Die einen schwimmen auf, die andern versinken.

Lieber Bär

Wenige Tage bevor Jon Fosse der Nobelpreis zugesprochen wurde, moderierte ich in Zürich eine Lesung mit Judith Hermann. Vor der Veranstaltung standen wir in einem Büro unter dem Dach, die Veranstalterin, die Autorin und ich und unterhielten uns darüber, wer wohl dieses Jahr den angesehensten Literaturpreis erhalten würde. Ein Name, der prompt und schnell fiel, war der von Jon Fosse. Und nun, mit einem Mal, wie aus dem Nichts, ist der Name, der bisher ein Geheimtipp war, in aller Munde (zumindest bei denen, die lesen), jeder Verlag versucht sich eine Scheibe davon abzuschneiden und wenn man Literatursendungen hört oder schaut, scheinen jene, die irgendwann einmal mit dem Autor ein paar Worte wechseln konnten, etwas von der hehren Heiligkeit des einen mitbekommen zu haben.

Ich habe einiges von Jon Fosse gelesen. Und seit der Preisverleihung liegt jeweils ein Fosse auf meinem Nachttischchen. „Ohne Fosse geht der Gallus nie ins Bett.“ Ich schätze den Autor aus ganz vielen Gründen. Schon deshalb, weil Jon Fosse schreibt, wie es nur Jon Fosse tut, singulär, unabhängig von jeder Strömung oder Modeerscheinung. Seine Bücher sind wie lange Gebete, ohne dass sein überzeugter Katholizismus seinen Texten eine Denkrichtung vorgeben würde. Ich gönne den Verlagen die guten Verkaufszahlen. Ob Jon Fosse mit dem Preis glücklich wird, bezweifle ich.

Vor ein paar Wochen schrieb mir eine Schriftstellerin, die ich schon viele Jahre kenne, deren Bücher ich sehr schätze, mit der ich auch schon des öftern an einem Tisch sass und leidenschaftlich über Literatur diskutierte. Es war ein Brief voller Trauer, Enttäuschung und Bitterkeit. Jon Fosse und sie sind beide „alte Weise“. Beide schreiben vielfältig, auch wenn es mir schwer fällt, die beiden sonst zu vergleichen, weil ihr Schreiben so unterschiedlich ist. Aber während der eine auf einer Welle reitet, während man ihm mit ehrfurchtsvoller Ergebenheit begegnet, man ihn auf den literarischen Olymp hebt, droht sie im kollektiven Vergessen unterzugehen. Zu Lebzeiten. Noch immer schreibend. Ihre Bücher schwimmen nicht obenauf, sie wird kaum mehr zu Veranstaltungen eingeladen. Selbst bei ihrem Stammverlag ist keine Veröffentlichungen versprochen. Das nützen auch einmal errungene Ehrungen und Preise nichts. 

Ich durchforste zweimal im Jahr die Vorschauen all jener Verlage, deren Programm mich tendenziell interessieren. Verlage, die nicht wenigstens ein junges, hübsches Gesicht „verkaufen“ können, mit Romanen (und nur Romanen!), die mit angesagten, hippen Themen aufwarten, werden es schwierig haben. Am besten ein Debüt, das mit möglichst blumigen Vorschusslorbeeren behangen ist.

Ich konnte die Schriftstellerin, die mir geschrieben hatte, nicht trösten. Mit keiner Silbe. Was denkt der leidenschaftliche Leser und Buchhändler?

Liebe Grüsse

Dein Freund Gallus

***

Lieber Gallus

Du legst den Finger auf einen wunden Punkt des Literaturbetriebs und vielleicht des Kulturbetriebs insgesamt: Wer wird warum wahrgenommen, in den Medien, in der Buchhandlung, im Feuilleton? Wie allgemein im Leben, gibt es meines Erachtens leider keine Gerechtigkeit.

Der Brief der Autorin, von dem du schreibst, erschüttert mich, ist aber vielleicht auch charakteristisch für unsere heutige Gesellschaft. Leise und mit zarten Farben komponierte Werke haben es schwer. Wer wird zu Veranstaltungen eingeladen? Wer erscheint in den Feuilletons? Das Warum des Nichtbeachtetwerdens macht auch mich machtlos: Gibt es da Trost, lindernde Worte? Es braucht viel Kraft, trotz Gegenwind, den eigenen Weg beharrlich weiterzugehen. Hoffend, durch die Wahrnehmung durch und die Auseinandersetzung mit einer kleinen Leserschaft Sinn zu erhalten.

Du siehst, auch ich kann keine helfende Antwort finden. Ich bin aber überzeugt, dass gerade du mit deinem «Literaturblatt», ob analog oder digital, diese SchriftstellerInnen «auf Nebengeleisen» ans  Licht bringen und sie einem grösseren Publikum zugänglich machen kannst. Damit die Würdigung der geschriebenen Bücher die AutorInnen noch zu Lebzeiten erreicht.

Kürzlich traf ich einen auch pensionierten Arbeitskollegen im Buchladen. «Ich lese gerade einen Bestseller», meinte er, konnte mir aber weder den Titel noch den Autor nennen. Er war erstaunt, dass ihn das Buch trotz «Bestseller» nicht besonders gelungen dünkte. Schockierend für mich, aber für den heutigen Literaturbetrieb nicht ganz fremd!

«Bestseller» ist offenbar ein wichtiges Kriterium für viele. Gelegentlich lese auch ich einen «Bestseller», entferne aber den Kleber sofort, da dieser das Buch meines Erachtens entwertet. Natürlich kann ich das nur behaupten, da ich nicht Inhaber des Buchladens bin. Bücher müssen verkauft werden, der Literaturbetrieb ist ein grosses Geschäft. So viele von mir geschätzte und empfohlene AutorInnen bleiben im Laden liegen, ich als Buchhändler mit meinen Lieblingsbüchern würde finanziell nie überleben. Ich lese sehr gerne anspruchsvolle, anregende Bücher aus allen Zeitepochen, neben deutschsprachiger Literatur hauptsächlich auch Werke aus dem Osten.

Da sind wir wieder beim Thema: Was ist lesenswerte Literatur? Es gibt wunderbare Bücher, die sich gut verkaufen, aber auch sehr viele einzigartige Werke, die kaum jemand beachtet. Letzteres ist für die Betroffenen nicht einfach! Zudem gibt es im Frühjahr und im Herbst eine unüberschaubare Menge Neuerscheinungen. Wie entscheidet der Leser, was er kaufen beziehungsweise lesen will? 

Sicher kennst du das 1986 – 1991 geführte Gespräch zwischen Peter von Matt und Marcel Reich-Ranicki über den Literaturbetrieb. Dort steht: »Günstig für den Verkauf von Büchern ist nicht unbedingt die positive Kritik, sondern eine Plus/Minus-Spannung. Die daraus entstehende Polemik regt die Leserschaft an, das Buch selber zu lesen und zu überprüfen, wer recht hat». 

