Sabine Gruber «Die Dauer der Liebe», C. H. Beck

Was geschieht, wenn mit einem Mal kein Stein mehr auf dem andern steht? Wenn der Tod Gewissheiten zerstört. Wenn eine Welt aus den Fugen gerät. Sabine Grubers neuer Roman «Die Dauer der Liebe» beschreibt seismographisch die Erschütterungen eines Bebens.

Es klopft an der Tür. Vor der Wohnung steht ein Polizist. „Darf ich reinkommen? Es ist etwas Schlimmes passiert.“ Renatas Lebenspartner Konrad ist tags zuvor auf einer Autobahnraststätte tot zusammengebrochen. Renatas Leben steht Kopf. Wer rechnet schon mit dem Tod. Selbst dann, wenn wir deutlich in der zweiten Lebenshälfte stehen, blenden wir das Wahrscheinliche geflissentlich aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Leben eines Paares gleichzeitig enden, ist verschwindend klein. Und trotzdem kümmern uns die möglichen Konsequenzen kaum. Selbst dann nicht, wenn wir es von Beispielen aus unserer Umgebung genau wissen sollten.

Renata ist Übersetzerin, Konrad war Architekt. Konrad war die Liebe ihres Lebens. Ein Vierteljahrhundert lang waren sie ein Paar, ein Paar, das sich mit den Gemeinsamkeiten gut eingerichtet hatte, auch wenn Renatas Beziehung zu Konrads Familie, seiner Mutter Henriette, seinem Bruder Marcel stets ein schwieriges war. Aber sie liebte Konrad, liebt ihn noch. Mit einem Mal ist nichts mehr, wie es einmal war, verschiebt sich das Gravitationsfeld ihres Lebens total, bricht ein, was stets Gewissheit und Fundament war.

«Das Misstrauen beschädigt die Erinnerungen.»

Sabine Gruber «Die Dauer der Liebe», C. H. Beck, 2023, 251 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-406-80696-4

Ans Heiraten hatten sie nie gedacht. Nichts hatte sie gedrängt, auch schon deshalb, weil der anfängliche Kinderwunsch keine Erfüllung fand – und weil man sich selbst genug war. Da gab es wohl ein Stück Papier, eine Art Testament, das er unterschrieben hatte. Aber in den Mühlen der Ämter schien dieses Stück Papier keine Gültigkeit zu haben. Was an anständiger Distanz und gebotener Höflichkeit während mehr als zwei Jahrzehnten das filligrane Gefüge der Familie Grasmann zu ihr im scheinbaren Gleichgewicht hielt, stürzt mit der Frage um Erbschaft und Nachlass in Gier und bodenlose Gemeinheiten ab. Während Renata sich mit dem Verlust ihres Liebsten taumelnd von einer Not in die nächste hangelt, stellt man sie vor vollendete Tatsachen, beraubt man sie ihrer Erinnerungen. Als sie Tage nach der Beerdigung Konrads, die in keiner Weise so stattgefunden hatte, wie es sich Konrad vorgestellt hatte, ins gemeinsame Ferienhaus eintritt, muss sie feststellen, dass Bilder, Möbel, Vasen fehlen, selbst Dinge, die nicht einmal sie selbst hätte zuordnen können.

Sabine Grubers Roman „Die Dauer der Liebe“ erzählt vom vielfachen Verlust. Da ist nicht nur der Tod, der Verlust eines Liebsten, das Wegbrechen aller Sicherheit, das Infragestellen aller Gewissheiten. Neben der lähmenden Gewissheit, dem Verlust der grossen Liebe, bricht auch die Sicherheit weg. Konrads Familie bedient sich hemmungslos seiner Hinterlassenschaften und tut, als wären die fünfundzwanzig Jahre mit Renata nicht mehr als eine Affäre. Renata versucht unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte im neuen Leben Tritt zu finden. Es helfen ihr Freundschaften und all jene Erinnerungen, die nicht an Dinge gebunden sind. Und trotzdem. Da sind die Findlinge dessen, was Renata nicht einordnen kann; die beiden Schlüssel mit einem grünen Anhänger, die Renata zuvor nie gesehen hatte oder ein verwaschenes Stück Papier aus einer Hose mit der Notiz Du fehlst mir so sehr. C. Gab es in Konrads Leben Winkel und Facetten, von denen Renata nichts wusste oder nichts wissen sollte? Gab es neben dem Leben davor auch noch ein Leben daneben? 

«Der Schmerz rauscht.»

Sabine Gruber beschreibt eine Frau, die in den Ungewissheiten und dem Wegbrechen aller Sicherheiten den Halt im Leben zu verlieren droht, die mit Verzweiflung nach Gewissheiten sucht, irgendwann sogar in ein Auto steigt, um nach dem nachzuforschen, was sich in ihrem Geist zu Ungeheuerlichkeiten auftürmt. Sie schreibt von einer Frau, die ihr Leben neu kartographieren muss. Ein feinfühliger Roman, der nie in Sentimentalität wegbricht. Ein leidenschaftlicher Roman über die Macht der Liebe, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und den drohenden Verlust aller Gewissheiten.

Interview

Ich las Ihr Buch sehr gerne. Nicht zuletzt, weil es zum eigenen Sinnieren anregt, darüber, wie sehr wir uns in «Sicherheiten» wiegen, wie sehr wir uns der Wahrheit, dem Unausweichlichen verschliessen, wie schnell alles eine vollkommen andere, unplanbare Richtung einnehmen kann. Funktioniert der Mensch nicht eben darum, weil er ausblenden kann?

Vermutlich geht es nicht, ohne zu verdrängen oder auszublenden. Renata, die Hauptfigur, hatte schon zu Lebzeiten Konrads den Gedanken, dass jede Nacht, die sie mit ihrem Liebsten verbringt, eine weniger ist. Dennoch ist sie, ist das Paar, nicht konsequent genug; vielleicht sind die beiden auch zu gutgläubig, können sich nicht vorstellen, wozu Familien in der Lage sind. Beide versäumen es, ein gültiges Testament zu verfassen, sie drucken es nur aus und unterschreiben es. Nach dem Tod Konrads wird von seiner Familie keiner seiner niedergeschriebenen Wünsche erfüllt, seine Mutter Henriette und die beiden Geschwister bestimmen, was mit der Leiche zu passieren hat und verfügen über Konrads Privatgegenstände. Die 25 gemeinsam verbrachten Jahre zählen nicht.

Sie psychologisieren nichts und niemanden. Und doch beschreiben Sie den vielfachen Verlust Renatas ganz genau, ohne Theatralik, aber doch mit viel Empathie und Melancholie. Natürlich ist es die Fähigkeit einer guten Schriftstellerin, sich in ein konstruiertes Ich hineinzuversetzen. Und natürlich kann niemand schreiben, was nicht in ähnlicher Form erlebt ist. Und doch muss beim Formen der ProtagonistInnen jene Ausgewogenheit zwischen Nähe und Distanz gewonnen werden, die es möglich macht, Plastizität nachvollziehbar zu machen. Gibt es Regeln oder Grenzen, die Sie nie überschreiten würden?

Es gibt zahlreiche autobiographische Trauerbücher (z.B. von Connie Palmen, Joan Didion oder Olga Martynova) in denen Klarnamen verwendet werden. „Die Dauer der Liebe“ ist ein Roman, Figuren und Topographie sind daher erfunden. Ich habe – wie in früheren Romanen – Figuren aus anderen Büchern eingearbeitet, um die Fiktionalität zu unterstreichen. Ich leugne nicht, dass ich – übrigens nicht das erste Mal – einen mir sehr nahen Menschen unvorhergesehen verloren habe, dass ich diese existentielle Erfahrung gemacht habe, aber Schreiben ist für mich ein Transplantationsakt, die Einverleibung von Fremdem oder die Verfremdung von Eigenem. 

Ich sehe in der Fiktion mehr Möglichkeiten zur Ambiguität, mehr Freiräume, die das autobiographische Schreiben in dem Versuch, der Wirklichkeit gerecht zu werden und den Figuren beizukommen, verstellt. 

