Frédéric Zwicker «Songtexte», Plattform Gegenzauber

Ich möchte eine Ente sein

Was willst du werden, wenn du mal gross bist?
Und was soll nachher aus dir werden
Was willst du werden, wenn du mal tot bist
Weisst du, wir müssen alle sterben

Zum Glück gibt es die Buddhisten
Dank denen sind wir bald wieder hier
Man kann so ein Menschendasein schon mal fristen
Lieber wär ich ein anderes Tier

Schwimmen, tauchen, fliegen und ein Haus am See
Ich möchte eine Ente sein
Entenfrauen lieben, bis ich untergeh
Ich möchte eine Ente sein

Hast du schon mal einem Stockentenweibchen so richtig tief in ihre Augen geschaut
Kannst du mir sagen, du hättest da deinen Gefühlen und Augen zu glauben getraut
Bei Entenschnäbeln und Entenbrüsten ist es im Nu um mich gescheh’n
Sowas Erotisches habe ich im ganzen Menschen und Tierreich noch nicht geseh’n

Schwimmen, tauchen, fliegen und ein Haus am See
Ich möchte eine Ente sein
Entenfrauen lieben bis ich untergeh
Ich möchte eine Ente sein

 

Hey Mond

Hey Mond – Hey Mond

Hey Mond, mach doch nicht so ein Gesicht
Da heulen ja die Wölfe, wenn sie dich sehen
Die Kinder geh’n ins Bett
Wo sie schreien oder sich schlafend stell’n

Langeweile ist manchmal sicher ein Grund
Dass Mensch sich schwertut

Als Mond ist man mal Sichel, mal rund
Kein Grund für Schwermu
Denk mal an die USA,
Kriege, Aids, Malaria

Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht
Auf dem Mond gibt’s sowas nicht

Ich säh dich gern bei Tag, doch du tanzt in der Nacht
Du hast deine ganz eigene Anziehungskraft
Warum du dein Licht unter den Scheffel stellst, weiss ich nicht
Wer von innen strahlt, glänzt im besten Licht
Wer von innen strahlt, glänzt im besten Licht

Kommende Auftritte:

Samstag, 21. Mai, Hekto Super Schaufenster-Session II, Esperanto Store, Tiefenaustrasse 2, Rapperswil SG

Donnerstag, 26. Mai, Insel Lützelau

Freitag, 10. Juni, Restaurant Bären, Marktgasse 9, Rapperswil SG

Samstag, 2. juli, Zeughausfest, Schönbodenstrasse 1, Rapperswil-Jona

Freitag, 2. September, Lottis Festival, Villa Grünfels und ZAK Jona SG

leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, aufgewachsen in Rapperswil-Jona am Zürichsee, wo er heute wieder lebt. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. 2006 gründete er die Band ‹Knuts Koffer›. Aktuell tourt er neben seinem Schreiben als Leadsänger von ‹Hekto Super›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. Sein Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche, sein aktueller «Radost» 2020 bei Zytglogge.

Es rockt im Literaturhaus, am Sommerfest!

Ob Bodman- oder
Literaturhaus, es bleibt
Gott lieb, ganz sicher!
(Heiku von Klaus Merz zum 20-Jahr-Jubiläum des Literaturhauses Thurgau)

Frédéric Zwickers Roman «Radost» ist ein Roadtripp zwischen den Welten. Zwischen der Kleinräumigkeit der Schweiz, der Verlorenheit Sansibars und dem Zauber einer Kulturstadt wie Zagreb. Fabian, ein arbeitslos gewordener Journalist, soll die Biografie von Max schreiben, eines Mannes, den er auf einer seiner Reisen an die Küste Afrikas kennenlernte, dem er wahrschiedlich das Leben rettete, dem er nach Jahren wiederbegegnet und ihm verrät, wie sehr er Gefangener einer Familie und einer Krankheit ist. Fabian beginnt zu schreiben, zu recherchieren, macht sich auf, bei sich und auf dem Rad bis nach Zagreb, auf den Spuren eines Mannes, der ihm immer mehr zum Freund und Spiegel wird.

Frédéric Zwicker brachte aber viel mehr als seinen neuen Roman mit ans Sommerfest in den Garten des Literaturhauses. Seit einem Jahr rockt «Hekto Super» zu den Texten Frédéric Zwickers, zuvor noch unter dem Namen «Knuts Koffer«, lange kroatisch und nun deutsch. «Verzwickte Lyrics mit Ohrwurm-Potenzial, getragen von treibenden Beats, einer Prise Retro-Synthie, knackigen Gitarrenriffs und Bass mit ordentlich Fuzz.» Hinter «Hekto Super» stecken neben Frédéric Zwicker (Gitarre und Gesang), Christoph Bucher (Bass) und die Brüder Florian (Schlagzeug und Gesang) und Tobias Vogler (Keyboard und Gesang). Gemeinsam haben sie mit ihren bisherigen Bands und Projekten tausende Kilometer im Tourbus zurückgelegt, die Bühnen Europas bespielt und über zehn Alben veröffentlicht. Nach vierzehn Jahren mit «Knuts Koffer» bricht mit «Hekto Super» für den Rapperswiler Autor und Musiker Frédéric Zwicker und seine Mitmusiker ein neues Kapitel an.