Gerade heute lese ich im «Tagi» über Maurice Zermatten und sein neu auf Deutsch erschienenes Buch «Der Kräuterarzt», 20 Jahre nach dessen Tod. 1970 brach wegen ihm der Schweizerische Schriftstellerverband auseinander und wurde die «Gruppe Olten» gegründet. Das nun vorliegende Buch ist ein Altersroman über die Erfahrung, der Realität nicht mehr zu entsprechen, von der Entwicklung überholt zu werden. Als Arzt und schon länger in Pension spricht mich das sehr an. Ich werde dir nach der Lektüre berichten. Hier geht es um posthume Würdigung. Was ist von bleibendem Wert? Von Otto F. Walther bis Kafka und Hohl gibt es immer wieder ansprechende Neuauflagen oder Neuentdeckungen, die vor dem Vergessen schützen. Beim Quereinsteiger Buchhandel, Modul Literaturgeschichte, haben viele jüngere Absolventinnen gestöhnt, die Beschäftigung mit der Vergangenheit sei viel zu ausführlich und heute nicht mehr nötig. Doch, finde ich, der Rückblick und die Auseinandersetzung mit Werken aus anderen Epochen bereichert mich sehr und ist ein wunderbarer Beitrag zum Verständnis der heutigen Bücherwelt. 

So kann ich nur hoffen, die (ver)zweifelnden AutorInnen erhalten trotz der oft lauten oberflächlichen Welt heute für sie bereichernde, anregende Lichtblicke.

Mit herzlichem Grüss

Bär

***

Ich lernte den Bären am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad kennen, an der literarischen Wanderung, die jeweils als Einstimmung organisiert wird. So trifft man sich Jahr für Jahr. Und weil man zusammen geht, entstehen Gespräche, die einen über Bücher und ihre ErschafferInnen, die anderen über Gott und die Welt – wobei in Büchern doch über nichts anderes geschrieben wird als über Gott und die Welt.

1500 Mal literaturblatt.ch – eine kleine, doch beherzte Würdigung, von Ruth Loosli

Gallus Frei ist nicht nur ein unermüdlicher Leser, sondern auch ein sorgfältiger und eigenwilliger. Er ist sich nie zu schade, auch unbekannten Stimmen eine Stimme zu geben, wenn er sich entschieden hat, ein neues Buch aufzuschlagen und es zu lesen.

Gallus Frei ist sich keines Genres zu fein: Wenn er sich zu eben diesem Buch entschließt, dann legt er es kaum weg, oder es wäre begründet, und das lässt er uns LeserInnen dann natürlich nicht wissen. Er ist ein Gentleman durch und durch, als Leser ebenso wie als Veranstalter und Moderator. Heisst, er ist immer fair und wohlwollend den SchriftstellerInnen gegenüber, ihm ist bewusst, dass sein Lesen, seine Einladungen und „Beurteilungen“ ein Gewicht haben.

Die Kritik des Germanisten interessiert ihn weniger, denn er ist kein Germanist – darauf weist er auch selbst gerne hin – sondern ein vorzüglicher und vielleicht darf man sagen, ein besessener Leser, wie es ihn vermutlich nur noch selten gibt.
Wer ein Buch – von Gallus besprochen – zur Hand nimmt, muss nicht seiner Meinung sein, lässt sich aber gerne von seiner Leseerfahrung mitnehmen und beeinflussen. Zudem gibt es sehr oft nachgehend ein Interview mit dem Autor, der Autorin, das ebenfalls manch Erhellendes zum Buch und zur Arbeit aufzeigen wird.

Von meiner Seite kommt ein übermütiger Dank und eine große Gratulation zu seinem 1500. Beitrag!
Sein 1500. Beitrag!
Man lasse diese Zahl auf sich wirken.
In diesem Sinne meine allergrößte Hochachtung.

Es grüsst eine befreundete Weggefährtin in Sachen Literatur Ende des Jahres 2023 mit den allerbesten Wünschen für sein weiteres Schaffen.
Ruth Loosli

Gallus Frei verabschiedet sich mit Gästen im Literaturhaus Thurgau

Und damit endet meine Intendanz am Literaturhaus Thurgau. Nicht weil es mit nicht gefallen hätte, weiterhin die verschiedensten Gäste ins schmucke Gottlieben am Seerhein einzuladen. Aber eine Amtszeit im Literaturhaus Thurgau ist stets zeitlich begrenzt und die Idee, mit jeder Neubesetzung frischen Wind ins Haus zu bringen, eine gute.

Mein Dank an die Bodman-Stiftung für das entgegengebrachte Vertrauen, den Geschäftsstellenleiterinnen der Stiftung Brigitte Conrad und Monika Fischer für die Zusammenarbeit, der Buchbinderin Sandra Merten für die Unterstützung, Sandra Kottonau für die in Freundschaft geschossenen Fotos. Ganz speziellen Dank gebührt Lea Le für all die Illustrationen, die meiner Intendanz ein eigenes Gesicht gaben.

«Lieber Gallus, während dreieinhalb Jahren hast du im Bodmanhaus ein ausserordentlich vielseitiges und spannendes Programm gestaltet. Du hast viele Autorinnen und Autoren eingeladen und das Publikum mit einer grossen Zahl von Büchern bekannt gemacht, die kennenzulernen sich jedes Mal lohnte. Zu Hilfe kam dir bei der Programmgestaltung deine enorme Belesenheit und deine grosse Neugier auf alles, was im Literaturbetrieb geschieht, auch dass du persönlich viele Autorinnen und Autoren kennst und mit vielen auch befreundet bist. Das alles konnte man beobachten in diesen dreieinhalb Jahren, und das Publikum hat davon profitiert. 
Zum Programmgestalten kamen dann auch die Moderationen deiner Veranstaltungen. Dank deiner Feinfühligkeit und Empathie sowohl den Autorinnen und Autoren als auch den Texten gegenüber ist es dir gelungen, jede Lesung zu einem interessanten Gesprächsanlass mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu machen, der dem Publikum den jeweiligen Text und die Autorin oder den Autor näherbrachten und zu neuen Einsichten führte. Der Besuch einer von dir moderierten Lesung hat sich immer gelohnt.