Ich habe einmal versucht, einen Text über Gabriel Grüner zu schreiben, mit dem ich zehn Jahre zusammen war, der einige Jahre nach unserer Trennung als Stern-Reporter im Kosovo erschossen wurde. Ich kriegte die Figur nicht zu fassen, hörte den toten Gabriel lachen, ihn sagen „Das soll ich sein?“.
Aus diesem Mann, der mit 35 das Leben verloren hatte, wurde 17 Jahre später in dem Roman „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“ eine gänzlich andere Figur, nämlich ein alternder, traumatisierter Kriegsphotograph, den die Bilder einholen. Im neuen Roman, „Die Dauer der Liebe“, wird Daldossi zum wichtigsten Begleiter Renatas.

Als mein Vater starb, sah ich ihn eine Weile überall, von hinten in der Strassenbahn, im Rückspiegel beim Autofahren. Es gibt keine Abstufungen des Erinnerns. Erinnerungen sind unwillkürlich. Wenn ich meinen Bruder treffe, begegne ich meinem Vater in den Händen meines Bruders, bei meiner Schwester in ihren Stirnfalten. Seit ein paar Wochen liegt auf meinem Stehpult ein altes Schulheft meines Vaters. Wohnungen sind voll mit Erinnerungen. Erinnerungen, die uns viel bedeuten. Aber sterbe ich, sterben die Erinnerungen. Täglich werden unsäglich viele Tonnen Erinnerungen entsorgt. Macht ihnen das nicht zuweilen Angst?

Einerseits werden täglich Tonnen Erinnerungen vernichtet, sie zerfallen wie Gesteine durch Verwitterung, werden abtransportiert, andererseits bleiben Sedimente davon erhalten: in der Literatur, in der Dichtung… Der Sand, die Gesteinspartikel oder zum Beispiel der Löss am Wagram, wo sich das Landhäuschen des Paares befindet, verweisen wieder auf das, was vorher war, auf die Berge, das Meer… Die Poesie ist doch am Ende tröstliche Verdichtung!

„Die Dauer der Liebe“ ist auch eine Fragestellung. Was geschieht mit der Liebe, wenn jemand stirbt? Wie bleibt sie? Soll sie bleiben? Kann man Gefangene werden? Was erwartet die Umgebung?

Eine grosse Liebe dauert natürlich an. Novalis spricht sogar von der Pflicht, an die Verstorbenen zu denken, weil es der einzige Weg ist, in Gemeinschaft mit ihnen zu bleiben. Renata hat ihren Konrad über alles geliebt, ihn zu erinnern, empfindet sie gewiss nicht als Pflichterfüllung. Das dem Roman vorangestellte Motto, ein Gedicht von Patrizia Cavalli, beschreibt Renatas Zustand am besten: Penso che forse a forza di pensarti/potrò dimenticarti, amore mio. (Wörtlich: Ich denke, dass ich vielleicht Kraft meiner Gedanken an dich,/ dich werde vergessen können, mein Liebling.) 

Ich diskutiere mit meinen erwachsenen Kindern immer wieder einmal über Sinn und Unsinn der Ehe. Ihr Roman verdeutlicht, dass Liebe, Partnerschaft, Zusammenleben keine Privatsache ist. Bis in die Institution Familie, und dazu zähle ich auch eine Partnerschaft, mischt sich der Staat, das Gesetz. Kein Wunder, muss doch selbst das Halten von Hunden reglementiert werden. Widerspricht nicht alles, was wir mit romantischen Gefühlen beschreiben, der Realität. Schliesst Staat und Gesetz die Romatik in einen Käfig, um sie vor der Gier des Menschen zu schützen?

«Es wäre besser gewesen, ihr hättet geheiratet», sagt Renatas Freundin Elsbeth, eine Anwältin, im Roman. «Er wollte mich immer heiraten, aber die Ehe ist doch unmöglich für eine Frau, die selbstständig ist», antwortet Renata. Es handelt sich hier um ein verkürztes Bachmann-Zitat. Renata gehört als Boomerin jener Post-68er-Frauengeneration an, für die das Private selbstverständlich politisch ist, die den Ehemann als klassischen männlichen Versorger ablehnt. Renatas Leben ändert sich auch nach dem Tod von Konrad nicht, weil sie eine selbstständige, emanzipierte Frau ist und daher keine ökonomischen Probleme zu befürchten hat. Dennoch fordert der Roman dazu auf, persönliche Angelegenheiten und Verfügungen rechtlich einwandfrei zu formulieren. Recht ist nicht immer gerecht. Viele verdrängen den Tod, andere sind naiv oder schlampig wie das Paar im Roman, das ja immerhin alles Wichtige aufgeschrieben hatte.

Ich habe sehr viele Zuschriften von Menschen erhalten, denen Ähnliches widerfahren ist wie Renata. Es sind auch Mails von Leserinnen und Lesern eingetroffen, die nach der Lektüre des Buches geheiratet haben oder zumindest ein Testament bei einer Notarin oder einem Anwalt hinterlegt haben. Da soll noch mal jemand sagen, Literatur bewirke nichts!

Sabine Gruber, geb. 1963 in Meran (Italien). Studium der Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft in Innsbruck und Wien. Lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a.: 2007 Anton-Wildgans-Preis, 2015 Veza-Canetti-Preis, Österreichischer Kunstpreis für Literatur 2016, Preis der Stadt Wien für Literatur 2019.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

«Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land»

Lieber Gallus

Ich war zwei Wochen im Land der Pharaonen unterwegs. Tief beeindruckt von den bis 4000 Jahre alten Kulturgüter, so gut erhalten und in frischen Farben und leuchtendem Gold zu bestaunen, habe ich die teils langen Fahrten durch die Wüsten genutzt, ägyptische Autoren zu lesen. Neben Nagib Machfus, dem ersten arabischen Literaturnobelpreisträger von 1988, las ich ein Buch von Wagiuh Ghali «Snooker in Kairo».

Waguhi Ghali «Snooker in Kairo», C. H. Beck, 2018, aus dem Englischen von Maria Hummitzsch, 256 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-406-71902-8

Es ist das einzige Buch dieses Autors aus Kairo, geschrieben bereits 1964, auf Deutsch erstmals erschienen 2018. Knapp 40jährig hat sich der Autor in der Wohnung seiner Lektorin und Freundin das Leben genommen. Im Kern seines Wesens war er überzeugt, keine Liebe verdient zu haben. So die Worte seiner Freundin.
Meines Erachtens ist ein Meisterwerk entstanden! Melancholie, Verzweiflung, Witz und Komik sind literarisch bestechend umgesetzt. Aus einer reichen koptischen Familie stammend, aber mausarm kämpft der Protagonist für ein weltoffenes Leben, blitzgescheit und hochsensibel, gefährdet durch Spielen in Snooker-Club und viel Alkoholgenuss. Die Liebe zu einer Jüdin der Oberschicht gibt ihm viel Kraft, er erlebt sie aber ambivalent und toxisch.

Sehr klug und authentisch geschrieben vor dem Hintergrund vom Ende der britischen Kolonisation und zur Zeit Präsident Nassers gibt es auch einen Einblick in die damalige desillusionierte Gesellschaft.

Für mich war es eine bereichernde Ergänzung und nachhaltige Vertiefung, die mir das Erlebnis der lauten, schmutzigen und überbevölkerten Städte Kairo und Alexandria ein klein wenig verständlicher zu machen schien.
Kann Literatur einem ein fremdes Land näher bringen? Täusche ich mich? Was denkst du darüber?

