Brugger Literaturtage 2016: Franz Dodel «Nicht bei Trost», Edition Korrespondenzen

logogebilde16Seit nunmehr 14 Jahren schreibt der Berner Schriftsteller und Dichter täglich weiter an einem endlosen Poem mit dem Übertitel «Nicht bei Trost». Zumindest bezieht sich der Titel nicht auf sein Unterfangen, viel mehr auf die Art wie er schreibt, wie sich Franz Dodel von seinen Gedanken treiben, wegtreiben, davondriften lässt.

Dabei hat sein Schreiben nichts von Zufälligkeit, orientiert sich streng nach dem Muster der japanischen Haikus; eine fünfsilbige Strophe, gefolgt von einer siebensilbigen, abwechselnd, endlos fortgesetzt, jeweils einige Silben pro Tag. Und ich bin als Leser auch nicht gezwungen, sein Endloshaiku auf der ersten Seite des jeweiligen Bandes zu beginnen. So wie Franz Dodel jeden Tag weiterschreibt, seine Gedanken schlingern und mäandern, kann ich als Leser auch überall einsteigen. Kein Wunder fühlen sich seine wunderschönen Bücher in der Hand wie Stundenbücher an, wie Gebetsbücher, in schwarzes Leder gebunden, jederzeit überall aufzuschlagen, um in Dodels Gedankenwelt einzutauchen. Dodels Unterfangen erinnert mich ans Führen eines Tagebuchs, nur nach strengen formalen Regeln. Betrachtungen, Beobachtungen, Gedanken zu Kunst, Literatur, Religion und vielem mehr, starke Zeilen, tiefe Gedanken, die sich leicht ins eigene Bewusstsein einbrennen. Ein Buch fürs Nachttischchen, wo es aufgeschlagen liegen bleiben soll, um irgendwann wieder zu Wort zu kommen.

Nicht bei Trost. DAS MATERIAL (Installation)
Nicht bei Trost. DAS MATERIAL
(Installation)

Entschwinden bedroht
macht plötzlich keinen Sinn mehr
[31101] ich bleibe wachsam
wie einer der aufmerksam
zuhört obwohl er
das was er hört nicht versteht
ohne da zu sein
bin ich doch ganz und gar da
am Waldrand sind mir
die schwebenden Lichtsäulen
nicht entgangen die
bei tiefstehender Sonne
flimmernden Türme
aus Millionen kleinster
Motten jede ein
um nichts kreisender irrer
hell leuchtender Punkt
und da ist sie wieder die
Freude darüber
eine Gesetzmässigkeit
zu finden niemand
drängt mich sie zu begreifen
es beruhigt mich
dass ich ihr unterliege
es ist als ob ich
mich unter meinesgleichen
widerstandslos von
Nichtigkeit zu Nichtigkeit
mittreiben ließe
ich schiebe die Erwartung
einer Erklärung
immer wieder und weiter
hinaus so dass es
am Zeitrand leicht sein wird mich
zu überraschen

Und nebenbei: Während sich auf der rechten Seite Zeile an Zeile reiht, verdeutlicht Franz Dodel sein Poem jeweils auf der linken Seite mit Erläuterungen und Illustrationen. Sie sind Referenz an all die Geschichten, Bilder, Leben, von denen sich der Autor beim Schreiben umkreisen lässt. Eine Art des Assoziierens. Die strenge Form, das tägliche Schreiben zwingen Franz Dodel zur steten Auseinandersetzung.
Und noch eine besondere Geschichte: Meist schreibt man ein Manuskript und sucht dafür einen Verlag. In Franz Dodels «Fall» war es der kleine Wiener Verlag Edition Korrespondenzen, der auf die Arbeit des Autors aufmerksam wurde und um eine Zusammenarbeit bat, um aus der Spur im Netz ein Buch zu machen.
Inhaltlich, visuell und taktil ein Buch der Sonderklasse! Schön, dass die Brugger Literaturtage 2016 Franz Dodel einluden und mir diese Entdeckung schenkte!

img_0033Franz Dodel, geboren 1949 in Bern, studierte Theologie und schloss ab mit einer Dissertation über die Spiritualität der Wüstenväter. Er arbeitet als freier Autor und als Fachreferent für Theologie und Religionswissenschaften. Die bei der Edition Korrespondenzen erschienen Bände wurden 2004 im Wettbewerb «Die schönsten Bücher der Schweiz» und 2008 als «Eines der schönsten Bücher Österreichs» ausgezeichnet. 2003 erhielt Franz Dodel den Heinz-Weder-Preis für Lyrik.

Webseite des Autors (Franz Dodel verspricht eine Neugestaltung! Ich bin gespannt.)

Brugger Literaturtage 2016: Ursula Fricker «Lügen von gestern und heute», dtv

logogebilde16Die Brugger Literaturtage sind besondere Tage, besondere Literaturtage! Wo werden Bücherfreunde wirklich eingeladen? In Brugg! Dort lässt man seine Gäste höchstens für die Räucherwurst mit Kartoffelsalat anstehen, aber nicht für des Fest im Literaturstädtchen Brugg. Die Stadt gönnt sich den Luxus eines stadteigenen Bücherfests, organisiert durch die Vereine Salzhaus und Odeon.

Ganz im Gegensatz zu vielen anderen, viel grösseren Kulturstädten, in denen ehrenamtlich arbeitende Vereine bei den Vorbereitungen zu einem Literaturfestival um jeden Franken betteln müssen! Peinlich dann, wenn sich solche Städte gar Buchstadt nennen. So verwundert es nicht, dass Brugg im Licht dieses Festivals leuchtet, das man mit viel Selbstbewusstsein und Tradition jedes Jahr im Wechsel mit der Partnerstadt Rottweil zum Blühen bringt, seit über 30 Jahren!

Neben Dana Grigorcea, Jonas Lüscher, Franz Dodel, Vera Schindler-Wunderlich, Reinhard Jirgl, Inka Parei, Andrei Mihailescu und Teresa Präauer war auch die in Berlin lebende Schaffhauserin Ursula Fricker mit ihrem Roman «Lügen von gestern und heute» (32. Literaturblatt!) Gast in Brugg. In ihrem vierten Roman, dem ersten, der sowohl in seiner Thematik wie in seinen Perspektiven weit über img_0065-1die bisher erschienen Romane hinausgeht, sind es Brüche, die die Autorin miteinander verwebt. Jener von von der jungen Isa, die mit der Familie bricht, getrieben nun endlich mit ihrem Leben Wirkung zu erzeugen. Jener von Beda, die mit ihrer Flucht aus dem Kaukasus mit ihrer Vergangenheit brach und im «neuen» Leben, in der neuen Stadt, im neuen Land wieder zum Abbrechen gezwungen wird; von ihrer Liebe, von ihrem wirklichen Selbst. Und jener von Innensenator Otten, der all die Brüche in seiner Vergangenheit spürt und jenen als Politiker, Vater und Ehemann, jenen, der ihn mit einem Mal einsam werden lässt. Ursula Fricker versteht es, viel Nähe zu den Protagonisten zu erzeugen, auch wenn der Eindruck aufkommen kann, die Autorin hege nicht gleichmässig Sympathien für jeden ihrer Protagonisten. Warum sollte sie auch! Beda verkörpert Wahrhaftigkeit, Otten die guten Seiten hinter allen Fassade, und Isa all jene, die mit grossen Idealen die Selbstreflexion, den Zweifel verlieren. «Lügen» im Titel, weil sie nicht einfach bloss schlecht sind. Fast jeder braucht sie, um sich aufrecht im Leben halten zu können.

5286Ursula Fricker, geboren 1965 in Schaffhausen. Sie lebt heute in der Nähe von Berlin. Tätig in der Theaterpädagogik und Sozialarbeit, arbeitete als freie Journalistin, u.a. für die SZ am Wochenende und den Freitag.
2004 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung, 2012 nominiert für den Schweizer Buchpreis, u.a. «Das letzte Bild» (2009), «Ausser sich» (2012), «Lügen von gestern und heute» (2016).

Ursula Fricker liest an der Schaffhauser Buchwoche!