Du hast die Programmleitung in einer schwierigen Zeit übernommen. Kaum hast du angefangen, kam die Pandemie, was hiess, dass viele Veranstaltungen abgesagt oder umgeplant werden mussten. Das bedeutete viel Arbeit für dich, zum Teil auch vergebliche. Du hast dich aber nicht unterkriegen lassen. Nach der Pandemie wurde die Welt nicht besser, wie wir leider wissen. Da stellt sich die Frage, welchen Platz die Literatur in diesen Zeiten hat. Durch dein Programm hast du gezeigt, dass sie sehr wohl einen Platz hat, nicht nur in deinem Herzen oder im Bodmanhaus, sondern in der Welt – gerade auch dann, wenn diese aus den Fugen ist.
Für deine grosse Arbeit und dein Engagement für das Bodmanhaus danke ich dir im Namen des Stiftungsrats ganz herzlich. Ich freue mich darauf, dir bei weiteren Literaturveranstaltungen begegnen zu dürfen.» Lorenz Zubler, Präsident der Bodman-Stiftung

Meine Gäste an diesem Abend:

«Kalt war’s, und schön war’s. Wörter flogen auf, der Himmel segelte übers Wasser, das Ufer wurde unterspült, jemand bekam kaum Luft – Schreiben im Geborgenen, im Getriebenen. Darüber sprachen wir, und zum Glück hat Urs Faes all das gesagt, was ich vergaß zu sagen. Gallus Frei Tomic hat’s gebündelt und zu einem guten Ende zusammengeführt.» Alice Grünfelder 

«Durch tiefverschneites Land auf langen Umwegen zur Lesung (ein Abschied) gekommen. Atmosphäre über Fluss und Ort und unterm Dach: eine Musik, die trägt; Worte, Bücher, Gesichter, und noch einmal diese ganz besondere Stimmung, die Gallus schafft: so gerät man ins Gespräch, das tief und leicht zugleich ist, ein Abend, der unverwechselbar und erinnerungsdicht bleibt, eine nachklingende Freude.» Urs Faes

«Seit vielen Jahren sind Dominic Doppler am Schlagzeug und ich an den Saiten mit Gallus unterwegs. Unsere gemeinsame Liebe zum Geschichtenerzählen, sei dies in Worten oder mit Musik, verbindet uns. Der Verabschiedungsabend von Gallus in Gottlieben war wunderbar. Einmal mehr erlebten wir ihn als Menschenfreund, aufmerksamen Zuhörer und intelligenten Fragesteller. Durch seine Moderation erschliessen sich die gelesenen Texte in mehrdimensionaler Form. Das wir einmal mehr mit unserer Musik mit dabei sein durften, macht uns glücklich.» Christian Berger & Dominic Doppler

«Wir sind dir für die vielen Begegnung neben der einzigartigen literarisch-musikalischen Lesung in Gottlieben unendlich dankbar. Schwierig in Worte zu fassen, waren es doch tief beglückende Stunden, in denen alle Sinne angeregt wurden. Wir freuen uns, wenn du weiterhin als «Literaturblatt» am Bücherhimmel strahlst.» der Bär, ein Freund

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Das 65. Literaturblatt entsteht.

„Lieber Gallus Frei, was für ein sonderbar dickes Blatt Papier mit kleiner, dennoch gut lesbarer Handschrift drauf und einem Nachtfalter (?) – rätselhaft, aus der Zeit gefallen, und doch mitten in ihr drin, offenbar, denn die Titel und Autorennamen sind heutige…“ Matthias Zschokke

das 65. Literaturblatt

«Während das traditionelle Feuilleton nur noch in der Erinnerung an frühere Zeiten lebt, nimmt ein Literaturkenner aus der Ostschweiz den Begriff nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ganz neu beim Wort und stellt sich vehement gegen die zunehmende Bedeutungslosigkeit der klassischen literarischen Rezension. Fünf Mal im Jahr inszeniert Gallus Frei-Tomic handschriftlich vier konzise Rezensionen auf einem schlichten A4-Blatt, jeweils versehen mit einer zeichnerischen Illustration. – «Literaturblatt» nennt er die kalligrafischen Preziosen, und das Understatement ist nicht Koketterie, sondern Ausdruck einer Haltung: die besprochenen zeitgenössischen Werke sollen in den Fokus des literarischen Interesses gerückt werden – nicht der Rezensent. 65 Blätter sind über die Jahre entstanden, und immer wieder stellt Gallus Frei-Tomic neu unter Beweis, dass er nicht nur ein genauer und empathischer Leser ist, sondern auch ein feinsinniger, präziser Kritiker, dem es gelingt, in wenigen Sätzen den literarischen Kern eines Textes auf den Punkt zu bringen. Das klassische Feuilleton mag im Sterben liegen; das ganz persönliche Feuilleton von Gallus Frei-Tomic aber lebt. Und wie!» Andreas Neeser

„Du hattest mir Dein wunderbares Literaturblatt 64 geschickt – mit Matthias Zschokke, Andreas Neeser, Anna Ospelt, Milena Michiko Flasar – und einem roten Punkt! Ich kannte diese Serie noch gar nicht, musste mich erst ein bisschen informieren, habe gestaunt und nochmal gestaunt…“ A. Baradun, Rotpunkt

«Das Literaturblatt ist ein geflügeltes Wesen, das von Buch zu Buch fliegt, verweilt, verbindet und vernetzt. Danke, lieber Gallus, für deine so wertvolle Arbeit für die Literatur. Herzlich» Anna Ospelt

«Analoge» Literaturblätter abonnieren / literaturblatt.ch unterstützen

Sie schicken ihre Postanschrift an info[at]literaturblatt.ch und zahlen ein:

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

das 63. Literaturblatt

Kontoangaben: 
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil
CH05 8080 8002 7947 0833 6
ID (BC-Nr.): 80808
SWIFT-BIC: RAIFCH22

Seit Januar 2022 ist das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar prominenter Abonnement des Literaturblatts!

Ich lade Sie ein ins Literaturhaus Thurgau! 2. Dezember 18 Uhr!

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung im Literaturhaus Thurgau waren es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künstlerinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Autorenwohnung, die das literarische Leben im Bodmanhaus ausmachten. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten und Interessierten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein. Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen („Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“, u. a.) und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen bei Suhrkamp «Halt auf Verlangen» und «Untertags«. Urs Faes lebt in Zürich. Er nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren Projekten bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können. 

Datum: Samstag, 2. Dezember 2023
Zeit: 18.00 Uhr / Türöffnung 17.30 Uhr
Ort: Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 15.- regulär // CHF 10.- Freunde des Bodmanhauses // CHF 5.- in Ausbildung und KulturLegi

Hier zur Anmeldung!