Mit bestem Gruss
Bär

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Lieber Bär

In einem Interview, das ich mit Iris Wolff über ihren Roman „Lichtungen“ führte, sagt sie: „Was Bücher auf einzigartige Weise können ist: Empathie erzeugen. Weil wir mit Büchern die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Das gilt generell für Kunst: Wir weiten – für die Dauer eines Films, eines Buchs, eines Musikstücks – die Grenzen unseres fest gefügten Selbst und begreifen vielleicht, wie sehr alles miteinander verbunden ist.“ Kunst ist nicht nur für mich neben echter Bereitschaft zur Kommunikation zur einzigen Hoffnung geworden. Wie sonst sollte sonst das Verständnis dafür wachsen, dass wir nur eine einzige Welt zur Verfügung haben, dass es nicht das Privileg der gegenwärtigen BewohnerInnen sein kann, auf diesem Planeten wie Berserker zu wüten, ganz nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“. Wie sonst sollte man dem Hass, all den Vorurteilen begegnen, die es scheinbar verunmöglichen, das Geschenk Erde miteinander zu teilen?

Juri Ritchëu «Traum im Polarnebel», Unionsverlag, 2005, aus dem Russischen von Arno Specht, 384 Seiten, CHF ca. 20.50, ISBN 978-3-293-20351-8

Ja, die Literatur kann mir ein Land, Menschen, eine mir fremde Kultur, eine mir fremde Religion näher bringen. Ich erinnere mich gut an die Bücher von Juri Rytchëu, eines tschuktschischen Schriftstellers, Sohn eines Jägers eines indigenen Volkes ganz im Norden Russlands. Ich tauchte regelrecht ein in eine Welt, die mir zuvor vollkommen unbekannt war, lernte, dass Russland aus viel mehr besteht, als aus dem, was ich zuvor wusste. Juri Rytchëu starb 2008 und scheute sich in seinen späten Jahren auch nicht, die Politik Russlands zu kritisieren. Ich lernte mit diesem Autor eine Kultur zu lieben, die mir viel Respekt einpflanzte. Nicht zuletzt macht es mir die Literatur unmöglich, ein Land zu dämonisieren, alle Russen in einen Topf zu schmeissen, was ganz offensichtlich in einer breiten Öffentlichkeit passiert. Nur schon weil ich viele russische SchriftstellerInnen, auch solche der Gegenwart wie Ljudmilla Ulitzkaja, Michail Schischkin viel zu sehr schätze und verehre, ist mir ein kollektives Urteil unmöglich. Putin ist nicht Russland.

Als ich letztes Jahr in die Heimat meines Schwiegersohns reiste, war es keine Reise in die Ferien. Ich wollte Vietnam begegnen. Ich wollte in den Wochen etwas lernen. Ich wollte eine Kultur, Menschen kennenlernen. Selbstverständlich las ich AutorInnen aus diesem Land, zB. Kim Thúy mit ihrem Roman «Der Klang der Fremde» oder den vorzüglichen Sammelband literarischer Kostbarkeiten aus Vietnam „Vietnam fürs Handgepäck“ von Alice Grünfelder. Ich sah, hörte und schmeckte mehr, als ich dieses fremde Land bereiste. Aber das klappte auch nur, weil ich mich nicht bloss auf den touristischen Trampelpfaden bewegte, sondern versuchte, möglichst offen zu sein, mich einliess, was sich mir zeigte. Wer All-inclusive zwei Wochen in Ägypten in einem Fünfsterneressort verbringt, lebt auf einem anderen Planeten, wattiert in Luxus, umgeben von allen Annehmlichkeiten.

Wenn Vermummte am Rand einer Demonstration gegen Hass stehen und den rechten Arm nach oben recken, wenn Propagandisten den Krieg gegen die Ukraine mit dem Dogma des grossrussischen Reiches erklären, wenn ein Parteichef in der Schweiz den menschengemachten Klimawandel leugnet und argumentiert, die Landwirtschaft könne von einem wärmeren Sommer doch nur profitieren, dann fehlt diesen Menschen Empathie. Es mag idealisierend klingen; aber ich bin davon überzeugt, dass Menschen, die sich wirklich auf Kunst einlassen, sich auch auf ihnen fremde Stimmen einlassen, dass sie sich unweigerlich öffnen und verstehen lernen. Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land.

Liebe Grüsse

Gallus

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«Literatur kann vieles näher bringen, nicht bloss ein mir fremdes Land»

Lieber Gallus

Immer wieder denke ich an diesen Satz aus deiner letzten Mail bei der Lektüre von «Weisse Rentierflechte» von Anna Nerkagi. Dieses erste Buch in deutscher Sprache von einer nenzischen Frau ist von archaischer Kraft und sinnlicher Poesie, entführt uns in eine ganz andere Welt im Norden Sibiriens.

Anna Nerkagi «Weiße Rentierflechte», Unionsverlag, aus dem Russischen von Rolf Junghanns, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 18.00, ISBN 978-3-293-20999-2

Naturverbundenheit und Tradition beeinflussen das Leben dieser Menschen in unwirtlicher eisiger Tundra. In wunderbarer Sprache geschildert begleiten wir verschiedene, junge und alte Nenzen auf der Suche nach Liebe, nach Wahrheit, nach dem Sinn des Lebens. Der Autorin ist ein nachhaltiges Werk über Liebe, Verantwortung und Tod gelungen, das mich in der modernen Welt lebend zum Nachdenken herausfordert:

«Alte Bäume erscheinen uns als langlebige Menschen. Man möchte glauben, dass sie sich an so vieles erinnern, vielleicht sogar an das GOLDENE WORT DER WAHRHEIT, das die Menschen einst vergessen haben… Das GOLDENE WORT DER WAHRHEIT – was ist das? Ein Lied? Ein Gebet? Ein Gott?»

Ein Buch voller Fragen zum Kern unserer menschlichen Existenz. Unbedingt lesenswert!

Bär

Lieber Bär, Lieber Gallus 1:
«Die einen schwimmen auf, die andern versinken»

 

Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck

Es wird auch an diesem Tag heiss in Berlin. Ruth Lember, angesehene Ethikprofessorin, auf dem Zenit ihres Berufslebens, läuft morgens ihre Runde. Bis ein Hund, ein Biss, ein Mann, ein Couvert sie aus der Bahn wirft. Was wie in Stein gemeisselt schien, zerbröselt. Ulrich Woelk schrieb mit „Mittsommertage“ einen Roman über unsere fiebrig aufgeladene Gegenwart.

Ruth ist in diesen Mittsommertagen durchaus in Festlaune. Da ist nicht nur ihre Berufung als Mitglied des Deutschen Ethikrats. Ben, ihr Mann gewinnt einen Architekturwettbewerb, der Türen und Tore öffnen soll und Jenny, seine Tochter, die er mit in die Ehe brachte, studiert Kommunikation und scheint dort angekommen zu sein, wo sie schon immer hinwollte. Durchaus Glück angesichts dessen, was in der Ukraine passiert, was man in der Pandemie durchzustehen hatte und was sich in der flimmernden Hitzeglocke über der Hauptstadt überdeutlich manifestiert. Ruth spürt genau, dass nichts so ist, wie es scheint, ob im Beruf oder ihrer Ehe, ob mit ihren Idealen oder der scheinbaren  Perfektion ihrer inszenierten Gegenwart.

Als sie in den noch frischen Morgenstunden auf ihrer Laufrunde dem Lietzensee entlang von einem nicht angeleinten Hund gebissen wird, kein schlimmer Biss, aber einer, der mehr als nur zwei kleine Wunden hinterlässt, scheint etwas förmlich angestochen zu sein. Ein jahrzehntelang ruhender Einschluss der Zeit, der sich wie ein aufgestochener Furunkel als Gift in ihrem Körper, ihrem Sein, ihrer Gegenwart verteilt. Was mit einem harmlos scheinenden Biss seinen Anfang nimmt, entzündet sich mehr und mehr, bricht auf, bis Ruth gezwungen ist, ihr Leben nicht bloss zu überdenken, sondern neu zu ordnen.

Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck, 2023, 284 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-406-80652-0

Den Biss des Hundes bekommt Ruth nach anfänglichem Zögern mit Hilfe von Antibiotika in den Griff. Aber als zuerst bei einer Vorlesung ein älterer Mann im Hörsaal sitzt, den sie nicht einordnen kann und dieser ihr wenig später noch einmal in einer Strassenbahn schräg gegenübersitzt und schlussendlich an der Tür ihres Büros an der Uni klopft und wie ein Geist aus einer vergessenen Vergangenheit auftaucht, schwant Ruth, dass sich etwas ausbreitet, das zu einem Gift werden kann. Denn Ruth spürt, dass ihr Leben eine Dynamik angenommen hat, der sie kaum mehr etwas entgegenhalten kann. Aus den Idealen der Vergangenheit ist satte Zufriedenheit geworden. Aus der Liebe mit Ben ein gut inszeniertes Nebeneinander ohne Leidenschaft und Zärtlichkeiten. Aus der Gegenwart einer 55jährigen erfolgreichen Professorin ein Leben in Zwängen und Mechanismen.

Der Mann, der in ihrem Büro auftaucht, ist Stav. Als Ruth jung war, auf der Suche nach Antworten, als man sich gegen Atomkraft und die Macht der Konzerne auflehnte und nach Wegen suchte, sich dem Unausweichlichen entgegenzustellen, war Stav nicht nur ihr geheimer Freund und Liebhaber, sondern Kampfgenosse. Er sei wieder augetaucht, weil er ihr übergeben wolle, was von jenem Kampf übrig-, zurückgeblieben sei, ein Umschlag mit Fotos, Plänen und Bekennerschreiben, den Spuren eines Geheimnisses, das Ruth eigentlich begraben geglaubt hatte, einem Geheimnis, von dem niemand wusste, auch Ben ihr Mann nicht.

Was Klimaaktivisten zur Strategie erklären, war Ruth damals Programm. Was ihrer Ziehtochter Jenny als Notwendigkeit erscheint und einer ganzen Generation den Atem raubt, schlummerte wie eine hart gewordene Pustel unter der gepuderten Gegenwart von Erfolg und aufgesetzter Zufriedenheit. Es ist heiss über der Stadt, fiebrig heiss. Was sich unter Ruths Haut in ihrem ganzen Körper ausbreitet, ist ein Gift, das sie zu Fall bringen droht, das alles mit sich in die Tiefe reisst. Ruth wird aus ihrem Gravitationfeld katapultiert.

Ulrich Woelk beschreibt, wie sich das Gift langsam entfaltet, wie es den Stein, auf dem Ruth ihre Gegenwart einrichtete und ihre Zukunft sieht, zerbröselt. Und Ulrich Woelk stellt Fragen. Was macht echtes Leben aus? Stellen wir uns dem, was die Zeit von uns fordert, was in der Vergangenheit tief unter den Schichten des Vergessens und Verdrängens modert? Sind wir ehrlich, uns selbst gegenüber und all jenen, von denen wir behaupten, sie zu lieben? Ist das, was wir an Rebellion in jungen Jahren durchleben wie der Biss eines Hundes, den man mit „Antibiotika“ behandeln kann? „Mittsommertage“ ist der Versuch einer Diagnose einer Gegenwart, die in Schieflage geraten ist, von Menschen, die sich nur allzu gerne täuschen lassen wollen.

Interview

In ihrem Roman ist es der Biss eines Hundes. Eigentlich nichts Spektakuläres. Aber mit anderem kombiniert wird der Biss zu einem Teil einer fatalen Kettenreaktion. Viele von uns erleben solche Situationen. Und einer, der wie ich Jahrzehnte joggte, mit Hunden sowieso. Situationen, die eine Lawine auslösen. Lawinen, die alles verändern. Das eine verschütten, anderes freilegen. War ein Hund die Initialzündung zu Ihrem Roman?
Die Ursprünge der Idee zu dem Roman liegen in den Vor-Corona-Jahren 2018 und 2019, als sich Greta Thunbergs Fridays for Future-Bewegung schnell zu einem weltweiten Phänomen entwickelte. Ich musste dabei an meine Studentenzeit denken. Ich hatte in Tübingen in den Achtzigern eine Kabarettgruppe, und „global warming“, wie es damals hiess, und das Ozonloch waren Themen. Dass gut dreissig Jahre später Schüler und Studenten für das Klima auf die Strasse gingen, hat mich beschäftigt. Da wirft die junge Generation der älteren etwas vor, was diese gar nicht anders gesehen hat – jedenfalls in jenen Kreisen, die man seinerzeit mit den Begriffen Alternativkultur oder Ökoszene etikettiert hat. Und aus diesem Widerspruch ist dann so peu á peu die Idee zu „Mittsommertage“ hervorgegangen. Die Szene mit dem Hund entspringt aber tatsächlich meinen Erfahrungen als Gelegenheitswalker. Und irgendwann dachte ich, dass sie ein hervorragender Einstieg in die Geschichte ist, die ich erzählen wollte.

Ruth und Ben zusammen mit seiner Tochter Jenny entsprechen so ziemlich dem „Durchschnittsbild“ einer erfolgreichen, westeuropäischen Familie. Beide haben Karriere gemacht, das Familiengefüge das „Resultat“ mehrerer Beziehungen, man wähnt sich auf der sicheren Seite – bis Ereignisse, die nicht zu steuern sind das doch so filigrane Gefüge mehr als nur ins Wanken bringen. Haben wir auf Sicherheit und Reibungslosigkeit getrimmte Bewohner der „ersten Welt» nicht längst die Bodenhaftung verloren, den Sinn für das „Risiko Leben“?
In der Vor-Coronazeit hätte man das sicher sehr uneingeschränkt behaupten können. Aber die Ereignisse seither – die Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine, die wirtschaftliche Unsicherheit – haben schon dazu beigetragen, bei vielen das Gefühl einer unberechenbaren Bedrohung durch äussere Umstände aufkommen zu lassen. Diese Themen bilden den Hintergrund der Romanhandlung im Sommer 2022. Das ist der Ausgangspunkt für Ruth, meine Protagonistin: Die Welt ist diffus instabiler geworden, und nur beim morgendlichen Joggen um den See „kann Ruth sich der Vorstellung hingeben, dass sich überhaupt nichts geändert hat“, wie es gleich zu Beginn heisst. Und in diesem vermeintlich letzten sicheren Refugium passiert dann der Hundebiss, der eine für Ruth so fatale Kette von Ereignissen in Gang setzt.

Ruth hat eine Vergangenheit, die sie für sich beerdigte, von der nicht einmal Ben etwas wusste. Sie schleppt einen Teil ihres Lebens herum, der unter Verschluss hätte bleiben sollen. Eine Vergangenheit im „radikalen Widerstand“.  Ist dieser Hundebiss letztlich nicht ein Glück? Er beisst etwas auf.
So kann man das rückblickend natürlich sehen. Aber immerhin kommt Ruth nach dem Biss durch einen anaphylaktischen Schock beinahe ums Leben. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sie mit der Verdrängung ihrer Vergangenheit recht gut, erfolgreich und glücklich leben – abgesehen vielleicht davon, was ja immer mal wieder an ihr nagt, dass sie kein eigenes leibliches Kind hat. Auch das ist eine Folge ihrer Vergangenheit und der Tatsache, dass sie Karriere als Philosophie-Professorin gemacht hat und zum Mitglied in den Deutschen Ethikrat berufen wird. Doch da sie sich mit der Tochter ihres Mannes sehr gut versteht, ist sie mit sich im Reinen. Jenny kommt mit Ruth in politischer Hinsicht sogar besser klar als mit ihrem Vater, der für Klimakleber und Gendersprache nicht besonders viel übrig hat. Dass dieses berufliche und familiäre Gefüge, in dem Ruth sich gut eingerichtet hat, am Ende einzustürzen droht – das ist für sie zunächst mal eine Katastrophe. Als Erzähler gewähre ich ihr am Schluss aber eine Art Lichtblick. In jedem Ende liegt ja auch ein Anfang, das stimmt. Doch ob von Ruths bisherigem Leben noch etwas zu retten ist, lasse ich bewusst offen.