«Sommerfest hiess es, Sommerfest war es. Eitel Sonnenschein, im Garten Musik, feiner Wein, gutes Essen, gut gelaunte Gäste (auch die Mücken, die sich ganz besonders für das reichhaltige Buffet zu begeistern wussten), bezauberndes «Personal». Herzlichen Dank an Brigitte, Gallus, Karl und alle anderen Beteiligten für einen zauberhaften Abend. Ich wusste von einem früheren Besuch, dass das Bodmanhaus – oder Literaturhaus Thurgau – in Gottlieben ein besonders literarisches Plätzchen ist. Die Qualität des Abends war deshalb nicht überraschend, nur höchst erfreulich. Mit Ausnahme des Spital-Intermezzos unseres tapferen Bassisten genossen wir ein wunderbares Sommerfest. Und auch für mich als Lesenden waren sowohl das Publikum als auch die Moderation durch Gallus auf höchstem Niveau mehr als zufriedenstellend. Herzlichen Dank für die Gastfreundschaft!» Frédéric Zwicker

Aus der Rede:
«Als ich vor einem Jahr hier im Garten zum ersten Mal zum traditionellen Sommerfest begrüsste, schien das ärgste dieser langen Krise, in der wir uns auch ein Jahr danach noch befinden, ausgestanden. Es kam ganz anders. Vier Monate war es im Literaturhaus still. Noch im Dezember, bei der letzten Veranstaltung vor der zeitweiligen Stilllegung, schrieb Joachim Zelter nach seiner Lesung im Literaturhaus: «Ganz Europa befindet sich in einem Corona bedingten Lockdown. Ganz Europa? Nein, ein kleiner Ort am Bodensee lässt sich von keinem Virus der Welt einschüchtern oder unterkriegen und hält fest an der Unverzichtbarkeit lebendiger Autor:innen und lebendiger Zuhörer:innen in den Hallen des Literaturhauses Thurgau, die dort – Corona zum Trotz – sehnsüchtig aufeinandertreffen. Es ist eine Insel des gesprochenen/gehörten Wortes in einem verstummten Ozean.»

Der Geist des Literaturhauses wirkte auch in der Stille. Der Geist eines Ortes, an dem man sich bald wieder begegnete und begegnet; die Kunst den Geniesser:innen, die Literatur den Leser:innen, Klang, Wort und Bild allen offenen Herzen. Man machte mir zwar zwischendurch Mut, mich auch auf die digitale Schiene du begeben, Streaming-Lesungen zu organisieren, den Betrieb zu digitalisieren. Aber das war und sollte das Ding all jener Institutionen bleiben, die ein Budget zur notwendigen Professionalität aufzubringen in der Lage sind.

Das Literaturhaus Thurgau ist trotz aller Einschränkungen ein Bollwerk gegen die Verkleinerung der Welt geblieben. Wer Zeitungen liest, wer Medien konsumiert, muss irgendwann das Gefühl bekommen, die Welt sei auf einige wenige Themen eingeschmolzen. Und um eben diesem Gefühl entgegenzuwirken, braucht es Orte wie dieses Haus, die der Literatur eine Stimme geben. Denn Literatur macht Türen auf, Türen nach Innen und nach Aussen, ins Kleine und ins Grosse. Betrachten Sie das neue Bibliotheksregal im Literaturhaus, das ich zusammen mit Sandra Merten und meinem Sohn bauen durfte. Literatur ist so vielfältig wie die Farben ihrer Buchrücken. Hinter jeder Farbe steckt eine Offenbarung.

Bis vor einem Jahr war ich immer nur Besucher in Literaturhäusern, von Stans bis Hamburg. Aber Literaturhäuser, ob klein oder gross, innovativ oder traditionell, sind viel mehr als Veranstaltungsorte, Hüllen für Lesungen, Ausstellungen oder Konzerte. Literaturhäuser sind Brutstätten. Wissen Sie, dass Peter Stamm vieles aus seinem neuen Roman «Das Archiv der Gefühle» in den Mauern dieses Hauses schrieb? Peter Stamm ist Mitte September Gast im Literaturhaus und wird seine Schweizer Buchtaufe seines Romans hier feiern. Wissen Sie, dass Dorothee Elmiger, die mit ihrem letzten Buch «Aus der Zuckerfabrik», mit dem sie auf der Shortlist des Deutsch Buchpreises stand, hier im zweiten Stock in der Gäste- und Schreibwohnung in und an ihrem Werk arbeitete? Das Literaturhaus Thurgau ist seit Jahrzehnten von Sprache, Schrift und Wort durchtränkt, vom Erdgeschoss, der Werkstatt der Handbuchbinderei von Sandra Merten bis hinauf unters Dach zum Veranstaltungsraum, wo heute Frédéric Zwicker aus seinem Roman «Radost» lesen wird und der Autor selbst als Leadsänger seiner Band «Hekto Super» beweist, dass literarische Texte auch rocken können.

Zudem sehen Sie im Haus auch immer wieder die gezeichneten und signierten Porträts all jener, die im vergangenen Jahr im oder auf Einladung des Literaturhauses Thurgau gelesen haben. Zeichnungen der jungen Illustratorin Lea Frei. Zeichnungen, die aus meiner Sicht repräsentieren, was in einem kleinen Literaturhaus zum Wesentlichen wird; Wir können nicht mit Quantität überzeugen, nicht einmal mit Ausgewogenheit, schon gar nicht mit grossen Namen, die die Massen mobilisieren. Aber wir versuchen sowohl Sie, unsere Gäste, wie auch alle Künstler:innen, die in diesem Haus auf irgend eine ihr eigene Weise zu wirken wissen, mit Nähe, Freundschaft und Herzlichkeit zu begegnen. Die Illustrationen von Lea Frei sind so einzigartig wie das Literaturhaus selbst.

Dass ich als Intendant den Takt dieses Hauses so sehr mitbestimmen kann, freut und ehrt mich sehr. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Zufriedenheit und Euphorie jede der vergangenen Veranstaltungen erwirken konnte. Nicht nur bei mir natürlich! Dass ein solches Schiff seine Segel setzen kann, braucht es viel mehr als einen Steuermann. Die eigentliche Kapitänin auf diesem Schiff ist seit mehr als zwanzig Jahren Brigitte Conrad. Kein Kapitän, der auf der Brücke steht und schreit, sondern ein Kapitän, der sich in seine Koje im Stillen über Pläne und Berechnungen beugt und nie den Kurs verliert, selbst dann, wenn Gegenwind bläst oder Flaute herrscht. Ich danke Brigitte Conrad von ganzem Herzen, nicht nur in meinem Namen, sondern im Namen aller, denen das Literaturhaus Thurgau über die Jahre zu einem Stück Welt geworden ist.

