bleibt ein aktueller Dorfroman mit explosivem Potential, eine schwierige Liebesgeschichte, gut erzählt, auch wenn sie zu viel auf der Strecke lässt. Zum Beispiel die Gründe, warum der vom Stadtleben Verbrämte, abgeschnitten von seinem alten Leben, sein Glück in einer neuen Existenz sucht. Sie bleiben im Dunkeln. Und weil dieses Dunkel unbeabsichtigt und als Leerstelle erscheint, fehlt mir trotz der angeregten Lektüre etwas. Fazit: Trotzdem lesenswert.

dbe7d386c8e9647c6e95481b452a5ef6Bastian Asdonk arbeitete nach einem Studium der Philosophie und Kommunikationswissenschaft zunächst als Fernseh- und Radioautor für den WDR und berät heute Medienunternehmen in Fragen der digitalen Transformation. Mit dem von ihm gegründeten Online-Portal Hyperbole TV gab er bei Kein & Aber bereits das Buch «Typisch! 155 unverblümte Antworten auf Vorurteile» heraus. «Mitten im Land» ist sein Debütroman. Bastian Asdonk lebt in Berlin.

Webseite Bastian Asdonk

(Bild: Sandra Kottonau, Güttingen, CH)