Jenny ist jung und wie viele aus ihrer Generation sehr wohl aufgeschreckt durch die Klimaprotestaktionen in Städten und Ballungszentren. Ich glaube, sie spürt wie viele, dass es unmöglich sein kann, dass das Weltgeschehen ohne Kurswechsel an einer globalen Katastrophe vorbeischrammen kann. Warum traut sich Ruth nicht, ihren Panzer aus Sicherheit und Angst zu verlassen?
Es ist ja sehr menschlich, dass man versucht, an dem, was gut funktioniert hat, so lange wie möglich festzuhalten. Die Anzeichen, dass etwas nicht mehr stimmt, kommen für Ruth sehr schleichend. Sie spürt, dass ihrer Ehe allmählich der Schwung abhanden kommt. Als Jenny auszieht, ist das Leben mit Ben ungewohnt und nicht so frei, wie beide sich das vorgestellt haben. Es hat für sie als Paar nie eine Zeit ohne Jenny gegeben. Die äusseren Veränderungen stellen Ruths Leben aber nicht gleich auf den Kopf. Es gibt für sie einfach nicht den Punkt, alles radikal infrage zu stellen. Und dann kommt es in dieser Woche, von der ich erzähle, in wenigen Tagen zum Einsturz ihres Lebenssystems. Der Hundebiss ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Stav taucht auf. Der Mann aus der Vergangenheit. Eigentlich der perfekte Gegenentwurf zum Leben von Ruth und Ben. Selbst ich als Leser traute ihm zu Beginn alle möglichen bösen Absichten zu, weil er ausgerechnet in dem Moment, wo Ruth in den Fokus einer grossen Öffentlichkeit tritt, mit brisanten Zeugnissen aus der Vergangenheit auftaucht. War meine Lesereaktion eine von Ihnen „programmierte» Absicht
Als Autor war mir bewusst, dass Stav zu Beginn, da man seine Absichten noch nicht kennt, als ambivalente Person in Erscheinung tritt und sich damit ein Spannungsmoment verbindet. Es ist ein klassisches Motiv des Erzählens. „Der unheimliche Gast“ bei E.T.A. Hoffmann oder der Landbesitzer Pozzo in „Warten auf Godot“. Beim Lesen oder Zuschauen weiss man, diese Figuren bringen etwas in Bewegung – auch wenn diese Bewegung bei Beckett als einem Vertreter der Moderne komplett ins Leere läuft. Als Autor fühle ich mich dem Erzählen literarisch mehr verbunden als dem Formalen. Bestimmte Dinge werden immer unser Interesse wecken: Die Tür geht auf, und man fragt sich, wer hereinkommt? Da sieht man hin.

Sind wir eine Gesellschaft der Opportunisten geworden?
Ich denke, es hat zu allen Zeiten beides gegeben: Opportunismus und Überzeugungshandeln. Es ist sogar so, dass aus dem einen das andere hervorgehen kann. Die Umweltbewegung ist dafür auch ein Beispiel: Die Anfänge dieser Bewegung aus den Siebziger- und Achtzigerjahren waren eine von tiefen Überzeugungen getriebene Entwicklung. Mittlerweile – das jedenfalls ist mein Eindruck – sind eine Menge Opportunisten auf den Zug aufgesprungen. Es kostet nicht mehr viel, für Umwelt- und Klimapolitik einzutreten, es ist fast schon wohlfeil. Man hat den Eindruck, alle sind dafür, und trotzdem wird weiter Auto gefahren, ungebremst konsumiert und in den Urlaub geflogen. Das schürt Frustrationen, Ärger und Ängste.
Eines kann man aber sagen: Ruth ist sich dieser Problematik bewusst. Es ist ihr wichtig, ihre Handlungen und Überzeugungen immer wieder daraufhin zu überprüfen und zu hinterfragen, ob sie nicht auch längst einem opportunistischen Prinzip folgen. Dass sie sich immer wieder auch in Frage stellt, verbindet mich als Autor mit ihr. Am Ende gesteht sie sich ein, dass sie zu dem Stehen muss, was ihr widerfahren ist. Sie schiebt die Schuld nicht anderen in die Schuhe. Als Autor muss ich immer auch ein Teil meiner Figuren sein, ich muss sie in mir aufspüren können. Und das ist bei Ruth so.

Ulrich Woelk (1960) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er studierte Physik und Philosophie. Sein erster Roman «Freigang» erschien 1990. Zuletzt veröffentlichte er mit großem Erfolg den Roman «Der Sommer meiner Mutter«, der auf der Longlist des deutschen Buchpreises stand und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Für die Fertigstellung von «Für ein Leben» erhielt Ulrich Woelk den Alfred-Döblin-Preis.

Ulrich Woelk «Planetenschreiber 1: Merkur», Plattform Gegenzauber

Ulrich Woelk «Nacht ohne Engel», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bettina Keller

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck

„Der Magier im Kreml“ fasziniert. Ein Roman, der sich an der Seite eines scheinbar fiktiven Beraters ganz nah an die Person Wladimir Putin heranwagt. Ein Buch, das mich staunen lässt und mit all den Realbezügen einen Schauer des Schreckens über meinen Rücken zieht.

Der Westen reibt sich noch immer die Augen. Seit über einem Jahr Krieg in Europa, ein Krieg, der nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern schon viel früher mit der Annexion der Krim und den kriegerischen Handlungen im Donbas. Eine „Spezialoperation“ die nach russischen Vorstellungen schnell und als „Befreiung“ hätte funktionieren sollen. Kein Wunder sind die Sachbuchregale in Buchhandlungen voll mit Publikationen, die zu erklären und verstehen versuchen, warum sich die russische Seele und allen voran Wladimir Putin so sehr in ihrer Existenz, ihrem Stolz und Selbstverständnis bedroht fühlen, das man bereit ist, einen jahrelangen Abnützungskrieg anzuheizen, der eine ganze Generation RussInnen und UkrainerInnen traumatisieren wird.

«Die einzige Waffe, die ein Armer hat, um seine Würde zu bewahren, ist es, anderen Angst einzuflössen.»

Die Figur des russischen Präsidenten wurde und wird zum Mysterium, für die einen zur Verkörperung des Bösen, für eine grosse Mehrheit der Russen selbst zur Lichtgestalt im Kampf gegen eine globale Verschwörung. Und während deutsche PolitikerInnen auf Grossdemonstrationen fordern, man müsse dem Despoten die Hand reichen, man müsse um jeden Preis verhandeln, sterben Tausende Unschuldiger in einem unkontrollierten Gemetzel, wird der Osten der Ukraine unter russischem Dauerbeschuss zur real gewordenen Apokalypse.

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck, 2023, aus dem Französischen von Michaela Meßner, 265 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-406-79993-8

Kein Wunder, dass ein Roman mit dem Namen „Der Magier im Kreml“, geschrieben von einem Politikwissenschaftler nicht nur die Hoffnung weckt, mit der Lektüre etwas mehr zu verstehen, sondern all jenen Bestätigung liefert, die schon immer „wussten“ wie die russische Seele tickt, wie ein diktatorisches Staatsgefüge funktioniert. Der italo-schweizer Schriftsteller und Wissenschaftler wollte eigentlich ein Essay schreiben, verstand aber schnell, dass er mit den Mitteln der Fiktion den Zusammenhängen eines russischen Machtapparates viel näher kommen würde.

«Die erste Regel der Macht lautet, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.»