Ich bedanke mich bei der Bodman-Stiftung, bei der Kulturstiftung unseres Kantons, beim Kulturamt. Ich bedanke mich bei Sandra Merten, die neben der Handbuchbinderei auch die Webseite betreut, Gäste empfängt und immer und immer wieder mit anpackt.

Das Literaturhaus Thurgau bleibt im Sinne Klaus Merz hoffentlich noch lange Gott lieb!»

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Sommerfest mit Frédéric Zwicker, seinem Roman «Radost» und seine Band «Hekto Super»

Fabian verliert seinen Job bei einer Lokalzeitung. Und weil ihm der Zufall eine Reise schenkt, macht er sich mehrfach auf; zweimal an den Strand von Sansibar und viel länger als beabsichtigt nach Zagreb, einer Stadt, die ihn aufnimmt und ihm etwas schenkt, was in seinem Städtchen zuhause nicht erreichbar schien. Frédéric Zwickers zweiter Roman „Radost“ berührt!


Fabian gewinnt eher zufällig einen Weihnachtswettbewerb: Einen Flug nach Sansibar und sechs Nächte Unterkunft im Hotel Emerson Spice in Stone Town. Fabian fliegt hin, weil es eine Schande gewesen wäre, das Geschenk in den Wind zu schlagen und weil er Mahmut, seinen Nachhilfeschüler nicht enttäuschen wollte, der für ihn beim Wettbewerb mitgemacht hatte.
 In Sansibar am Strand lernt er einen aufdringlichen, lauten Landsmann kennen. Einen Schweizer im Massai-Kostüm, mit Kurzschwert an der Hüfte und langem, dünnen Gehstab. Es bleibt nicht die einzige Begegnung zwischen Fabian und Max, dem auf- und abgedrehten Landsmann am Stand. Fabian rettet ihm wahrscheinlich sogar das Leben, denn der «weisse Massai» bleibt nach zwei Messerstichen im Sand liegen.
Jahre später, nach einem Konzert von Johan, Maxens Bruder, treffen sich die beiden wieder im „Ochsen“ und Max schlägt ihm vor, nachdem Fabian eine durchaus erfolgreiche Reportage über ihn, den seltsamen Landsmann geschrieben hatte, eine Biographie über ihn zu schreiben. Fabian ahnt, dass er sich in eine wirre Geschichte hineinziehen lassen könnte, lehnt vorerst ab. Aber nachdem seine Stelle in einer Lokalzeitung nach der Fusion mit einer andern Lokalzeitung den „Synergien“ zum Opfer fällt, wird aus dem schnell abgelehnten Angebot ein Rettungsanker. Max stammt aus reichem Haus! Sein Vater war Besitzer einer kleinen aber feinen Privatbank!

Frédéric Zwicker «Radost», Zytglogge, 2020, 288 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-7296-5055-8

Max ist nicht irgend ein Max. Max tritt auch nicht einfach so als weisser Massai am Stand von Sansibar auf. Max ist ein Getriebener, ein von einer Krankheit Gebeutelter: Er leidet unter schizoaffektiven Störungen, macht sich in manischen Phasen zum Narren. Max erklärt: „Es kommt mir vor, als gingen die Menschen in unserer Gesellschaft alle gradeaus, mit ausgestreckten Speeren. Wenn jemand aus dem Trott fällt, stehen bleibt oder die Richtung wechselt, wird er aufgespiesst.“ Das ist seine positive Sicht. Doch Max endet des öftern im Abseits; auf dem Polizeiposten, im Gefängnis oder in der Klinik. Und weil sich Max durch das Suchen und Finden eines anderen Klärung in seinem Leben verspricht, soll Fabian sein Biograph sein, Nachforschungen darüber anstellen, was in jenen Zeiten geschah, als das Leben von Max aufgespiesst wurde.

Fabian bekommt Geld, Kontaktdaten, Adressen und macht sich auf, weil auch sein eigenes Leben aus Tritt und Trott gefallen ist, auf die Spurensuche eines seltsamen Zeit- und Artgenossen. Zurück ins reiche Elternhaus, ins Nobelinternat in St. Gallen, seinen ersten Emanzipationsversuchen. Schlussendlich wird daraus eine Radtour über Kärnten bis nach Zagreb und wieder zurück an den Stand von Sansibar, wo zwei Messerstiche beinahe das Ende bedeutet hätten.

Fabian macht sich auf, weil ihn die Reise lockt, das Abenteuer, die Spur, das Fremde. Diese eine verrückte Radost nach Zagreb, für mehrere Monate weich finanziert in einer Stadt, die er bisher nur mit Trainerhosentypen verband und  für ihn wie damals für Max zur Offenbarung wird. Er, dem es bisher nicht leicht fiel, Freundschaften zu schliessen, wird Teil einer ganzen Klicke, lernt Ana kennen, taucht ein in fremde Leben, erfasst immer mehr von Mad Max, macht eine Reise; eine Reise für Max, die dieser nicht zu tun vermag, eine Reise für sich, weg aus seinen starren Banden und eine Reise in die Welt – über Zagreb bis nach Sansibar.

„Radost“ heisst auf kroatisch „Freude“. Und es macht Freude, in Frédéric Zwickers zweiten Roman einzusteigen, um sich eine Reise lang in seinen Windschatten zu begeben. Wie schon in seinem Debüt „Hier können Sie im Kreis gehen“ erzählt Frédéric Zwicker witzig und pointenreich. „Radost“ löst die Rätsel um Max nicht. Max bleibt ein Rätsel, so wie letztlich alle Rätsel bleiben, selbst die nächsten, selbst jene, an die man sich verliert. Frédéric Zwickers Reise ist nicht überfrachtet, bleibt behutsam. Wer erfahren will, erfährt unweigerlich auch vieles über sich selbst. Wer aufbricht, gewinnt immer, wenn auch nicht dort, wo man sich den Gewinn erhofft.

Interview mit Frédéric Zwicker:

Dass es Sansibar und Zagreb sein müssen, scheint alles andere als zufällig. Ich weiss, dass es dich vor allem musikalisch in den vergangenen Jahren immer wieder nach Zagreb gezogen hat. Aber warum Sansibar? Liegt es an der Magie des Namens, der, zumindest für mich, Sehnsucht suggeriert?

Im Jahr 2013 war ich für einen sechsmonatigen Arbeits- und Reiseaufenthalt im östlichen und südlichen Afrika unterwegs. Zwei Wochen verbrachte ich auf Sansibar. Dort hörte ich die Geschichte der falschen Massai, also jener Männer, die keine Massai sind, sich aber als solche verkleiden, um erfolgreicher im Souvenir- und im Sextourismus-Geschäft zu sein. Diese Geschichte ging mir nicht mehr aus dem Kopf und wurde zur Initialzündung für «Radost».
Sansibar steht für mich in gewisser Weise stellvertretend für die Erfahrungen, die ich während meiner Afrika-Reise in sechs verschiedenen Ländern machte. Meine Vorstellungen und Vorurteile zerschellten täglich an den Realitäten, denen ich begegnete. Da liegt für mich die Parallele zu Zagreb und zu Ex-Jugoslawien. Auch dort zeigte die intensive Auseinandersetzung mit Menschen und Kultur bald, dass mein Balkan-Bild völlig klischiert und verzerrt gewesen war.
Die Magie des Namens, wie du es nennst, spielte aber durchaus auch eine Rolle. Ich wollte sie einem kritischen Blick unterziehen und schauen, was am Ende davon übrigbleibt.

Max beauftragt Fabian, über ihn eine Biographie zu schreiben. Max ist aber weder uralt noch berühmt. Er braucht diesen Text wahrscheinlich nur, weil er sich selbst verstehen will, sein Leben, seine Krankheit, seine Aussetzer, das, was er durch sein Tun auslöste und bewirkte. Und Max hat Geld. Ist dein Schreiben auch der Auftrag an dich, dein eigenes Leben besser zu verstehen? Eine Art Sicht von „aussen“?

Nein. Mir geht es beim Schreiben nicht um mich, auch wenn der Einfluss, den ich mit meinem Denken und Fühlen auf meine Texte habe, natürlich gross ist. Aber umgekehrt ist das auch der Fall. Ich bin für die Arbeit an „Radost“ mit dem Velo von Rapperswil nach Zagreb gefahren, habe dort ein halbes Jahr, auf Sansibar fünf Wochen gelebt und gearbeitet. Das hätte ich nicht getan, wenn ich nicht dieses Buch hätte schreiben wollen. Mein Leben beeinflusst also mein Schreiben, mein Schreiben aber auch mein Leben. Durchs Schreiben lerne ich so durchaus sehr viel über mich. Das ist aber nur da und dort das, was am Ende zwischen den Buchdeckeln steht.

Das „Städtchen“ hier und Zagreb dort. Das eine Rapperswil, das andere eine Metropole. Was hat das eine, was dem andern fehlt?

Zuerst eine Parallele: In beiden Städten gibt es Menschen, die sich für eine vielfältige, kritische Kultur interessieren und einsetzen. Und da wie dort gibt es politischen Widerstand gegen zu viel Lebendigkeit. Aber in Zagreb ist das kulturelle Angebot viel reichhaltiger als hier. Es gibt dort mehr Freiräume, auch wenn sich meine Freunde in Zagreb darüber beklagen, dass diese ständig schrumpfen. Ebenfalls ein Unterschied: In Rapperswil sind fast alle Häuserfassaden makellos. Zagreb bröckelt vielerorts. Könnte es sein, dass die Fassade in der Schweiz generell wichtiger ist als in Ländern, wo die Wirtschaft nicht gar so tonangebend ist?

Ist Max erfunden oder ein Zusammenzug verschiedenster Charakteren? Oder steckt in dieser nur schwer fassbaren Person gar ein Spiegelbild?

Max ist inspiriert von einem Freund von mir. Der war nie in Sansibar und hat Zagreb das erste Mal gesehen, als er mich dort besucht hat. Auch seine Familiengeschichte, wie sie im Buch dargestellt ist, ist frei erfunden. Aber im Kern ist Max› Biographie, die Fabian im Buch recherchiert und aufschreibt, eine wahre Geschichte.
 

Max passt nicht in die von unserer Gesellschaft vorgegebenen Schemen. Zumindest dann nicht, wenn ihn seine Krankheit packt und Dinge tun und sagen lässt, die sich allen Konventionen entziehen. Dabei tragen doch die meisten Menschen die Lust mit sich, aus Konventionen auszusteigen, sei es auch nur für einen kurzen Moment, alle Hemmungen zu verlieren. Wie sehr rüttelt diese Lust an dir? Ist deine Musik ein Ventil dafür?

Der Ausbruch aus der Norm ist etwas, was mich schon in meiner Kindheit antrieb. In der ersten Klasse sang ich dem Samichlaus vor versammelter Klasse eine Version von „Was isch das für es Liechtli“ vor, bei der der Samichlaus am Ende stirbt. Der Lehrer rief meine Mutter an und klagte, ich hätte etwas wahnsinnig Schlimmes gemacht. Sie dachte an sexuellen Missbrauch oder schwere Körperverletzung und konnte das Lachen knapp unterdrücken, als er ihr erzählte, was passiert war. Solche Geschichten gibt es viele. Und ja, meine Musik und die Auftritte auf der Bühne sind sicher auch von der Lust am Unkonventionellen und auch an der Hemmungslosigkeit geprägt. Allerdings bin ich in den letzten Jahren viel ruhiger geworden. Mein Interesse am Unkonventionellen ist aber unvermindert gross.

Welcher Buchtitel lässt dich warum nicht los? Welcher Song?

Das kann ich eigentlich unmöglich beantworten, weil es von beidem zu viele gibt. Aber wenn ich ein Buch nennen müsste, wäre es wohl «Frederick“ von Leo Lionni. Ich habe das Bilderbuch über die Maus, die keine Nüsse, dafür Farben und Wörter sammelt und Geschichten erzählt, zur Taufe geschenkt gekriegt. Wundersamerweise wurde es mir ein wenig zur Biographie.

Und ich entscheide mich für den Song „Ovaj ples dame biraju“ der wohl berühmtesten jugoslawischen Rockband „Bijelo Dugme“. Das war eines der ersten jugoslawischen Lieder, die ich hörte. Später befasste ich mich intensiv mit der Musik Ex-Jugoslawiens. Es lohnt sich sehr, das Musikvideo zum Song auf Youtube anzuschauen.

Frédéric Zwicker als Bandmitglied von «Hekto Super» mit «Kleine Männer»

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, aufgewachsen in Rapperswil-Jona am Zürichsee, wo er heute wieder lebt. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. 2006 gründete er die Band ‹Knuts Koffer›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. Sein Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche.

Rezension von «Hier können Sie im Kreis gehen» auf literaturblatt.ch

Wort – Laut und Luise, Lechts und Rinks 2017

Die 9. St. Galler Literaturtage WORTLAUT 2017 sind Erinnerung. Laute und leise Töne mit wenig und viel Publikum. Markige Sprüche, freche Zeichnungen, durchscheinende Lyrik und rundum Gespräche über Bücher und Literatur, Text und Kontur. Aber was blieb in Erinnerung? Was hat bewegt?

„Warum ist die Welt in Büchern nicht eine bessere als in der wirklichen Welt?“

Mein ganz persönliches literarisches Jahr beginnt mit den St. Galler Literaturtagen – jedes Jahr. Im Vorsommer dann die Solothurner Literaturtage, die Nabelschau der CH-Literatur und im Sommer dann das Literaturfestival in Leukerbad mit einem literarischen Blick weit über die Landesgrenzen hinaus. Es sind aber wie in jedem Bücher- und Literaturfest nicht so sehr die Bücher, die mich locken, sondern die Schöpferinnen und Schöpfer selbst. Vor allem jene, bei denen ich spüre, wie neugierig sie sind, was ihre Bücher mit mir machen.

„Warum hat die Literatur so viel Lust, den Antihelden scheitern zu lassen?“

Die diesjährigen Literaturtage begannen in der Provinz, mit einer Prologlesung des jungen Schriftstellers und Journalisten Frédéric Zwicker im Kulturforum Amriswil. Der Autor las aus seinem ersten Roman „Hier können sie im Kreis gehen“, der Geschichte des 91jährigen Johannes Kehr, der sich im Altersheim hinter einer vorgetäuschten Demenz vor den Menschen versteckt. Sein ernst zu nehmender Roman über den letzten Lebensabschnitt vieler Menschen, den man aber gerne verdrängt, mit dem man sich selbst meist erst kurz davor und nur ungerne auseinandersetzt. Die Geschichte eines alten Mannes, die erklären soll, warum sich jemand hinter einer vorgespielten Demenz vom Leben distanzieren will. Ein Unterfangen, das mit Bedacht und Vorbereitung angegangen werden muss, wenn Kehr sich nicht durch die Wirkung eines Medikaments oder einer unglücklichen Äusserung verraten will. Ein Abenteuer, das ihm ungeahnte Freiheiten eröffnet, weil niemand, nicht einmal seine Enkelin, deren Foto er seine Geschichte erzählt, sein Doppelleben erahnt. Eine Lesung, ein Gespräch, das sich mit vielen wichtigen Fragen auseinandersetzte; Was tun, wenn einem nichts mehr am Leben hält? Wie viel Freiheit braucht der Mensch, selbst dann, wenn er unberechenbar wird?

„Literatur mag Personal, das etwas riskiert.“

Bei der offiziellen Eröffnungsveranstaltung las Max Küng, bekannt durch seine Kolumnen im Tages-Anzeiger Magazin, ein letztes Mal aus seinem Roman „Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück“. Ein Roman darüber, was hinter der Fassade eines Zürcher Stadthauses passiert, wenn alle im Haus gleichzeitig die Kündigung ihres Mietverhältnisses zugeschickt bekommen. Max Küng ist gewiefter Beobachter, Journalist und Schriftsteller. Max Küng tut, was er wirklich kann. Er blickt mit dem Brennglas auf Grossstadtmenschen, Menschen, die nur dort leben können, bunte Kampffische im Aquarium. Ganz offensichtlich verlief die Dernière mehr nach den Vorstellungen des Autors als die Buchtaufe im vergangenen Herbst auf dem Dach seines Zürcher Verlags. Damals ass man Biosandwiches unmittelbar unter der Sonne, ein kleiner Haufen. Das Buch kam unter all den Kulturlöwen kaum zu Wort.

„Figuren die allzu positiv besetzt sind, interessieren die Literatur nicht.“

Und am Samstag, dem eigentlichen Haupttag des Festivals, waren es nicht die grossen Namen, die mich überzeugten. Dafür umso mehr jene, die es verstehen, aus Beobachtungen fein ziselierte Literatur zu schaffen. Die noch junge Franziska Gerstenberg, die über ihrem Erzählband „So lange her, schon gar nicht mehr wahr“ sagt: „Die Figuren sind alle ich, mit allen Fragen, allen Zweifeln.“ Sie gehe langsam vor, versuche sich psychologisch anzunähern, hineinzuhören, nicht auszuleuchten, nicht gewillt einer Pointe nachzurennen. Es reize sie, die Perspektive zu wechseln und sich nicht wie bei Romanen über Jahre mit dem gleichen Personal herumschlagen zu müssen. Franziska Gerstenberg , zierlich, fast zerbrechlich, las in Lederstiefeln mit drei grossen Schnallen übereinander, als müsse sie wenigstens in ihnen Halt finden. Sie las von Menschen in Not, wie dem stillen Dichter Stoll, der in der Orangerie an der Kasse hinter der Theke sitzt und mit seinem Lächeln auf Besucher wartet. Stoll, der in seinem Schreibzimmer zuhause den einzigen Ort besitzt, in dem und für den es sich zu leben lohnt.
Die noch immer junge Anna Weidenholzer: In ihrem neusten Roman „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ erzählt sie von Karl. Karl fährt weg in einen Winterort ohne Schnee. Ein Mann, der nur forschen will und kann, sich auf dieser Reise ganz vom Zufall leiten lässt, davon überzeugt, dass es für alles und jedes mindestens zwei Möglichkeiten gibt. Bloss nicht für die Stimme in seinem Kopf, für die Stimme seiner Frau, die alles kommentiert, von der er stets weiss, wie und was sie sagen wird, wenn er etwas tun oder sagen will. Eine Stimme, die immer nur das „Richtige“ kennt. Anna Weidenholzer webt in ihren Roman Sätze, die haften bleiben, Sätze wie Schnappschüsse einer Meisterfotografin. Sätze, die klingen, Sätze, die man irgendwie kennt. Johannas Kehr bei Frédéric Zwicker, Stoll bei Franziska Gerstenberg und Karl bei Anna Weidenholzer; Männer, die zu verschwinden drohen.

„Wir leben in einer postheroischen Gesellschaft.“

Und dann noch Nico Bleutge, ein Dichter aus dem Norden, aus Berlin, den ein Stipendium nach Istanbul am Bosporus schickte, eine Stadt, die er bereits aus früheren Besuchen kennt, eine Stadt, in der es brennt. Eine Stadt zwischen Zeiten, Fronten und Kulturen. Nico Bleutge schreibt Lyrik in langen, farbigen Bändern, in „Nachts leuchten die Schiffe“ Wortgemälde mit Sicht auf die grossen Kähne, die durch die Meerenge ziehen. Auch wenn zu dieser Lesung in dem sonst gut besetzten „Raum für Literatur“ in der Hauptpost nur wenige Neugierige dem Dichter ihre Aufmerksamkeit schenkten, galten für mich diese 45 strahlenden Minuten als einer der Höhepunkte der diesjährigen St. Galler Literaturtage.
Was bleibt? Ich hörte zu und es taten sich Horizonte auf!
(Die eingefügten Zitate sind Fetzen eines sonst missratenen Literaturgesprächs zwischen Sabine Gruber, Jonas Lüscher und Andrea Gerster.)

St. Galler Literaturtage WORTLAUT, 30.3 bis 2.4.2017

Es ist angerichtet! Frédéric Zwicker liest am Donnerstag, den 30. März mit seinem Roman «Hier können sie im Kreis gehen» um 19.30 Uhr als Prologlesung im Kulturforum Amriswil. Am Freitag die offizielle «Eröffnung» in der Hauptpost St. Gallen, im Raum für Literatur, mit Max Küng und seinem ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochenen Roman «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» – und Samstag/Sonntag mit vielen weiteren literarischen und künstlerischen Höhepunkten.

6 1/2 Jahre dauerte die Entstehungsgeschichte des Erstlings von Frédéric Zwicker «Hier können sie im Kreis gehen». Bis sich mit dem Verlag «Nagel & Kimche» ein renommierter Verlag fand, der das Abenteuer zusammen mit dem Autor einging. Frédéric Zwicker erzählt die Geschichte vom 91jährigen Johannes Kehr, einem Misanthrop, der sich im Pflegeheim hinter einer vorgetäuschten Demenz versteckt. Kehr hat genug von all den Oberflächlichkeiten, ist eigentlich bloss zu feige, seinem Leben ein abruptes Ende zu setzen. So ist das Ende ein langes Ende, ein letztes unbestimmtes Kapitel hinter einem Vorhang, in einem Versteck. Frédéric Zwicker zeigt sich erstaunt darüber, wie gut sich das Buch vermarkten lässt. Mag sein, dass sie humorvoll ist. Aber die Geschichte ist Frédéric Zwickers ganzer Ernst. 2004 absolvierte er einen mehrmonatigen Zivildienst in einem Pflegeheim. Nachdem er aber immer ganuer wusste wovon er schreiben wollte, schnupperte er noch einmal undercover in einer Demenzabteilung. Johannes Kehrs Biografie ist eine tragische; eine schwierige Kindheit, gross geworden mit vielen Enttäuschungen. Demenz vorspielend erinnert er sich an seine Geschichte durch ein ganzes Jahrhundert, geboren am Tag, als in der Schweiz der letzte Bär erschossen wurde, verbittert und geschlagen vom Schicksal. Schonungslos und doch respektvoll geschrieben bestätigt von Reaktionen von Fachleuten und überzeugt davon, ein wichtiges Thema angesprochen zu haben. Jeder Dritte muss im Alter mit einer Demenz rechnen. Folglich müsste das Thema genug Relevanz für jeden besitzen. Eigentlich unmöglich, sich diesem Thema zu verschliessen.

Kommen sie zur Lesung im Kulturforum Amriswil! Ein gutes Buch, ein interessanter Autor, der etwas zu erzählen hat und ein Gespräch über ein Thema, dass sie bewegen wird. Moderation: Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch!

Neben grossen Namen wie Jonas Lüscher, Sabine Gruber, Jaroslav Rudiš, Nora Gomringer und den Heimspielen vom Slamer Renato Kaiser und Salzburger-Stier-Preisträger Manuel Stahlberger lassen sich auch Entdeckungen machen. Zum Beispiel der Lyriker Nico Bleutge mit seinem bei C. H. Beck frisch erschienenen Gedichtband «nacht leuchten die schiffe» und die junge Österreicherin Anna Widenholzer mit ihrem zweiten Roman «Weshalb die Herren Seesterne tragen», der der Frage nachgeht, was richtig und was falsch ist. Ein Roman, der von der Presse und Kritik begeistert aufgenommen wurde.

Neben traditionellen Lesungen, Büchertischen, Gesprächen über die Grenzen des Schreibens, Poetry Slam, Spoken-Word-Lyrik zeigen auch Zeichnerinnen und Zeichner ihre Werke; Kati Rickenbach ich und Daniel Bosshart, Flurin Von Salis, Anna Haifisch und Nicolas Mahler.

Seien sie dabei! «Die Stadt feiert Wortlaut. Ein literarisches Fest, das seinesgleichen sucht und mit der neunten Austragung bereits weit über die Region hinausstrahlt.»

Frédéric Zwicker am 30. März im Kulturforum Amriswil, Prolog Wortlaut 2017

Das 9. St. Galler Literaturfestival Wortlaut eröffnet seinen Veranstaltungsreigen um 19.30 im Kulturforum Amriswil. «Hier können sie im Kreis gehen» ist der Erstling des jungen Frédéric Zwicker, ein Roman, der mit viel Tiefgang und Witz bestens unterhält. Die Lesung dauert eine Stunde. Anschliessend Barbetrieb und Gelegenheit mit dem Autor in Kontakt zu kommen. Moderation: Gallus Frei-Tomic

Foto: Marlies Scarpino

Johannes Kehr ist 91. Und weil es irgendwann sowieso soweit sein wird, versteckt sich Kehr hinter einer vorgespielten Demenz in einem Pflegeheim der Stadt. „Ich habe das Gericht durch die Hintertür verlassen.“ Nachdem ihm der Tod seinen Sohn, seine Frau und seinen Freund nahm und er dem verbleibenden Rest der Familie nicht zur Last fallen will, verkriecht er sich hinter seinem selbst gewählten Vorhang. Eine letzte Inszenierung, die gar nicht so leicht zu spielen ist, akribische Vorbereitungen verlangte und keinen Fehler erlaubt. Endlich im Einzelzimmer in Ruhe gelassen kommentiert Kehr seine meist unfreiwillig mehr oder weniger anwesenden Mitbewohner und erzählt in kleinen Stücken die Geschichte seines Lebens. Als Waise ungeliebt bei Verwandten aufgewachsen hilft ihm der Zufall, aus den Mühlen von Armut, Stigmatisierung und Einsamkeit zu entfliehen. Er rettet das Leben eines Ertrinkenden, dessen Familie ihn am Ertrinken in seinem Unglück rettet. Er kämpft sich hoch, trotz einer verweigerten und nie überwundenen Liebe, durch ein Leben voller Arbeit und Pflichterfüllung, bis ihm am Ende nur noch Sophie bleibt, seine Enkelin. Aber auch Sophie weiht er nicht ein in seinen letzten Protest, seine Flucht nach innen. Ihr, ihrem Foto im Zimmer auf der Etage, erzählt er, ihr und dem Kater, einem Tier, das sich auch nicht einsperren lässt. „Am Ende bliebst mir nur du, Sophie. Aber ich hätte dir nicht so lange bleiben dürfen. Ich beklage mich nicht, aber das Leben hat mich abgenützt, hat seine Narben hinterlassen. Am Ende war es auch für mich zu viel. Ich habe die Kraft verloren, mich zu wehren. Ich wusste nicht mehr, wozu ich mich noch wehren sollte. Und ich sah keinen Ausweg. Ausser diesem hier.“

Vorverkauf Tickets Bücherladen Brigitta Häderli, Amriswil Webseite

Webseite WORTLAUT

Literaturvorschläge aus dem Turm

Liebe Bücherfreunde

Zusammen mit Elisabeth Berger stellte ich am Nikolaustag im Tröckneturm St. Gallen lesenswerte Bücher vor. Elisabeth Berger sechs – ich ebenso. Bücher, die man schenken kann. Bücher, die sich  lohnen zu lesen. Bücher, die man vorlesen kann. Bücher für viel mehr als ein paar schöne Stunden.

Falls sie noch ein Weihnachtsgeschenk brauchen, vertrauen sie dieser Liste!

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«Die Annäherung» von Anna Mitgutsch für alle, die sich für das vom letzten Weltkrieg dominierte Geschehen eines Jahrhunderts interessieren, für Familiengeschichte mit viel Unausgesprochenem.

«Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» von Max Küng für Neugierige, die hinter Fassaden schauen wollen, Witziges mögen.

«Schlaflose Nacht» von Margriet de Moor, für jene, die bereit sind, mit der Erzählerin mitten in der Nacht in der Küche zu stehen, um zuzusehen, was der Suizid des Mannes im Gewächshaus hinter dem Haus anrichtet.

«Das achte Leben – für Brilka» von Nino Haratischwili für fleissige LeserInnen, die sich von 1300 Seiten nicht abschrecken lassen und dafür belohnt werden mit einem georgischen Epos in Breitleinwand über beinahe 100 Jahre – ein fantastisches Buch!

«Cox oder Der Lauf der Zeit» von Christoph Ransmayr für jene, die sich vor einer mächtigen chinesischen Kulisse von einem Meister der Sprache in die Fremde entführen lassen wollen.

«Hier können sie im Kreis gehen» von Frédéric Zwicker, die erfahren wollen, warum sich ein alter Mann hinter einer vorgespielten Demenz im Altersheim verstecken will.

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«Bella Mia» von Donatella di Pietrantonio für jene, die sich in eine der vielen Behelfsunterkünfte nach dem grossen Beben 2009 in Italien versetzen lassen wollen, ins Schicksal dreier Menschen, die sich neu erfinden müssen.

«Nora Webster» von Colm Toibin für jene, die sich literarisch entführen lassen wollen in die irische Provinz der 60er Jahre, an einen Ort, wo der Verlust des Mannes die persönliche Katastrophe der hinterbliebenen Frau vervielfacht.

«Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt» von Zora del Buono, für jene, die wissen wollen, was eine unmögliche Liebe bewirkt in einem Land, das von den NSA-Enthüllungen gebeutelt ist.

«Der lange Atem» von Nina Jäckle, die sich auch vor dem Trauma eines erlebten Tsunamis in Japan nicht abschrecken lassen, vom Tod in all den entstellten Gesichtern, im Buch von einer eindringlichen Sprache belohnt.

«Der Hut des Präsidenten» von Antoine Laurain, für jene, die wissen wollen, was ein verlorener Hut des ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand anrichten kann. Heiter!

«Lügen sie, ich werde ihnen glauben» von Anne-Lare Bondouz und Jean-Claude Mourlevat für jene, die sich gerne gut unterhalten lassen von einem E-Mail-Roman voller Witz und Charme.

Zwei Büchermenschen: Gallus Frei-Tomic und Elisabeth Berger

mehr Infos unter lebendiger-advent.ch

Frédéric Zwicker «Hier können sie im Kreis gehen», Nagel & Kimche

«Ich habe mir erlaubt, meine Zügel ein letztes Mal zu greifen. Und um sicherzugehen, dass mir niemand meinen Gaul lahm- oder meinen Hintern weichreden konnte, habe ich gesattelt, ohne jemandem davon zu erzählen, und bin in eine Richtung geritten, in die mir niemand folgen kann.»

In Deutschland leben in mehr als 13000 Pflegeeinrichtungen Millionen Pflegebedürftige, Menschen, für die es in unseren Breiten unausweichlich scheint, sie in diesen Bahnhöfen zur letzten Reise zu sammeln. Grauzonen, oftmals schwarze Löcher, vor denen man sich ein Leben lang tunlichst fernhält, bis die Konfrontation mit einer solchen Institution unausweichlich ist.

Womit Christoph Simon 2011 in seinem wunderschön glänzenden Roman «Spaziergänger Zbinden» (Bilger Verlag) ein liebevoll, witzig-kritisches Licht hinter die für viele unbekannten Mauern brachte, kann Frédéric Zwicker mit seinem Roman «Hier können sie im Kreis gehen» noch um mehr als eine Komponente bereichern. Johannes Kehr ist 91. Und weil es irgendwann sowieso soweit sein wird, versteckt sich Kehr hinter einer vorgespielten Demenz in einem Pflegeheim der Stadt. «Ich habe das Gericht durch die Hintertür verlassen.» Nachdem ihm der Tod seinen Sohn, seine Frau und seinen Freund nahm und er dem verbleibenden Rest der Familie nicht zur Last fallen will, verkriecht er sich hinter seinem selbst gewählten Vorhang. Eine letzte Inszenierung, die gar nicht Zwicker_Kreis_gehen_125x205_HCSU_P06DEF.inddso leicht zu spielen ist, akribische Vorbereitungen verlangte und keinen Fehler erlaubt. Endlich im Einzelzimmer in Ruhe gelassen kommentiert Kehr seine meist unfreiwillig mehr oder weniger anwesenden Mitbewohner und erzählt in kleinen Stücken die Geschichte seines Lebens. Als Waise ungeliebt bei Verwandten aufgewachsen hilft ihm der Zufall, aus den Mühlen von Armut, Stigmatisierung und Einsamkeit zu entfliehen. Er rettet das Leben eines Ertrinkenden, dessen Familie ihn am Ertrinken in seinem Unglück rettet. Er kämpft sich hoch, trotz einer verweigerten und nie überwundenen Liebe, durch ein Leben voller Arbeit und Pflichterfüllung, bis ihm am Ende nur noch Sophie bleibt, seine Enkelin. Aber auch Sophie weiht er nicht ein in seinen letzten Protest, seine Flucht nach innen. Ihr, ihrem Foto im Zimmer auf der Etage, erzählt er, ihr und dem Kater, einem Tier, das sich auch nicht einsperren lässt. «Am Ende bliebst mir nur du, Sophie. Aber ich hätte dir nicht so lange bleiben dürfen. Ich beklage mich nicht, aber das Leben hat mich abgenützt, hat seine Narben hinterlassen. Am Ende war es auch für mich zu viel. Ich habe die Kraft verloren, mich zu wehren. Ich wusste nicht mehr, wozu ich mich noch wehren sollte. Und ich sah keinen Ausweg. Ausser diesem hier.»

«Hier können sie im Kreis gehen» ist aber viel mehr als eine Sammlung von skurrilen Geschichten, auch kein abstruser Greisen-Abenteuerroman, kein Kasperletheater, das nichts zum Verständnis jenes Lebensabschnitts beiträgt, den wir geflissentlich vor uns herschieben. Zwickers Sicht auf den ganz eigenen Kosmos eines Pflegeheims ist offensichtlich nicht eine von aussen. Sorgfältig recherchiert (Frédéric Zwicker leistete seinen Zivildienst in einem Pflegeheim.) hadert der Autor mit einer Gesellschaft, die solche Einrichtungen in dieser Form nötig macht, ebenso mit der Gleichgültigkeit dem letzten Abschnitt des Lebens, dem Sterben, dem Tod gegenüber, der Tatsache, dass viele so tun, als gäbe es dieses Ende so nicht. «Es gelingt ihnen, nicht an den Tod zu denken, bis er vor der Tür steht und nicht mehr aufhört zu klopfen, bis sie ihm öffnen. Die Lebenden fürchten sich erst vor ihm, wenn sie seinen Atem im Genick spüren, wenn er ihnen auf den Rücken gesprungen ist und sich von ihnen herumtragen lässt.» Dass mir dieser Blick hinter die Mauern zuweilen weh tut, ist unvermeidlich und tut Buch und Thema gut.
Frédéric Zwicker ist jung, arbeitet als Redaktor beim St. Galler Kulturmagazin «Saiten». Zu hoffen ist, dass da noch mehr kommt. Ich freue mich schon jetzt.

zwicker_frederic_hf_iFrédéric Zwicker, wurde 1983 in Lausanne geboren und wuchs in Rapperswil-Jona am Zürichsee auf, wo er heute wieder lebt. Während seines Studiums der Germanistik, Geschichte und Philosophie trat er regelmässig an Poetry Slams auf. 2006 gründete er mit dem Jazzmusiker Matthias Tschopp die Band Knuts Koffer, die seine Texte musikalisch umsetzt. Zwicker arbeitete als Werbetexter, Journalist, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, als Moderator von Lesungen, Musiklehrer und Leiter von Literaturworkshops an Schulen. Während einer Afrikareise schrieb er für die Zeitung Südostschweiz den Blog „Zu Tee bei Mutter Afrika“.

(Titelbild: Sandra Kottonau)