Gallus Frei «Helfen Sie mir?», Plattform Gegenzauber

Ich war fünfzehn Minuten zu früh und sah ihn schon, als ich kam, über den kleinen Platz zwischen den Geleisen und dem Bahnhofsgebäude schwanken. Ein Mann, nicht viel älter als ich, mit kurzen Hosen, blossfüssig, nur halb in den Bund gestopftem Hemd und einer offenen Umhängetasche. Als der Zug in die Gegenrichtung eingefahren war und sich die Türen öffneten, torkelte er auf eine Tür zu, blieb aber wenige Zentimeter davor stehen, die Tür schloss sich und er blieb immer noch stehen, während der Zug direkt vor seiner Nase wegfuhr. Er stand da, mit den Zehenspitzen an der Kante, und schwankte. Bevor ich glaubte, er würde fallen und mich zu einer Rettungsaktion zwingen, taumelte er zurück und hockte sich auf die Bank neben mich. Er sagte nichts, obwohl er so nah bei mir sass, dass ich den Alkohol roch, ohne dass er in meine Richtung geschaut hätte. Er murmelte. Ich verstand ihn nicht.
„Fahren Sie auch?“, verstand ich schliesslich.
„Nein, ich warte auf eine Bekannte. Sie wird mit dem nächsten Zug einfahren.“
„Helfen sie mir?»
„Ihnen helfen? Wie kann ich ihnen helfen?“
Würde er mich um Geld anbetteln? Zum ersten Mal sah ich ihm ins Gesicht. Er war wohl ein paar Jahre jünger als ich. Sein rechtes Auge war rot und blau unterlaufen, ein Veilchen. Die Augenbrauen so, als wären sie tätowiert, die Haare im Nacken kurz, die Stirnhaare lang und verschwitzt bis tief in sein Gesicht. Eigentlich gar nicht das Gesicht eines Alkoholikers. Wäre er nüchtern gewesen, hätte ich ihn vielleicht als Künstler taxiert. Aber an dem Mann stimmte beim zweiten Bick einiges nicht. Seine Füsse waren zerschlagen, die Haut an den Knien aufgeschürft. Die Taschen seiner kurzen Hose nach aussen gestülpt, das Hemd bis zum Bauchnabel offen.
„Scheiss Alkohol“, sagte er mit einem Mal ganz deutlich. Dann ergoss sich ein längeres Gemurmel, als hätte er sich und mich im Selbstgespräch vergessen.
„Ich muss ins Spital“, verstand ich wieder.
„Besuchen sie dort jemanden?“, stellte ich mich dumm.
Er antwortete nicht, bewegte die Lippen.
„Können sie mir helfen?“ Er sah mich an, flehend und traurig.
„Klar helfe ich, wenn ich kann.“
„Ich muss in den Zug. Ich muss ins Spital. Scheiss Alkohol.“
„Aber ich kann sie nicht begleiten. Ich erwarte eine Bekannte.“
„Nein, bloss zum Zug, bloss einsteigen helfen. Der nächste Zug ist doch der Richtung Spital.“
„Ja. Ich helfe gerne.“
Es waren höchstens noch zwei, drei Minuten. Meine Bekannte und ich, wir hatten uns noch nie gesehen. Sie ist Schriftstellerin, ich ihr Leser. Sie besucht mich. Schon meine Situation war eigenartig genug, war ich es doch, der normalerweise zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern fährt. Der Mann neben mir nestelte in seiner Tasche, während sein linkes Knie nervös zitterte. Es zog eine Flasche aus seiner Umhängetasche, unzweifelhaft eine Schnapsflasche, drehte am Verschluss, setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen nicht enden wollenden Schluck. Es dauerte eine kleine Weile, bis er den Verschluss wieder drehte und die Flasche in der Tasche sinken liess.
„Scheiss Alkohol.“
„Wissen die Leute im Spital, dass sie kommen?“
„Ich muss von dem Zeug weg. Die helfen mir dort. Dort wird alles viel besser. Sie müssen mir nur helfen. Bis zum Zug, Einsteigen helfen. Helfen sie mir? Sie müssen mir helfen!“
Waren das Tränen in seinem glasigen Blick?
Da sassen auf einem sonst verlassenen Bahnhof zwei Männer nebeneinander auf einer Bank. Wäre jemand dazugekommen, hätte man meinen müssen, wir würden zusammengehören. Beide etwa gleich alt, beide mit blauer Tasche, der eine mit Schuhen, der andere blossfüssig.
Er sah mich an. Diesmal sagte er nichts. Als müsse er mit einem tiefen Blick prüfen, ob man meiner Hilfe trauen könne. Ich war mir nicht sicher, ob die Hilfe seiner Unentschlossenheit diente, oder seinem unsicheren Gang. Da sass einer, verfluchte den Alkohol, während er mit grossen Schlucken aus einer Schnapsflasche trank.
„Helfen sie mir?“
„Klar doch, ich helfe ihnen gerne. Der Zug muss jeden Moment einfahren. Wohnen sie hier?“
„Ich wohne hier. Ja, ich wohne hier. Aber ich muss zum Zug. Die warten auf mich.“
Was hätte ich sagen sollen? Hätte ich ihn ermuntern sollen? Was würde meine Bekannte denken, wenn ich ihr mit torkelnder Begleitung entgegenkäme? Ich hoffte, sie würde eine oder zwei Türen weiter dem Zug entsteigen, damit ich Zeit finden würde, den Blossfüssigen in den Zug zu buxieren, bevor es zur ersten wirklichen Begrüssung käme.
„Jetzt sieht man den Zug schon. Ich helfe ihnen.“ Er würde gleich aufstehen müssen, damit er die paar Meter bis zu einer Tür schaffen würde und ich seine nackten Füsse über die Schwelle schieben kann.
Und tatsächlich. Die blaue Tür blieb genau vor uns stehen. Meine Bekannte erkannte ich sofort über die Schulter des Betrunkenen. Ich sah, wie sich ihr Gesicht aufhellte, wie sie um den gebeugten Mann herumgehen wollte, um mich zu begrüssen. Es muss eigenartig ausgesehen haben, denn ich lächelte ihr bloss verlegen entgegen und sprach dem Mann zu, den ich am Oberarm gefasst hatte. Ich fühlte mich, als wäre ich für den Mann verantwortlich.
„Machen Sie’s gut“, sagte ich, ohne Anzeichen, dass er verstanden hatte.
Ich machte einen Schritt zurück, drehte mich um und begrüsste sie endlich.
So wie ich den einen aus den Augen verlor, nahm sie mich ein.

Gallus Frei, 1962 geboren in St. Gallen, Literaturvermittler, Veranstalter, Moderator, Herausgeber des von Hand geschriebenen und gestalteten Literaturblatts, Betreiber zweier Literaturwebseiten (literaurblatt.ch für Rezensionen, Berichte, Gastbeiträge und gegenzauber.literaturblatt.ch für literarische Gastbeiträge aller Art), Programmleiter des Literaturhauses Thurgau, Jurymitglied der SRF-Bestenliste, Blogpartner des Schweizer Buchpreises seit 2019.

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/10

Lieber Gallus

Die kriegerische Eskalation im Nahen Osten, die vielen anderen Kriegsherde auf der Welt und der Klimawandel einerseits, der Nobelpreis für Jon Fosse andererseits beschäftigen und verunsichern mich sehr. Einige Kritiker des diesjährigen Nobelpreises für Literatur bemängeln, Fosses Werk treffe den Zeitgeist nicht, beziehe sich nicht auf aktuelle Fragestellungen.
Hat Literatur eine Aufgabe? Hat Literatur einen Zweck? Kann Literatur beispielsweise zum Frieden beitragen?
2020 las ich mit Begeisterung «Apeirogon» von Colum Mc Cann. Was ist der Sinn dieses Buches voller Hoffnung in Anbetracht der heutigen Gewaltorgien um Israel?
Ich bin überzeugt, dass Literatur jenseits vom Weltgeschehen mir eindrückliche, anregende und tröstliche Erfahrungen ermöglicht, zu denen ich sonst nicht Zugang habe. Deren Sinn ist also für mich unbestritten. Fosses Heptalogie bereichert mein Innenleben und hat einen Tiefgang, eine Entschleunigung, die für unsere Welt gerade heute so wichtig sind. In der Musik vergleichbar mit einer Bruckner Sinfonie.
Wie denkst du darüber?