Erzählt wird das Zusammentreffen eines Sprachwissenschaftlers und eines ehemaligen Einflüsterers Wladimir Putins; Wadim Baranow. Wadim Baranow, dessen real existierendes Pendant Wladislaw Surkow war, von 2013 bis 2020 Putins Berater, mittlerweile von der Bildfläche verschwunden. Wadim Baranow, die einzige nicht reale Figur im Roman, erzählt vom Aufstieg Putins, einem Mann den man aus dem unscheinbaren Büro des russischen Geheimdiensts holte, um die alten Machtstrukturen nach den verheerenden Annäherungen Gorbatschows und Jelzin an den Westen wieder herzustellen. Damals glaubte man noch, der kleine blonde Mann mit dem leicht linkischen Gang wäre die ideale Figur, die sich leicht führen liesse, die dem russischen Machtapparat jenen Glanz und jene Grösse zurückgeben würde, die man vor den Augen der Weltöffentlichkeit verloren hatte. Aber Wladimir Putins Fähigkeiten gingen weit über jene eines reinen Apparatschiks hinaus. Von Beginn weg schaffte es der russische Präsident sowohl im Kreml wie in seinem Riesenreich in einem Klima der Angst und Verunsicherung seine Macht zu zementieren und dem russischen Selbstbewusstsein das zurückzugeben, was man ihm genommen hatte.

«Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar beidem zugleich.»

Giuliano da Empolis Roman fasziniert, weil er mir als Leser nicht den leisesten Zweifel lassen will, der Autor wüsste nicht haargenau, wie der russische Staatsapparat tickt. Giuliano da Empolis Erzählen ist allglatt, auf Hochglanz getrimmt. Dass die Kritik derart klatscht, beweist, wie sehr sich alle bestätigt fühlen, die schon immer ahnten, wie durchtrieben und gefährlich jener unscheinbar wirkende Mann war und ist. Als Sachbuch funktioniert das Buch sehr wohl. Ich verstehe, warum die naive Haltung, man müsse nur mit der offenen Geste der Verhandlungsbereitschaft auf den Kriegsherrn zugehen, angesichts dieser Lektüre unmöglich scheint. Aber als Roman fehlt mir nicht nur die Nähe zum Personal, sondern auch eine gewisse Zurückhaltung in der Art des Erzählens. Das Buch passt perfekt in eine Zeit, in der man krampfhaft nach Erklärungen sucht. Das Buch passt perfekt in die Vorstellung, dass der Kreml der Nabel des Bösen sei. „Der Magier im Kreml“ ist nicht der Versuch einer Erklärung, sondern Erklärung selbst, geschrieben von einem Könner, der nie nur einen Satz lang zweifelt.

Giuliano da Empoli ist ein italo-schweizerischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Er ist der Gründer von Volta, einem pro-europäischen Think Tank mit Sitz in Mailand, und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po Paris. Zuvor war er stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er ist Autor zahlreicher, international veröffentlichter Essays, darunter zuletzt «Ingenieure des Chaos» (2020) über neue Propagandatechniken, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. «Der Magier im Kreml» ist sein erster Roman. In Frankreich wurden über 300.000 Exemplare verkauft und die Rechte inzwischen in fast 30 Länder vergeben, das Buch wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française und war Finalist für den Prix Goncourt.

Michaela Meßner geboren in Mainz, lebt als Literaturübersetzerin in München. Sie hat u.a. Werke von Alexandre Dumas, Anne und Emily Brontë, Jean Baudrillard und César Aira ins Deutsche übertragen. 1992 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Francesca Mantovani, Editions Gallimard

Norbert Scheuer, einer der aktiven Vulkane in der Eifel – und Gast im Literaturhaus Thurgau

Dass Norbert Scheuer Gast im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben war, freute mich ganz besonders. Nicht nur weil ich ein grosser Bewunderer seines Schaffens bin, sondern weil ich der Überzeugung bin, dass Norbert Scheuers Kunst mit dem physikalischen Begriff der Singularität perfekt beschrieben ist.

Norbert Scheuer, 1951 geboren, lernte zuerst Elektriker, dann Physiker, später Philosoph mit einer Magisterarbeit über Kant, um sich mit dem Wechsel ins neue Jahrtausend mehr und mehr als ernst zu nehmende literarische Stimme über die Landesgrenzen hinaus zu etablieren. Das zeigen nicht nur Preise und Nominierungen, sondern auch die Konsequenz, mit der Norbert Scheuer schreibt. Sei dies nun in seiner Themenwahl, der Verortung seiner Geschichten, der Einbettung in die Zeit und im Umstand, dass Norbert Scheuer bis zu seiner Pensionierung als Systemprogrammierer bei der Deutschen Telekom arbeitete.

Angekündigt im ursprünglich gedruckten Programm war Norbert Scheuer mit seinem 2019 erschienen Roman „Winterbienen“, der nicht nur hochdekoriert ist, sondern in meinem Freundes- und Bekanntenkreis ein Lektüremuss wurde. Umso überraschter war ich, dass „Winterbienen“ nun von „Mutabor“ überholt wurde und Norbert Scheuer neben Gedichten und Erzählungen bereits seinen neunten Roman präsentiert.

„Mutabor“ ist die Geschichte um Nina, eine junge Frau. Sie will weg, ist aber noch nicht volljährig. Weg, weil man sie alleine lässt, alleine mit dem Geheimnis um einen nicht bekannten Vater, allein mit dem Geheimnis einer verschwundenen Mutter, weg von einem Ort, an dem sie wie mit einem Bann belegt scheint, einem Makel, dem Mahl der Ewigversehrten.
Ich liebe Norbert Scheuers Personal, nicht erst in ihrem neusten Roman. Nina, eine junge Frau, der ich schon im Roman „Am Grund des Universums“ begegnete, Paul, der die Hauptfigur im Roman „Die Sprache der Vögel» war, Ninas Grossvater, der sie in seinem hellblauen Opel Kapitän herumchauffiert, Evros, der griechische Wirt, der in einer Schublade eine kleine Flöte aus Schilfrohr und Bierdeckel einschliesst, die er mit kryptischen Texten beschriftet oder die alte Dame, die Nina ihre Tante nennt, die Nina mit Büchern das Tor zur Welt aufmacht. Und alle haben sie ihre Geheimnisse.
Kall, das Dorf, ist Welttheater. Kall ist Epizentrum. Kall ist Ausgangslage und Brennpunkt.

Norbert Scheuer kam in der Westeifel zur Welt, lebt und schreibt in der Eifel, ausser er weilt für ein Stipendiat zum Beispiel am Bosporus. Norbert Scheuer lässt alle seine Bücher auf jener Bühne spielen, dem Landstrich zwischen Köln und der Grenze zu Belgien. Ich kenne kaum jemanden im Literaturbetrieb, der eine ganz bestimmte Gegend so sehr zu seiner Bühne macht. Norbert Scheuer erzählte, er wäre erst mit seinem neusten Roman zum ersten Mal an seinem Heimatort zu einer (Benefiz-)Lesung eingeladen worden und sei ganz glücklich darüber gewesen, dass ihn ein gewisser Respekt angesichts seines Erfolgs vor gereizten Reaktionen schützte, denn nichts an Scheuers Roman idealisiert.

«Mutabor» ist das Zauberwort aus Wilhelm Hauffs Märchen vom Kalif Storch. Mutabor ist lateinisch und heisst „Ich werde verwandelt werden“. Nina will in jene verwandelt werden, die sie eigentlich ist. Sie «sucht» das Zauberwort zu einer ihr verschlossenen Welt? Norbert Scheuer hat sein Zauberwort in seiner Sprache gefunden.
Seine Romane sind unglaublich facettenreich. Als ich ihn zum ersten Mal gelesen hatte, verstand ich vieles nicht, manches bleibt mir bis jetzt verborgen. Das mag Absicht sein, denn Scheuers Romane wollen nicht ausleuchten, nichts erklären, nichts offenbaren. Das Geheimnis ist Teil des Menschseins, sein Schreiben das Sichtbarmachen der Welt.

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Norbert Scheuer «Mutabor», C. H. Beck

Waren Sie schon einmal in der Eifel? Weil ich alle Bücher Norbert Scheuers gelesen habe und der Autor eine meiner Lieben ist, die mich niemals enttäuschte, war ich schon so oft in der Eifel, wenn auch noch nie physisch. Norbert Scheuer schafft etwas mit seinem Erzählen, was nur wenigen gelingt: Unmittelbarkeit.

„Mutabor“, heisst das Zauberwort, mit dem sich der Kalif Chasid und sein Grosswesir Mansor in Wilhelm Hauffs Märchen von Störchen zurück zu Menschen verwandeln können, wenn die beiden nicht lachen. Das lateinische „Mutabor“ heisst „Ich werde verwandelt werden“.

Norbert Scheuer «Mutabor», illustriert mit Zeichnungen von Erasmus Scheuer, C. H. Beck, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-406-78152-0

Nina lebt in Kall im Urftland, einem kleinen Ort in der Eifel. Nina möchte verwandelt werden, sucht nach dem Zauberwort Mutabor, das sie endlich dorthin bringt, wo sie sein möchte. Weg aus der Ungewissheit, woher sie kommt, wer ihr Vater ist, wo ihre Mutter geblieben ist, weg vom Geheimnis, das sie erahnt, über das sie aber niemand aufklärt. Weg vom Ausgesperrtsein, weg von Getuschel, weg vom Makel, weg von allem, was sie an Kall kettet. Weg nach Byzanz zum Palast der Störche, eine Reise, die sie mit ihrem Grossvater, als er noch lebte, unzählige Male mit seinem durchgerosteten hellblauen Opel Kapitän angetreten und nie über die Hügel des Urftlands gekommen war. Weg auf eine der vielen Inseln Griechenlands, von der Evros, der griechische Gastwirt im Ort, immer wieder erzählte, bei dem sie nach dem morgendlichen Zeitungsaustragen ihr Geld verdient.

Nina ist allein. Warum verlässt eine Mutter ihr Kind? Warum taucht eine Mutter plötzlich weg? Wie kann man ein Kind alleine zurücklassen? Als Ninas Mutter verschwand, war Nina noch nicht volljährig, wohnte zwar schon in einer winzigen Mansardenwohnung, stand aber stets unter der Kontrolle eines Vormunds. Ihr neuster, der „Krapfen“, eine Frau, die Nina zu viel mehr zwingt, als sie geben möchte und dabei ihren Hunger nach echter Liebe und Zuneigung nur noch potenziert, ist eine der vielen, die Nina mit jeder Geste zeigen, dass sie Aussenseiterin und Randständige ist und bleibt. Die einzige im Ort, bei der sie so etwas wie Geborgenheit, ein warmes Nest findet, ist die ehemalige Lehrerin Sophia Molitor, eine Frau, die als Witwe alleine in einem grossen Haus lebt und Nina jenes Tor zur Welt öffnet, weil sie das Mädchen das lehrt, was die Schule nicht vermochte. Aber auch bei „Tante“, wie Nina Sophia liebevoll nennt, sind Fragen nach der Mutter ungeliebt. Nina spürt, dass selbst Sophia nicht mit offenen Karten spielt, Geheimnisse unter Verschluss hält. So wie Tante Sophia von ihrem Mann Eugen heimgesucht wird, so ist es der Geist Ninas Mutter, der sie nie zur Ruhe kommen lässt.

«Jeden Moment verändert sich alles und alles verändert jeden Moment.»

Einzig Paul lässt Nina hoffen. Als Nina Mädchen war, hatte Paul kein Auge für sie. Aber nun, Paul kehrte als Versehrter aus einem Afghanistaneinsatz der Bundeswehr zurück, hofft Nina auf Paul. Sie spürt, dass sich da etwas öffnen kann, dass sie in und mit Paul etwas finden kann, was ihr bisher verwehrt blieb. Und tatsächlich kommt es zu einer zaghaften Annäherung und irgendwann zu jener einen Nacht, die die Tür aber auch gleich wieder verschliesst. Paul entzieht sich Nina. Und Nina weiss einmal mehr nicht, wie ihr geschieht, was die Gründe sind, warum sie wie eine Leprakranke gemieden wird.

Norbert Scheuer Roman ist ungemein facettenreich und von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Kann sein, dass man sich einschüchtern lässt von der Vielstimmigkeit des Personals, von der Veielstimmigkeit des Lesegefühls, einmal dunkel, einmal hell, von den mit kryptischen Texten beschriebenen Bierdeckeln in der Schublade des griechischen Wirts, die zusammen mit Ninas Traumzeichnungen den Roman illustrieren, von Traum- und Wahnbildern, die die Geschichte permanent kippen lassen. Aber wer sich gerne von wirklicher Schreib- und Erzählkunst, von Sprachmagie fesseln lassen will, ist mit dem neusten Roman aus der Feder Norbert Scheuer wunderbar bedient.

Norbert Scheuer erzählt zwar von der kleinen Welt in Kall im Urftland, aber eigentlich von den grossen Themen des Menschseins. Von Liebe und Tod, von der Sehnsucht nach Nähe und Ferne. Auf nicht einmal 200 Seiten macht Norbert Scheuer das Kleine zur grossen Bühne. Und wer in Norbert Scheuers Roman- und Erzählwelt zuhause ist, trifft sie alle wieder, die in seinen bisherigen Romanen grosse und kleine Auftritte hatten.

Nach der Lektüre schiebe ich „Mutabor“ zu all meinen Norbert-Scheuer-Schätzen in meinem Bücherregal, mit Wehmut darum, weil Norbert Scheuer so sehr mein Herz bewegte.

Norbert Scheuer liest am Dienstag, den 20. September 2022 im Literaturhaus Thurgau aus seinem neuen Roman «Mutabor», obwohl im gedruckten Programm der Roman «Winterbienen» angekündigt wird.

Illustration von Erasmus Scheuer aus dem Roman «Mutabor» von Norbert Scheuer – mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben

Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, «Am Grund des Universums» (2017) und «Winterbienen» (2019), das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, zum Bestseller sowie ausserdem in viele Sprachen übersetzt wurde. Er erhielt dafür den Wilhelm-Raabe-Preis 2019 und den Evangelischen Buchpreis 2020.

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Am «Ort der Erquickung» mit Zora del Bouno

Weil das Literaturhaus im vergangenen Frühling gezwungen war, wegen Corona Veranstaltungen zu verschieben oder gar abzusagen, wurden zwei jener Lesungen ins Kunstmuseum in der Kartause Ittingen verlegt. Ein Glücksfall für die Schriftstellerin Zora del Buono und ihren Roman «Die Marschallin» und ein gutes Zeichen in die Zukunft!

Für einmal hatte der Zwang, sich wegen der Auswirkungen der Pandemie etwas einfallen zu lassen, auch eine gute Seite. Was mit den ersten zwei Veranstaltungen in einer Kooperation von Kunstmuseum und Literaturhaus Thurgau begonnen hat, zeigt alle Vorzeichen, dass daraus eine fruchtbare Zusammenarbeit der beiden Institutionen werden kann. Zum ersten Mal gastierte «Literatur am Tisch» weder im Wohnzimmer des Intendanten des Literaturhauses noch im Bodmanhaus in Gottlieben selbst, sondern in einem der schönsten Räume, den das Kloster Ittingen zu einem Juwel im Thurtal macht.

Einst war es der repräsentative Speisesaal der Kaurtause, in dem allerdings nur an Sonntagen gespeist wurde. Und weil der Orden der Kartäuser ein eremitischer Orden ist, der sich ganz der Kontemplation und damit dem Schweigen verschreibt, wurde auch an den sonntäglichen Mittagessen geschwiegen, einzig begleitet durch geistliches Vorlesen in Latein. In jenem Raum an der Schmalseite unter dem Kruzifix sass für einmal nicht ein:e Prior:in, sondern die Schriftstellerin Zora del Buono. Um 18 Uhr nicht für eine Lesung in gewohntem Rahmen, sondern mit 11 Gästen zusammen zu Speis und Trank und einer äusserst angeregten Diskussion über ihren aktuellen Roman «Die Marschallin«. 

Im Anschluss daran las die Schriftstellerin im Museumskeller, in jenem Teil, in dem das «Adlerflügelfahrrad mit aufgesetztem Drachendeck», ein Kunstwerk von Gustav Mesmer auf einer hölzernen Rampe steht, als wolle es in den Himmel abheben. Was auf der Rampe im Moment erstarrte, passierte dafür umso mehr auf der Bühne mit der Geschichte um die Grossmutter der Autorin, der Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, einer «Unglücksfamilie», einer Familie mit fünf Toten durch «höhere Gewalt», der Geschichte einer aristokratischen Kommunistin. Literatur hob ab!

Zora del Buonos Lesung im Museumskeller, moderiert von Cornelia Mechler

«Kartause Ittingen: Nie zuvor da gewesen (schlimme Bildungslücke), dafür gestern gleich im Doppelpack. Erst Literatur am (wunderbar gedeckten) Tisch mit köstlichem Käse und klostereigenem Wein. Danach die Lesung im Weinkeller (ohne Wein). Die Marschallin selig hätte es gefreut, in so stilvollem Ambiente präsentiert zu werden. Ich habe mich gefreut, von Gallus und Cornelia so munter durch den Abend begleitet zu werden; der Hund hat sich gefreut, von Gallus ausgeführt zu werden (der Weinkeller behagte dem Tier nicht); kurz gesagt: Freude allerseits. Grazie mille.» Zora del Buono

Am 28. Oktober geht im Museumskeller des Kunstmuseums die kleine Reihe aussergewöhnlicher Lesungen weiter. Dann liest Dragica Rajćić Holzner aus ihrem Roman «Liebe um Liebe«. Informationen zu dieser Lesung finden Sie auf der Webseite des Literaturhauses.

Das 54. analoge Literaturblatt ist versandfertig!

«Die sind aber auch wirklich wunderschön gemacht, war auch einmal Teil davon und sehr begeistert!» Jürgen Bauer

«… und dann schwimmt vor Jahresende noch so eine zauberisches Literaturpost in meine Wohnung . Das ist wirklich eine Besonderheit! Vielen lieben Dank» Katharina J. Ferner

«Gibt’s denn sowas noch? Handgeschriebene, gezeichnete Buchempfehlungen. Dochdoch, die gibt’s bei literaturblatt.ch!» Joachim B. Schmidt

«Lieber Schweizer Initiator des Literaturblattes, dass es so etwas Schönes und liebevoll Gestaltetes wie das analoge Literaturblatt noch gibt, begeistert mich. Als ich das Literaturblatt sah, war es um mich geschehen. Ich freue mich sehr und denke, die Zusendungen werden Jahreshighlights sein.» Birgitta Nicola, Buchhändlerin und Illustratorin

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

Kontoangaben:
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil
CH16 8137 3000 0038 6475 8
SWIFT-BIC: RAIFCH22

Zora del Buono «Die Marschallin», C. H. Beck

Zora del Buono schreibt über Zora Del Buono, ihre Grossmutter. „Die Marschallin“ ist die Geschichte einer Frau, die die Geschicke einer ganzen Sippe durch ein wirres Jahrhundert zu führen versuchte, herrisch und temperamentvoll, in einer Zeit, in der es nicht üblich war, dass sich starke Frauen über Konventionen hinwegsetzten.

Die beiden Veranstaltungen werden auf den 29. Juli 2021 ins die Kartause Ittingen «verschoben». Informationen dazu bald auf den Webseiten vom Literaturhaus Thurgau und dem Kunstmuseum Kartause Ittingen.

Sie schrieb sich das Del in ihrem Namen gross, um sich von einer adeligen Herkunft zu distanzieren. Nicht weil Zora Del Buono eine Frau des Volkes sein wollte, aber weil sie als überzeugte Kommunistin und Verehrerin Marschall Titos an ein Leben glaubte, das sich neu gestaltet, an eine Ordnung, die sich allen feudalen Gesellschaftsformen entgegenstellt. So wie Josip Broz Tito sich selbst ins Zentrum eines ganzen Landes stellte, so unumstösslich sah Zora Del Buono ihre Stellung innerhalb ihrer Sippe. Sie sah sich als Sonne im System. Die Planeten  sollten sich um sie drehen, um dann gegen Ende des Lebens festzustellen, dass sich das System doch nicht um sie allein drehen wollte, dass es Kräfte in Politik, Gesellschaft und der Familie selbst gab, die sich ihrem Diktat verweigerten.
Ganz am Schluss des Romans sitzt die greise gewordenen Zora in einem Altersheim im slowenischen Nova Gorica, an der italienischen Grenze. Von ihrer einstmals grossen Familie ist wenig übrig geblieben; ihr dement gewordener Ehemann Pietro Del Buono in Bari, ganz im Süden Italiens, ist weit weg, zwei ihrer drei Söhne tot, die Welt, auf die sie setzte weggebrochen und untergegangen. Ihr Blick zurück ist ein bitterer geworden, ihr Leben ein einsames, der Stern leuchtet kaum noch.

Zora del Buono, die Enkelin, zeichnet das Panorama eines Jahrhunderts. Einer Frau, die die Weltkriege miterlebte, die im faschistischen Italien mit einer grossbürgerlichen Vergangenheit und Gegenwart an die Ideen des Kommunismus glaubte, die Aufstieg und Niedergang des Duce erlebte, von Benito Mussolini, der ganz offen mit Hitler fraternisierte und Italien zu einem Trümmerfeld machte, die als gebürtige Slowenin mitansehen musste, wie ihre Landsleute in Lager gepfercht wurden und es nur einen einzigen Weg in die Freiheit zu geben schien; den an der Seite Titos, der Jugoslawien zu einem Musterstaat machen wollte, blockunabhängig.

Zora del Buono «Die Marschallin», C. H. Beck, 2020, 382 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-406-75482-1

„Die Marschallin“ ist auch der Roman einer Familie, die in den Wirren der Geschichte zerrieben wird, an den fixen Vorstellungen eine Patriarchin. Von einer Familie, die von sich ein Bild erzeugen will, die durch ein Jahrhundert wankt, nicht nur weil die Geschichte verrückt spielt, sondern das Schicksal mit aller Härte genau dort sein Opfer sucht, wo es am meisten schmerzt. Zora Del Buonos Ehe mit dem Radiologen Pietro Del Buono, den sie gegen Ende des ersten Weltkriegs kennenlernt, dem sie nach Bari folgt und zusammen eine Klinik eröffnet, mit dem sie sich den Kommunisten anschliesst, sich ganz nah an den Führungskräften jener Bewegung orientiert und aktiv am Widerstand gegen den grassierenden Faschismus teilnimmt, ist keine leichte. Zora lässt sich weder ein- noch unterordnen. Sie bleibt eigenwillig, so sehr, dass sie einmal sogar die Koffer packt, voll mit Medikamenten aus den Arzneischränken ihres Ehemannes, um den Partisanen in ihrer Heimat in Slowenien zu helfen. So sehr, dass die Jahrzehnte später zusammen mit ihrem Mann aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen wird, weil sie zu einem verbrecherischen Puzzleteil einer Geldbeschaffungsaktion wird.

«Die Marschallin» auf dem 54. analogen Literaturblatt

Das Leben nimmt nicht jenen Verlauf, den Zora ihrem Leben aufdrücken will. Nicht das politische Leben, nicht das gesellschaftliche, nicht einmal das Leben in der Familie. Bis hin zu ihren Enkelkindern. Zora, die Schriftstellerin, erzählt von von ihrer Grossmutter Zora Del Buono, eine Geschichte, in der eine ganze Familie in der Hitze von Gewalt, Krieg und Intrige zu verdampfen droht.

Man spürt als Leser das Feuer in diesem Roman, die Hitze der Leidenschaft; jene der alten Zora in ihrem Tun, jene der jungen Zora in ihrem Erzählen!

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, lebt in Berlin und Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift «mare». In der Reihe «Naturkunden» bei Matthes & Seitz veröffentlichte sie den Band «Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen».

«Death valley coffee shock» von Zora del Buono auf der Plattform Gegenzauber

Rezension von «Hinter den Büschen, an eine Hauswand gelehnt» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau