Dominique Anne Schuetz «Wohnblock – Kino – Coiffeur»

Der Wohnblock

Stockwerke übereinander gestapelt wie Kartonschachteln, voll mit Plüschsofas und Fernsehgeräten, Kuckucksuhren, Aquarien und Gummibäumen. Vierundzwanzigmal ein Stück gemietete Heimat mit Grenzen aus dünnhäutigen Wänden. Namensschilder statt Menschen. Türen im Multipack. Fenster in Reih und Glied. Verstopfte Abläufe und defekte Storen gehören zum Alltag. Die Hausordnung hat mehr als zehn Gebote. Du sollst nicht Lärm machen zur Unzeit. An den Treppenhausmief gewöhnt man sich, an den Waschküchenplan nicht. Die Frau des Hausverwalters wischt die Stufen. Im Winter ist die Fassade leer. Im Sommer ergiessen sich Geranien wie bunter Badeschaum über die Balkone, und aus den Radios scheppern Pavarotti, Ramazzotti und Kaleb. Ganz oben scheint die Sonne länger. Unten rauscht das Meer aus Blech.

Kino

Irgendwo am Sunset Boulevard. Die letzte Vorstellung. Zwei Tickets für eine Hand voll Dollar. Eine Tüte Popcorn und eine Coke, bitte. Thelma & Louise weisen den Weg zu den Plätzen aus rotem Plüsch. Lange Beine, kurze Röcke. Manche mögen’s heiss. In den Rängen hält ein Midnight Cowboy seine pretty Woman im Arm. Der stramme Goldjunge Oscar sitzt in der ersten Reihe. Auf den billigen Plätzen tummeln sich die nervigen Poltergeister. Jean-Paul Belmondo und Jane Seberg sind wie immer zu spät und völlig ausser Atem. Das Licht geht aus, doch die Men in Black behalten ihre Sonnenbrillen auf. Der Projektor surrt, ein Löwe brüllt. Nur noch 12 Sekunden bis zur Ewigkeit. Endlich beginnen die Stars zu leuchten. In den Hauptrollen: der blaue Engel, des Teufels General und Dr. Mabuse. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Das Publikum vergisst die Realität, wird zurück in die Zukunft geworfen, hört den Fluch der Karibik, verliert sich in 3D, ist jenseits von Eden. Liebe, Verrat und Tod allenthalben. The End. Der Saal leert sich. Wollen wir noch in Rick’s Café? Im Regen vor dem Filmpalast wartet ein Taxi Driver. Er sieht aus wie Robert De Niro.

Damals beim Coiffeur

Zwei Schaufenster, vier Stufen, eine Tür. Dahinter öffnet sich die Welt der Scheren, Bürsten und Kämme, der Shampoos, Lockenwickler und Haarfarben. Waschen, legen, frisieren seit 35 Jahren. Alles alte Schule. An den Wänden Reklameplakate, ausgebleicht von der Zeit. In der Mitte zwei Frisierstühle mit Polstern aus Plastik, rot und glänzend wie lackierte Fingernägel. Spiegel zeigen eine verkehrte Wirklichkeit. Einmal aussehen wie Doris Day. Die Trockenhaube hat viel zu tun. An der Decke surrt ein Ventilator, und aus dem Radio scherbelt Frank Sinatra. I did it my way. Eine Wolke aus Haarspray schwebt im Raum. Hochsteckfrisuren wachsen bis zur Decke. Die Monroes der Vorstadt wollen immer dasselbe: Wasserstoffblond. Gern doch, eine Maniküre für Madame, und eine gründliche Rasur mit dem Messer für den gepflegten Herrn, Dampfkompresse inklusive. Ein Salon vom Scheitel bis zur Sohle.

Dominique Anne Schuetz, geboren in Winterthur (CH), ist aufgewachsen in St. Gallen. Studium Graphic Design an der Schule für Gestaltung St. Gallen. Zunächst Art Director, dann Konzepterin/Texterin und Creative Director in namhaften Kommunikationsagenturen.
Seit 2007 Ausrichtung auf das Schreiben von Romanen, die Entwicklung von Kulturprojekten und die Arbeit als Konzepterin / Texterin. Ihre beiden letzten Romane «Die unsichtbare Grenze» und «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» sind beim Europa Verlag erschienen. Ein neuer Roman ist unterwegs!

9. Hauslesug mit Dominique Anne Schuetz

Sie sind eingeladen!

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Am Samstag, 22. Oktober, von 11 bis ca. 12.30 Uhr, liest die Schriftstellerin Dominique Anne Schuetz aus ihrem Roman «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» an der St. Gallerstrasse 21 in Amriswil. Sie sind herzlich dazu eingeladen.

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Die Platzzahl für die Hauslesung ist begrenzt. Melden Sie sich bitte an mit dem Kontaktformular oder unter der Telefonnummer 071 695 36 69 oder unter gallus.frei-tomic@gmx.ch.

 

literaturblatt.ch fragt, Teil 5, Dominique Anne Schuetz antwortet

Dominique Anne Schuetz, ihre beiden letzten Romane «Die unsichtbare Grenze» und «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» sind beim Europa Verlag erschienen, ist mehr als «nur» Schriftstellerin. Das sieht man, wenn man ihre Webseite besucht und wenn man ihr bei einer Lesung zuhört. Sie bewegt!

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Ich möchte ungewöhnliche Geschichten erzählen, die nachwirken. Die Sprache ist mir wichtig, aber nicht als Selbstläufer. Durch mein Studium und meine Tätigkeit als Künstlerin bin ich auch stark optisch geprägt und mag das «bildliche» Schreiben, nicht nur die Figuren sollen ein Gesicht erhalten, auch die Orte sollen erlebbar werden. Deshalb fällt z. B. auch mein Aufwand für Recherchen stets sehr umfangreich aus.image[1]

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Schwierig ist eigentlich nur, dass es so lange dauert, bis ein Roman geschrieben ist und in gedruckter Form vorliegt. Das Schöne an der Schriftstellerei ist die Freiheit während des Schreibprozesses. Ein bekannter Filmregisseur sagte einmal: Er habe aufgehört, während des Drehs Ideen zu entwickeln, weil jede dieser Ideen mindestens 50’000 Dollar koste. Da haben es die Literaten entschieden einfacher.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Mit meinem ausgedehnten Fitnessprogramm bereite ich mich auf die Arbeit vor. Das leert den Kopf und bringt mich auf neue Ideen.
Ohne Musik kann ich nicht schreiben. Ich brauche jedoch einen speziellen Sound: Soul, Neo Soul, Nu Jazz, Acid Jazz, Latin mit Soul- und Jazzeinflüssen, Louisiana Blues, Funk.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Kunst hat immer eine Verantwortung, sonst ist es keine Kunst. Ich mag das Zitat des finnischen Architekten Alvar Aalto, der sagte: »Es gibt nur zwei Dinge in der Architektur: Menschlichkeit oder keine.»
Dass man von den Autoren mehr erwartet, hat mit der Macht des Wortes zu tun. Meines Wissens wurde noch kein Krieg mit einem Gemälde oder einer Oper entfacht bzw. beendet, sondern stets mit Worten.

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
In meinen letzten vier Romanen ging es um Rassismus, um den Umgang mit Andersartigen, um Ideologien oder auch um die Schuldenwirtschaft. Jedoch verpacke ich solche Inhalte stets in einen Roman, der stark von den Figuren und ihren Entwicklungen geprägt ist. Ich will nicht meine Meinung zwischen den Buchdeckeln lesen, sondern indirekt Denkanstösse geben. Wie die vielfältigen Reaktionen zeigen, findet eine Auseinandersetzung mit meinen Stoffen sehr wohl statt, auch wenn ich die Themen nicht laut in den Vordergrund stelle.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Die Einsamkeit ist kein Problem, weil ich mich während des Schreibprozesses in einer völlig anderen Welt befinde.

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
image[1] (2)Obwohl persönliche Erfahrungen Eingang in meine Bücher finden, würde ich nie eine Autobiografie schreiben. Das ist mir zu sehr Seelenstriptease. Auch würde ich keinen Roman schreiben, bei dem man mir ein Thema vorgibt, und als Coautorin für Prominente wäre ich ebenfalls eine Fehlbesetzung.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
«Dreamland» von Kevin Baker. Habe den Roman gerade zum zweiten Mal gelesen. (OKay, vielleicht nur ein halber Geheimtipp.)

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Als Kind: «Hauffs Märchen». Ich mochte keine Hanni-und-Nanni- oder ähnliche Bücher, sondern hatte eine Schwäche für Märchen. Hauff war mein Liebling, da seine Geschichten oft exotisch und auch etwas gruselig waren.
Als junger Teenager: «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Das Buch hat mir die Tür zur Literatur geöffnet.
Später: «Wassermusik» von T. C. Boyle. Kreativ, bildstark, atemlos, sprachlich einzigartig.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Ich bekomme selten Bücher geschenkt, weil die Leute da eine gewisse Scheu haben und mir lieber eine Flasche Wein bringen (was auch ganz gut ist). In mein Regal kommen nur absolute Lieblingsbücher. Ich gebe viel weg, da ich lieber mit leichtem Gepäck lebe.

Schicken Sie mir ein Foto von Ihrem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz?
(Das Foto ziert den Anfang des Interviews.) Mehr Unordnung kann ich leider nicht bieten. Im Hintergrund läuft übrigens grad Leela James ☺.

dominique-anne-schuetz[1]Dominique Anne Schuetz, geboren in Winterthur, aufgewachsen in St. Gallen, ist Mutter von zwei Söhnen und lebt in der Nähe von Zürich. Sie war Creative Director und hat zahlreiche Preise erhalten. Heute ist sie erfolgreich als Künstlerin und Autorin tätig und wurde für ihr literarisches Schaffen ausgezeichnet.

Vielen Dank an Dominique Anne Schuetz!

Mitte September folgt ein Interview mit Daniela Danz. Ich freue mich!

Am 22. Oktober, 2016, von 11 Uhr bis ca. 13 Uhr liest die Autorin bei Irmgard & Gallus Frei-Tomic, St. Gallerstrasse 21, 8580 Amriswil
(unbedingte Anmeldung unter gallus.frei-tomic@gmx.ch) oder übers Kontaktformular dieser Webseite!

Anja Geburi 2