Sonnige Herbstgrüsse

Bär

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Lieber Bär

Kunst hat durchaus eine Aufgabe, auch wenn sich diese im Wandel der Zeit veränderte. Ich glaube, dass die Kunst die Aufgabe hat, Fragen zu stellen, unbescheidene, unbequeme, unverschämte, ungefragte. Fragen, die wir uns vielleicht nicht einmal trauen. Dekoration ist keine Kunst. Nett ist nicht Kunst. Aber sobald etwas es schafft, dass mein Innenleben in Schwingung kommt, in Schwingungen, die mich vielleicht sogar trunken machen, dann kann es Kunst sein.

Ich bin nicht der Meinung, dass Kunst ablenken und schon gar nicht bloss unterhalten soll. Klar kann mich ein Buch von vielem ablenken. Aber ich lese es nicht, um der Ablenkung Willen. Wenn SchriftstellerInnen und DichterInnen nur deshalb schreiben, weil sie mich unterhalten und ablenken wollen, bin ich mehr als skeptisch.

Christian Haller rüttelt an unser Vorstellung von Wahrnehmung, Demian Lienhard zeigt, was Opportunismus verursacht, Adam Schwarz konfrontiert mich mit einer düsteren Ahnung, Matthias Zschokke spielt Musik mit Instrumenten, die aus der Zeit gefallen scheinen und Sarah Elena Müller zieht mich mit einem unangenehmen Szenario in eine Welt, die beinah physischen Schmerz auslöst. Aber es sind bei diesen fünf Büchern weit mehr als die Themen, weit mehr als die Fragen, die gestellt und ausgelöst werden. Es ist die Sprache. Christian Haller schrieb mit: «Wenn in der opaken (undurchsichtigen, lichtundurchlässigen) Stoffmasse nach geduldigem Warten ein Prozess der Auskristallisierung beginnt, der das Was des Stoffes in das Wie der sprachlichen Ausformung transformiert, und zu einer Deckungsgleichheit zwischen Was und Wie führt, entsteht gute Literatur.»

Der Vorwurf der Medien, Jon Fosse treffe den Zeitgeist nicht, beziehe sich nicht auf aktuelle Fragestellungen, ist ein Witz. Soll sich ernsthafter Journalismus mit dem Zeitgeist auseinandersetzen, soll sich das Feuilleton den Aktualitäten zuwenden. Das von der Kunst zu fordern, ist kontraproduktiv und hereinnehmend. Die Kunst muss frei sein. Die Kunst gibt sich ihre Aufgabe selbst! Unbedingt.

Liebe Grüsse

Gallus

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Lieber Gallus

Deine Antwort auf die Frage nach der Aufgabe von Kunst hat mich überzeugt. Fragen zu stellen, auch unbescheidene und unverschämte, ist wichtiger, als einfache Lösungen zu präsentieren. Ein Sprach-Kunstwerk, ein gelungenes Buch zu erschaffen, macht gute Autorinnen und Autoren aus und lässt in Leserinnen und Lesern die unterschiedlichsten Saiten erklingen.

Ich muss weiterhin vom Schweizer Buchpreis abweichen. Meine Seele wurde durch Jon Fosses Heptalogie so stark in Schwingung versetzt, dass ich tatsächlich wort-trunken bin. Im fünften Buch spiegeln sich deine Aussagen über Kunst, wenn Asle in der einsamen kargen Wohnung seinem Hund in die Augen schaut: « so ähneln seine Augen der guten Kunst, denn auch die kann nichts sagen, nicht im eigentlichen Sinne, sie kann nur etwas anderes sagen und muss von dem, was sie eigentlich sagen will, schweigen und so sind Kunst und Glauben und das stumme Begreifen des Hundes ein und dasselbe».  In einem hypnotisierenden Sprachfluss von einzigartiger Schönheit werden unbequeme, das Mensch-Sein ergründende Fragen gestellt. Der Protagonist ist Kunstmaler, seine Gedanken gelten aber auch für die Literatur: «es ist, als ob es irgendwo in mir ein Bild gäbe, mein innerstes Bild, das ich immer und immer wieder hervorzumalen versuche, und je näher ich diesem Bild komme, desto besser wird das Bild, das ich male, aber das innerste Bild ist ja natürlich kein Bild, denn das innerste Bild gibt es nicht, es existiert nur irgendwie, ohne zu existieren, es ist, aber ist nicht»  

Der Leser, die Leserin begibt sich auf die Suche nach dem Sinn unseres Daseins. Hier ist meines Erachtens die Deckungsgleichheit zwischen Was und Wie gelungen und die Sprache in dem Sinn vollendet, wie Christian Haller dir geschrieben hat.

Zurück zum Schweizer Buchpreis muss ich gestehen, dass Demian Lienhards Buch mich nicht begeistert hat. Ich hatte mich auf das Buch gefreut, da ich von «Mr. Goebbels Jazz Band» im 2.Weltkrieg nichts wusste. Irgendwie wurden die Saiten in mir nicht in Schwingung versetzt, ich musste mich durchringen. Die Sprache empfand ich als sperrig und holprig, von den Personen hat mich nur Wilhelm Fröhlich, alias William Joyce gepackt. Die Geschichte dieser Band ist für mich zu farblos, die Ungeheuerlichkeit einer Jazz Band als Propaganda und Ueberlebensmöglichkeit in Einem zu wenig spürbar. Diesem so gut recherchiertem Buch hätte ich etwas mehr Atmosphäre und Musikalität gewünscht.

Vielleicht liegt es daran, dass ich es zwischen zwei Büchern von Fosse gelesen habe?

Trotz meiner Kritik bin ich über die Lektüre von «Mr.Goebbels Jazz Band» froh, da es aufzeigt, was Propaganda mit Menschen machen kann.

Bald wissen wir, wer von den fünf Nominierten den Schweizer Buchpreis erhalten wird. Bis dann freue ich mich auf Lesungen und Begegnungen verschiedenster Art.

Herzliche Grüsse

Bär

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/07

Lieber Bär

Vor ein paar Tagen bekam ich eine Mail von einem Stammgast im Literaturhaus Thurgau, „meinem Literaturhaus“. Vorauszuschicken ist, dass ich nur ganz selten schriftliche Reaktionen auf die von mir organisierten Lesungen erhalte. Unter den seltenen finden sich von grossem Zuspruch bis direkter, unverblümter Kritik alles. Das riskiere ich gerne, zumal ich nicht nur die grossen Namen einlade. Aber die Mail letzthin beschäftige mich doch etwas mehr: „Der Stoff … eine super Idee, geradezu kafkaesk, aber die Sprache sehr enttäuschend, auf Niveau Trivialliteratur, also wenig kunstvoll, wenig originell, wenig geistreich. Ist das wirklich gute (hohe) Literatur? Ich habe meine Zweifel.“

Bei den fünf Nominierten bin ich mir sicher, dass sie viel mehr sind als trivial. Auch wenn dahingestellt ist, dass „trivial“ ein schlechter Stempel sein muss. Was macht „hohe“ Literatur aus? Gibt es Anhaltspunkte, woran man gute Literatur erkennt? Ich habe alle Nominierten um ein kurzes Statement gefragt, was für sie „gute Literatur“ ist. Sarah Elena Müller, die Autorin von „Bild ohne Mädchen“, schrieb: „Gute Literatur ist für mich erweiterte Erfahrung, und Erfahrung ist dann wertvoll, wenn sie über das Gute und Schlechte hinausweist, in einen Raum führt, wo Sicherheit nicht durch Kategorien, sondern durch Verschränkung hergestellt wird.“ Ein erstaunliches Statement schon deshalb, weil es weit über formale und sprachliche Massstäbe hinausweist und bewusst macht, wieviel mehr Literatur sein kann und muss, als blosse Unterhaltung.

Sarah Elena Müllers Roman macht ihr Statement mehr als deutlich. Ich mag an diesem Buch die Provokation, sei sie thematisch, inhlatlich oder sprachlich. Der Text knirscht zwischen den Zähnen und will alles andere als flutschen. Aber natürlich gibt es viele Leserinnen und Leser, die sich mit ihrer Lektüre nicht in unsicheres Terrain wagen wollen. Ich erinnere mich an einen Freund, der meinte, er hätte in seiner Freizeit keine Lust, sich mit „fremden“ Problemen herumzuschlagen.

Liebe Grüsse und knirschende Lektüre!

Gallus

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Lieber Gallus

Apropos «Knirschen» in der Literatur: Dank deinem Besuch in unserer Buchhandlung letzte Woche war und bin ich gerade in grossartiger, sinnlicher und nicht knirschender Literatur unterwegs. 

Dein Tipp Maja Haderlap! Nach eurem Verlassen des Bücherladens hatte ich etwas Zeit und begann «Nachtfrauen» zu lesen, war sofort mit der Protagonistin Mira in Kärnten unterwegs und wurde durch eintretende Kunden arg aufgeschreckt!
Was für eindringliche wortgewaltige Sätze! Diese Literatur macht süchtig! Gut, dass die Autorin nicht jedes Jahr ein Buch schreibt!

«Sie war auf einmal voll Schlaf, in dem verschwommen ihre Kindheit lag, verstellt von den Jahren, die sich dazwischen geschoben hatten. Mira war es, als glitte sie in einen Traum, den sie stets von neuem träumte, in der Hoffnung, dass er endlich aufhörte…. So schnell konnte sie gar nicht denken, wie sie von den Gerüchen und Schattierungen der Kindheitsgegend erfasst und mitgerissen wurde.»

Diese Sätze knirschen nicht, sie duften!

Was zeichnet gute Literatur aus? fragst du. Wie Sarah Müller dir geantwortet hat, geniesse auch ich es, beim Lesen in einen unbekannten Raum, in eine unbegrenzte Zeit geführt zu werden, wo mir Gewagtes, Unerwartetes, Einzigartiges, Schockierendes oder auch Trauriges begegnen. So entstehen eindrückliche Bilder in mir, anstelle von Farben mit Worten gemalt, menschliches Sein in seinen bunten Facetten.

Für mich darf es «Knirschen», wenn es zum Inhalt passt. Ich liebe besonders  sinnliche, duftende, winddurchwehte Texte, Spiegelungen in Raum und Zeit.

Beispiele sind:
«Die Welt, die es noch nicht gibt und die, die in der von Danijel erzählten Geschichte vor unseren Augen entstehen wird, ist von einer Stille vom Himmel zur Erde durchdrungen. In diese Welt kommt eine Geschichte, die auf so festen Fundamenten wie der Erinnerung und der Phantasie eines Kindes beruht.» («Als die Welt entstand» von Drago Jancar)

Und:
«Als der Morgen über der Stadt erwachte, erwachte er tief in den Häusern, und nichts drang bislang heraus auf die Gassen und Plätze. Der Zug stürmte aus der Nacht herbei, und stürzte sich in den entstehenden Tag, rasch wird er den Mittag umfahren und sich in den Nachmittag neigen. Die Strecke zog sich teuflisch hin.» («Die Verweigerung der Wehmut» von Florjan Lipus)

Sprachlich und inhaltlich unterschiedlich ist das für mich Literatur von starker Ausdruckskraft und eigenständigem Charakter. Dies macht meines Erachtens ihre hohe Qualität aus. Sofort entsteht ein unvergleichlicher Raum, eine packende Atmosphäre.
Dies setzt voraus, dass ich ein Buch nicht nur zur Entspannung lese, sondern mich offen auf die Reise zum Kern des Werkes aufmache.

Seit ich als Hausarzt pensioniert bin, kann ich neben der aktuellen Belletristik  auch von mir noch nicht gelesene Klassiker wie «Der grüne Heinrich» (Gottfried Keller) oder «Der Jüngling» (Dostojewskij), um nur zwei Beispiele zu nennen besser geniessen, da ich auch tags lesen kann. 

Nun sind wir vom Schweizer Buchpreis abgekommen, der Auftritt von Demian Lienhards «Mr.Goebbels Jazz Band» muss noch etwas warten, ich bin sehr gespannt, ob dieses Buch fetzt und grooved! 

Ich freue mich auf unsere baldige Begegnung, wo Lyrik uns möglicherweise verwirren und anregen wird!

Herzliche Grüsse

Bär

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/04

Lieber Bär

Ein Schriftsteller schrieb mir, die Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2023 würde BuchhändlerInnen wohl keine Freude machen. Keine Bestseller, keine grossen Namen, die in aller Munde sind, so wie Martin Suter oder Lukas Bärfuss. Das kann ich nur schwer beurteilen, da ich mich derart tief in der Szene bewege, dass ich längst nicht mehr beurteilen kann, wer es in den Mainstream schafft, was zum Verkaufshit wird. Du hast den norwegischen Grossmeister Jon Fosse erwähnt. Jon Fosse ist ein Fixstern am Literaturhimmel und trotzdem kennt ihn fast niemand, zumindest hierzulande. Sicher findet man seine Bücher kaum in einem Bookshop am Flughafen oder in den Regalen mit den Bestsellern. Aber Verkaufszahlen sind kein Qualitätsmerkmal.

Keine Ahnung ob Lukas Bärfuss oder Martin Suter enttäuscht darüber sind, dass sie nicht auf der Liste der Nominierten zu finden sind. Ich kenne sehr wohl SchriftstellerInnen, die einen schwelenden Schmerz mit sich herumtragen, dass sie noch nie auf dieser Liste erschienen. Aber vielleicht ist das gar nicht die Intension einer Jury, die im Auftrag des Schweizer Buchhandels und Verlagsverbands nach dem „besten Buch“ sucht. Dafür gibt es ganz andere Preise, deren PreisträgerInnenlisten viel schwergewichtiger sind, als die des noch jungen Schweizer Buchpreises.

Aber, um auf die nominierten Bücher zurückzukommen, da ist doch kein Buch auf der Liste der Nominierten, über das man die Stirne runzeln oder gar den Kopf schütteln müsste. „Sich lichtende Nebel“ ist ein philosophisch durchsetztes Sprachkunstwerk, „Mr. Goebbels Jazzband“ ein Sprache gewordenes Musikabenteuer, „Bild ohne Mädchen“ ein tiefgründiger Tauchgang in menschliche Abgründe, „Glitsch“ ein waghalsiges Experiment zwischen Alptraum und fellinischer Fantasie und „Der graue Peter“ eine Sprachperle mit dunklem Glanz.

Du arbeitest an einem Tag in der Woche in einer Buchhandlung. Ist der Schweizer Buchpreis ein laues Lüftchen oder wie stark bläst der Wind? Auch wenn Du in die nähere Vergangenheit schaust.

Liebgruss
Gallus

Schweizer-Buchpreis-Rezension von «Der graue Peter» von Matthias Zschokke erscheint am 24. September!

Lieber Gallus

Ich arbeite in einer kleinen Buchhandlung, und mein Bärenfell wird durch die Nominierten zum Schweizer Buchpreis nicht durcheinandergewirbelt. Der Wind weht aus Erfahrung der letzten Jahre eher lau. Immerhin erwarte ich dieses Jahr eine stärkere Brise, da mich alle fünf Nominierten ansprechen und ich alle fünf Bücher lesen werde (vier davon bereits mit Genuss!). 2022 war die Situation anders, weniger harmonisch.

Sofort mitnehmend und sehr berührend war für mich aktuell «Der graue Peter» von Matthias Zschokke, dies nach der Lektüre von Jon Fosse «Der andere Name», was sich erstaunlich gut angefügt hat. Die Erzählung der Erlebnisse des Mannes  mit dem fehlenden Empfindungschromosom hat in mir tiefe Emotionen und nachhaltige Gedanken ausgelöst. Ein Stern, der auch stark leuchtet am Literaturhimmel. 

Ganz anders «Glitsch» von Adam Schwarz, einem mir bisher unbekannten Erzähltalent. Wenn der Protagonist auf der Suche nach seiner Freundin immer tiefer in das arktische Kreuzfahrtsschiff hinuntersteigt, erleben wir eine hochspannende, tiefgründige Liebesgeschichte und die irrwitzige Absurdität einer Schifffahrtgemeinschaft in einer wunderbar frischen Sprache.

2022 hat Kim de l`Horizon mit seinem Blutbuch mich durch Lektüre und dann die Auszeichnung stark durchgeschüttelt. Ist der Doppelpreis in Anbetracht der anderen, auch nicht nominierten Bücher gerechtfertigt? Auch bei uns wurde das Buch gut verkauft. Von den übrigen Nominierten konnte nur Thomas Hürlimann diesem Preisträger bezüglich Verkauf die Stange halten. Damals wie heute werfen Preise für mich Fragen auf: Welche Bücher sind lesenswert? Was zeichnet gute Literatur aus? Welche AutorInnen sprechen mich an? Welche kann ich wem empfehlen? Eine kleine Buchhandlung braucht natürlich auch Bestseller, um überleben zu können. Neben dem Inhalt sind auch die Ausstattung und besonders das Cover meines Erachtens für den Verkauf wichtig. Das haptische Moment spielt gerade bei den Büchern eine grosse Rolle. 

Trotzdem finden literarisch wertvolle Bücher oft keinen Weg zu einer Leserin, einem Leser. Auch Lyrik ist bezüglich Verkauf bei uns ein Stiefkind. Hat es schon einmal einen Schweizer Buchpreis für einen Gedichtsband gegeben? Immerhin waren bei der Preisträgerin Martina Clavadetscher die «Knochenlieder» dabei.

Die Orientierung unter den unzähligen Neuerscheinungen ist für mich als Senior-Bär im Buchladen ebenso schwierig wie Honig zu finden im Winter. Ich liebe «leise» Autorinnen und Autoren, beispielsweise aus der Schweiz: Lukas Maisel, Anna Ospelt, Leta Semadeni und Urs Faes, um nur einige wenige zu nennen. Bei der Wahl hilft mir dein wunderbar gestaltetes und inhaltlich unschlagbares »literaturblatt» neben den Literaturartikeln in den Medien. Entscheidend sind auch immer wieder persönliche Begegnungen anlässlich von Lesungen und Literaturfestivals.

NB: Neben der Schweizer Literatur interessieren mich seit Jahren Autorinnen und Autoren aus dem Osten, beispielsweise aus der Ukraine, aus Russland, Bulgarien und Rumänien. Darüber vielleicht ein andermal.

Liebe Grüsse

Bär 

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Die erste Einsendungen, die mit einer Mail oder über «Kontakt» einen Kommentar (mit Erlaubnis, diesen zu veröffentlichen!) zu «Der graue Peter» von Matthias Zschokke einsendet, bekommt von mir ein signiertes Exemplar des Romans per Post zugesandt. Allerdings brauche ich dafür eine Postanschrift!
Gallus Frei

 

Teebeutel, Weißkohl und Champignons, Mücken, Servietten und Seife, Krähen, Mais und Tomaten, Melde und Giersch – Jan Wagner im Literaturhaus Thurgau

Jan Wagner ist Institution. Jan Wagner ist eine Säule im HeldenInnensaal der deutschsprachigen Lyrik. 1971 in Hamburg geboren scheint sich sein Leben schon im Studium ganz auf die Sprache, auf die Lyrik ausgerichtet zu haben, als wäre es ein Plan des Schicksals gewesen, aus dem jungen Studenten damals dereinst einen grossen Dichter zu machen.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten als freier Schriftsteller, reiht er Buch an Buch, ob Lyrik oder Prosa, Übersetzungen oder Essay, ob als Dichter oder Herausgeber – niemand, dem Lyrik wichtig ist, wird an Jan Wagner in irgend einer Form vorbeikommen.
Spätestens mit seinem Gedichtband „Regentonnenvariationen“, mit dem er 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt und sich viele die Augen rieben, weil da ein Lyriker mit einem Gedichtband den Preis entgegennahm, wo man eigentlich eher Namen von RomanautorInnen erwartet hätte, ist Jan Wagner in den Olymp der Dichter aufgestiegen. Und weil Jan Wagner zwei Jahre danach auch noch den Georg-Büchner-Preis entgegennehmen durfte, den wahrscheinlich bedeutendsten Preis im deutschsprachigen Raum, scheint es für das was kommen kann, keine Grenzen mehr zu geben.

Dass Jan Wagner die Reise nach Gottlieben unter die Räder nahm, freute nicht nur Heike Brandstädter, meine Mitmoderatorin, Literaturwissenschaftlerin aus Konstanz, und mich ausserordentlich. Es ehrt auch das kleine Literaturhaus am Seerhein. Ich bin sicher, dass der Geist Emanuel von Bodmans, der fast 40 Jahre in diesen Mauern wirkte und vor bald 80 Jahren in diesen Mauern starb, irgendwo im Gebälk dieses ehrwürdigen Hauses mit andächtiger Freude dem Mann zuhörte, der uns einen ganzen Strauss seiner Kunst mitgebrachte. Einem Mann, der es in der Elbphilharmonie in Hamburg schaffte, einen ganzen Saal in Bann zu schlagen und uns hier im beschaulich kleinen Gottlieben mit seinen Gedichten beglückte.

Dass das Literaturhaus die Lesung zu dritt bestritt, nämlich zusammen mit Dr. Heike Brandstädter, war nicht zum ersten Mal ein Glücksfall für das Haus. Sie schafft es, die Welt, das Schaffen des Dichters mit klaren Strichen zu skizzieren und in ihren Fragen, die im Gegensatz zu den meinigen, die stets aus dem Bauch gestellt sind, das notwendige Gewicht zu geben.

Als Jan Wagner zu dichten begann, waren seine Gedichte etwas Neues – heute sind sie unverwechselbar. Er lehrte uns die Wahrnehmung der kleinen Dinge – Dinge, die niemand meint, in den Blick nehmen zu müssen: Teebeutel, Weißkohl und Champignons, Mücken, Servietten und Seife, Krähen, Mais und Tomaten, Melde und Giersch. Auch wenn das eine oder das andere in Gedichten anderer Autor*innen vorkommt, nimmt Jan Wagner sich seine Gegenstände doch so konsequent und systematisch vor, dass man von einem Kaleidoskop sprechen könnte: es geht darum, die schöne Form zu sehen, aber auch das Wesenhafte, das Verwandte, das Assoziierte, auch das Widerständige aus dieser Form herauszuschälen.

Hunderte von Gedichten sind auf diese Weise entstanden.
Ob Natur, Personen oder Dinge: Jan Wagners Gedichte sind nicht nur berühmt dafür, etwas minutiös zu destillieren, sondern durch ihre Beschreibung zugleich etwas anderes zur Darstellung zu bringen. Indem er sich vollständig auf seinen Gegenstand einläßt, kann im kleinsten Fall eine faszinierende, poetische Geschichte entstehen, oft aber zugleich eine übergeordnete Idee oder ein zugrunde liegendes Prinzip erscheinen.
In dem Gedicht „Giersch“, also der Beschreibung eines wuchernden Krauts, könnte man zum Beispiel etwas Aufständisches beschrieben finden oder auch das Subversive oder auch das Prinzip jeder Ideologie, insofern sie ausufert und Alleinherrschaft beansprucht. Diese Richtung: vom kleinen Objekt auf eine übergeordnete Idee oder Struktur – genau so herum und nicht anders – ist geradezu ein Motiv seiner Dichtung. In den Worten Jan Wagners: „Wer ansetzt, ein Gedicht über das Thema ‚Freiheit‘ zu schreiben, mag scheitern. Wer sich ganz auf einen fallen gelassenen weißen Handschuh im Rinnstein konzentriert, wird vielleicht ein großartiges Gedicht über die Freiheit zustande bringen.“

Es ist also das Kleine, das Unscheinbare, auch das Abseitige, Fallen-Gelassene, Periphere, das Jan Wagner aufgreift, verfremdet und uns dadurch Großes über Welt und Gesellschaft, über Politisches und Kulturelles, nicht zuletzt über Wahrheit und Schönheit zu erzählen vermag. Aber so schön sie oft sind, seine Klangwunder und Sprachspiele – sie sind nicht stromlinienförmig, idyllisch oder gefällig. Unter der glatten Oberfäche blitzt immer auch etwas Verstörendes, Bissiges, Finsteres auf. Und: sein virtuoses Spiel mit der Sprache hat immer auch einen Gegenpart, nämlich die strenge Form. Gottfried Benn hat einmal gesagt: „..nicht das Inhaltliche, sondern die Form ist das Eigentliche an einem Gedicht.“ Die strengen Formen der Gedichte Jan Wagners stammen aus Antike und Klassik, aus Orient und Okzident: Haiku und Ghasel, Hymne, Ode und Elegie, Anagramm und Sonett. Oft werden diese Formen bereits mit dem Titel verraten: elegie für einen lateinlehrer, requiem für einen friseur, kleiner krähenhymnus, krähenghasele, angel-ode, selbstporträt mit bienenschwarm.

Neben die strengen Formen der Dichtkunst treten mit dem Requiem, dem Porträt auch Formen der Musik und der bildenden Kunst. Ein Gedicht ist dann auch ein Musikstück oder ein Gemälde. Ein wenig furchteinflößend sind sie immer, solche Formen, scheinen sie sich doch an Gebildete zu richten. Aber: Jan Wagner setzt sie mit einem Augenzwinkern, er setzt sie spielerisch ein – und vielleicht wählt er sie sogar, um sie im Spiel zu unterlaufen.

Das Motto für das aktuelle Programm des Literaturhauses Thurgau stammt von Jan Wagner: „Das Wunderbare am Schreiben ist, dass man reisen kann, ohne das Haus verlassen zu müssen.“ Dieses Bonmot kann man in zweifacher Weise abändern, nämlich im Sinne des Lesens wie auch des Vorlesens. Es lautet dann: Das Wunderbare am Lesen wie auch am Vorlesen ist, dass man reisen kann, ohne das Haus verlassen zu müssen. Dr. Heike Brandstädter

«Noch sitze ich auf dem prachtvollen Holzbalkon des Gästezimmers mitten zwischen den Baumkronen, auf dem ich gestern Nacht, rauchte ich noch, stundenlang hätte rauchen mögen, und trinke einen Kaffee, ergänzt durch ein ofenwarmes Gipfeli aus dem hübschen Laden nebenan. Dauerhaft Wärme spendete allerdings Eure Gastfreundschaft, der herzliche Empfang, der von Euch gestaltete und rundum beglückende Abend; ein bißchen von diesem Wärme- und Wohlgefühl hoffe ich gen Norden, nach Berlin retten zu können.» Jan Wagner am Morgen nach der Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau