15. Frauenfelder Lyriktage – 80 Jahre Beat Brechbühl

Auf dem Programm der 15. Frauenfelder Lyriktage standen Lesungen, Gespräche mit John Burnside, Zsuzsanna Gahse, Jürg Halter, Anja Kampmann, Sepp Mall, Marina Skalova und Christian Uetz und eine Performance von und mit Nicole Bachmann. Einer der Höhepunkte war eine Laudatio von Dichterfürst zu Dichterfürst: Christian Uetz über Beat Brechbühl:

«Warum finden die Frauenfelder Lyriktage statt? Elke Bergmann, wunderbare Mitinitiantin, du wirst es mir verzeihen, wenn ich hier sage: wegen Beat Brechbühl. Aber das ist nicht die Frage. Warum findet in Frauenfeld ein Lyrikfestival und das von internationalem Rang statt? Es gibt nur ganz wenig reine und gar mehrtägige Lyrikfestivals im Deutschsprachigen Raum, und in der Schweiz neben dem als Stadt zwar grösseren aber als Lyrikfestival kleineren Basel nur dieses hier. Warum also? Weil es den lyrischen Fels Beat Brechbühl von Oppligen im Kanton Bern mit 21 Jahren für drei Jahre nach Egnach in den Thurgau verschlagen hat. Und weil es ihm da so gut gefallen hat, dass dieser Riesen-Findling 1987 hierher zurückgekehrt ist und in Frauenfeld das Grossartige realisiert hat. Das Grossartige seines Schreibens und seines Verlags und seit 1991 der Frauenfelder Lyriktage.

Angesichts seiner jüngsten Veröffentlichung Flügel der Sehnsucht, mit Gedichten seit seinen Anfängen, stellt sich Beat die Frage, ob man die Gedichte 57 Jahre nach Entstehen noch lesen kann. O ja, man kann, und wie man kann, und man kommt nicht zu Ende in Begeisterung. Denn Beat ist von Anfang an ein Wahnsinniger gegen den Pragmatismus und die Abgeklärtheit und die Stumpfheit der Welt, gegen die es nur die Gegenwelt gibt und gegen diesen Menschen nur den Gegenmenschen und gegen dieses Leben nur das Gegenleben. So heisst es in Temperatursturz von 1984: Es gibt nur Gegenwelten, Gegenmenschen, Gegenleben. Brechbühl ist ein Querulant aus Prinzip, ein Rebell als Lebenshaltung, ein Aufständischer aus Instinkt, ein Berserker gegen Kleinlichkeit und Grosskotzigkeit, gegen Kleinkariertheit und Grossunternehmen, ein Fürsprecher für alles Schräge, Komische, Unangepasste, zugleich ein deftiger Grübler und Melancholiker. Und nicht zuletzt ein derber Erotiker. Seine Romane Kneuss und Nora und der Kümmerer sind regelrecht durchsetzt von Sexakten und Nacktfeiern der freien Liebe. Aber zuerst und zuletzt ist ein heftiger Verachter von allen, deren Geist Geld heisst statt Leidenschaft für das nutzlose Andere. Und Leidenschaft ist überhaupt das wichtigste Wort in einer Würdigung von Beat. Er ist ein Unikum der Leidenschaft für die Poesie sowohl im eigenen Schaffen als auch in der Veröffentlichung von anderen in seinem Waldgut Verlag und im Atelier Bodoni. Und wie seine Gedichte sind auch die Bodoni-Blätter einzelne, rare, handgefertigte, handgepresste Gewächse der Schönheit. Brechbühls ganzes Leben ist Liebe der Poesie, und seine Gedichte sind immer eine Art Liebesgedichte, zumindest die Liebe der Gedichte und deren innigster und äusserster Intensität. 

Brechbühl hat wohl schon tausend Gedichte geschrieben und es werden immer mehr. Schon die Titel seiner Gedichtbände schlagen ein:
Traumhämmer
Temperatursturz
Der geschlagene Hund pisst an die Säulen des Tempels
Gesunde Predigt eines Dorfbewohners
Auf der Suche nach den Enden des Regenbogens
Spiele um Pan

Und viele mehr!

Aber auch seine Romane und seine Kinderbücher sind grossartig. Schnüff ist Kult. Und Kneuss in Kneuss und Quassel in Nora und der Kümmerer sind Hammercharakter und gleichen verdammt Beat Brechbühl selbst. Was ist der Hammer Brechbühl? Eben sein mutiger, den Arbeiter und den Nichtstuer preisender, hochsozialer Charakter, als Mensch wie im Werk. Und narrtürlich auch sein Humor, sein aberwitziger Schalk, und zuerst und zuletzt seine wilde Wut gegen alles Herzlose und Aufgeblasene und Dünkelhafte und Falsche.

Ich rezitiere Beat selbst aus dem Temperatursturz Seite 27:

Wenn doch alles so endgültig ist:
Die tausendjährigen Reiche,
die vergoldeten Exkremente der Diktatoren,
die gefängnismauerdicken Philosophien der Multis,
die schussbereiten Gewehre der Präsidenten,
die Unkenntnis oder die Not der Soldaten,
wenn doch alles so endgültig ist:
warum sterben die Gefolterten nicht immer an gebrochenem Herz,
warum geben viele Gefangene nicht auf,
warum benutzen wir Worte wie Psychopharmaka und Waffen,
warum bedeutet ein kranker Baum Hoffnung,
da – muss doch etwas sein,
angeboren, vererbt, es wächst wilder,
höher als die ganze Physik,
man hört es im Blut, es sprengt den Kopf,
es zerbricht Lügen und Horror,
irgendwann,
mit irgendwem,
irgendwo,
keiner weiss genau, was es ist,
es ist etwas wie Leben, wie Explosion.
Es ist jung, es ist grün.

(Dies Gedicht erschien 1984, als es noch kaum hellsehende Köpfe gab nicht nur für die militärische und heute auch digitale, sondern auch für die ökologische Selbstauslöschung der Menschheit.)

Und noch einmal Temperatursturz Seite 39:

Immer noch mild liegen die paar Hügel zwischen den Suchfingern der Bäche. Immer noch lau und begehrenswert wild reissen die Sommernächte an meiner unbestimmten Sehnsucht.
Immer noch pumpt mir mein Herz das Blut durch den Körper,
und immer noch helfen die Sonne mit und der Nebel und all deine Gerüche.

Immer noch bin ich in dieser Ecke Welt so frei, dass ich mir die Arbeit (zum Teil) und den täglichen Wahnsinn (zum Teil) selber einbrocken kann;
und ich wählte die Arbeit und den Wahnsinn.

In Die Bilder und ich erkennt sich Brechbühl im grossen Selbstbildnis Rembrands selbst. Seite 72:

Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten mit Erde geschrieben.
Mit schlechter Laune, Geldnöten, Frauen und Gläubigern.
Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten als grosse Reise bezeichnet,
als Weltumsegler, ständigen Aufbegehrer und Handwerker.

Und in Spitzwegs Alchimist. Seite 71:

In seiner Glaskugel betete er zur Materie,
schlief er in Träumen ausserhalb aller Bereiche,
liebte die Neugierde bis zur Erschöpfung –
in seiner Glaskugel am Rande der Zeit.
Er wollte mehr wissen, als es zu wissen gibt.
Er wollte mehr leben, als es zu sterben gibt.
Er wollte mehr lieben, als es zu verlieren gibt –
Der Mann dessen Himmelreiche unsterblich sind.

Temperatursturz Seite 96:

Silence intim.
Ich höre eines deiner Haare
auf den Teppich fallen.

Wie Beats Liebe zum Wein und die herrliche Möglichkeit, mit ihm Nächte durchzutrinken, in trautem Gespräch, gibt es noch etwas anderes hochgradig Ausserordentliches, was Beat betrifft, etwas kolossal Monströses, welches hier selbstverständlich auch genannt werden muss: es ist sein unendlicher Redefluss! Jeder und jede, der und die mit Beat Brechbühl spricht und ihm zuhört, gerät irgendwann in Not und denkt: Wie kann ich diesen Redefluss unterbrechen? Wie steige ich aus Beats Sprachfluss wieder aus? Wie komme ich da wieder weg? Wann macht Beat plötzlich doch einen kleinen Punkt, ein Komma, eine Pause? Und jeder und jede weiss: Man muss sich irgendwann mit Gewalt losreissen, es lässt nicht von selbst enden, denn Brechbühls Redefluss ist buchstäblich unendlich!  Aber was sagt uns Beat damit? Die Sprache ist unendlich, und sie hat Vorrang für uns, wir leben mehr von der Sprache und vom Erzählen als von der Realität und sie ist uns realer als alle Realität. Im Sprechen sind wir Menschen Gott und es ist uns in der Sprache alles möglich. Darum können wir so selbstverständlich lügen das ganze Leben lang, und wir können uns in der Sprache Fantastischeres und Grässlicheres und Anderes vormachen, als das was ist, und in der Sprache ist dann auch alles fantastischer und grässlicher und anders, als es ist. Im Sprechen sind wir Gott, und weil ich Uetz bin, sage ich: und im Schweigen auch. Und ich sage es gleich noch einmal: Im Poetischen oft schönster Weise und im Politischen meist monströser Weise und im Alltäglichen unendlich quasselnder Weise sind wir im Sprechen Gott, in der Tat aber nicht, und würden wir über alles nur sprechen miteinander, wären wir zumindest in quatschender Hinsicht vielleicht im Paradies. Es heisst mit Recht Taten statt Worte, aber auch das ist vor allem ein Wort, und eines, welches meistens nur gesagt wird, und es ist sonderbarerweise umgekehrt genauso wahr: Worte statt Taten, denn wenn wir über all den Horror, den wir Menschen begehen, nur reden würden, statt ihn auch zu tun, würden er gar nicht geschehen. Hättet ihr doch über die entsetzlichen Taten nur gesprochen statt sie auch zu tun! So viel ist gewiss: dass wir miteinander und zueinander sprechen können und ein Gespräch sein können, ist noch immer das Unfassbarste an uns, dass wir über alles reden können das ganze Leben, von morgens bis abends, Tag und Nacht, das ist noch immer ein so selbstverständlich gewordenes Wunder, dass es permanent vergessen wird. Beat Brechbühl aber ist auch in seiner unerschöpflichen Erzählfülle ein Wunder der Poesie, welches das Leben ist, wenn es zu Wort kommt, im Grässlichen wie im Wunderbaren.

Wenn Beat erzählt, dann wird das Leben lebendiger und die Gegenwart leuchtender und die Vergangenheit gegenwärtiger und die Zukunft offener. Und wenn ich hier schon als Würdiger für Beat fungiere, möchte ich es zum Schluss auch an unserem persönlichen Anfang und an unserer ersten Begegnung aufzeigen. Denn du Beat bist ja auch mein Entdecker, und ganz egal, ob es an mir überhaupt etwas Entdeckungswürdiges zu entdecken gibt, habe ich dir masslos viel zu verdanken und es ist mir tausendmal eine Ehre, für dich eine Rede zu halten. Nach meiner eigenen Erinnerung betrat ich im Februar 1993 deinen Verlag hier im Eisenwerk und sagte zu dir: Ich möchte mir den Verlag anschauen, und wenn er mir gefällt, lasse ich mein Manuskript mit Gedichten hier. Drei Wochen später kam ich wieder, und da hattest du mich gleich begeistert empfangen und gesagt: die Gedichte seien toll oder so ähnlich. Du erzählst die Geschichte immer in etwa so: Da trat kurz vor Feierband einer in den Verlag und sagte: Ich bin gut, lies jetzt sofort meine Gedichte. Du habest diesen Aufdringling spöttisch darauf hingewiesen, dass du noch anderes zu tun habest, er könne die Gedichte ja dalassen. Eine Woche später sei der schon wiedergekommen und hätte gefragt, ob du es jetzt gelesen habest, denn er sei gut. Und nachdem du ihn wieder subito weggeschickt, hättest du zum damaligen Mitarbeiter Martin Stiefenhofer gesagt: ich muss da jetzt mal reinschauen, sonst steht dieser Verrückte alle paar Tage hier. Und da hättest du das Manuskript zu lesen begonnern und schon bald gerufen: Die sind ja wirklich gut, verdammt gut! Und das Tollste ist jetzt, dass meine Erinnerung heute auch vor mir selber gar keine Chance mehr hat, und ich sehe mich jetzt schon selber, wie ich in den Verlag trete und sage: Ich bin gut, und so wie du es erzählst, ist es nicht nur poetischer, sondern auch wahrer und erfüllt Novalis: Poesie ist das echt absolut Reelle: je poetischer, desto wahrer.

© Caroline Minjolle

Vielleicht aber hast du meine Luren damals auch nur verlegt, weil ich aus Egnach komme, wo du drei Jahre gelebt und gearbeitet hast zur Zeit meiner Geburt, in der Druckerei von Noldi Schwitter und als Redaktor für die Zeitschrift Clou, und wo du deinen ersten Gedichtband Spiele um Pan geschrieben und gedruckt hast und wo es dir so gut gefallen hat, dass du auch heute noch von der Zeit in Egnach schwärmst. Wir aber schwärmen hier von dir Beat, und wir danken dir für das poetische Glück, womit du uns beschenkst, hier, in Frauenfeld, im Eisenwerk, an den Frauenfelder Lyriktagen.»

Beat Brechbühl an den Solothurner Literaturtagen 2019

Am 28. Juli 2019 wird Beat Brechbühl 80. Die 41. Solothurner Literaturtage feiern ihn als Dichter, Schriftsteller, Typograph und Verleger, als kreativen Geist und Initiator zahlreicher kultureller Projekte.

Das übliche Gehetze, so doof
Da wollte ich ein
einziges winziges Mal in diesem Jahr
mit mir gemütlich sein
und einen halben Abend (fast 3 Stunden) lang
nichts tun,
nur für mich was kochen, die
Seele und den Körper baumeln lassen, und
vielleicht einen Krimi –
da! bei ein bisschen Wein und Fernsehen:
schlaf ich ein, drei volle, gar traumlose, Stunden lang – ich
Trottel

(aus «Flügel der Sehnsucht – Alte und neue Gedichte» im Wolfbach Verlag)

Beat Brechbühl wirkt und arbeitet seit Jahrzehnten in Frauenfeld. Mittlerweile in einem Kellergeschoss des Eisenwerks, in prallvollen Räumen, in denen das entsteht, was den Waldgut Verlag und die Bodoni-Blätter unverwechselbar macht; Hier riecht man das Drucken. Hier prägt sich der Druckstock noch ins Papier, hinterlässt die Letter noch eine regelrechte Spur. In einem Gewölbe voller Papier, Schubladen, Setzkästen und Regalen öffnet sich ein Kosmos, wenn man Beat Brechbühl und seine Arbeit, seine Wirkungsstätte, wenn man ihn in seinem geistigen Zuhause besucht. Er sprudelt und schwärmt. Und überall hängen Zeugnisse einer langen Vergangenheit, wichtiger Begegnungen.

«Ich bleibe ein Papiermensch.»

Höchste Zeit, dass sich die Welt der Buchstaben, der Lyrik, der Literatur bei Beat Brechbühl mit einer gebührenden Ausstellung beim Streiter für das Schöne und Gute (und zwar nicht nur im Scheinwerferlicht) bedankt. Wie viele Lyrikerinnen und Lyriker hätten ohne Beat Brechbühls unermüdlichen Einsatz nie eine Stimme bekommen oder man hätte sie im deutschsprachigen Raum rechtlos vergessen.

Das Künstlerhaus S 11 an der Schmiedengasse in der Solothurn zeigt vom 30. Mai bis 16. Juni auf vier Stockwerken eine Ausstellung, die unter dem Titel «Das Leben ist rund wie ein Dreieck» Beat Brechbühls vielfältiges Wirken vor Augen führt und erleben lässt.

Im Parterre wird eine Druckmaschine stehen, die in Brechbühls Atelier Bodoni zu Hause war, bis sie vor etlichen Jahren der Schule für Gestaltung Bern und Biel geschenkt wurde, die sie jetzt für die Ausstellung ausleiht, samt Personal. Hier kann ein Gedicht von Beat Brechbühl gedruckt werden.

In den oberen Stockwerken werden Handpressendrucke und Bücher aus dem Atelier Bodoni zu sehen sein. Zudem gibt es einen kurzen Stummfilm über das Atelier Bodoni und eine Dia-Schau zur 1992 von Beat Brechbühl gegründeten Handpressen-Messe, die 2018 bereits zum 14. Mal im Eisenwerk in Frauenfeld stattfand, mit rund 50 Ausstellern aus verschiedenen Ländern Europas.

Eine Lese-Ecke wartet auf LeserInnen, eine Hörstation mit Geschichten aus Beat Brechbühls beliebten Schnüff-Kinderbüchern auf HörerInnen jeden Alters.

Eine grosse Auswahl der bekannten Bodoni Blätter mit Texten teils berühmter, teils noch zu entdeckender AutorInnen wird zu sehen, zu lesen und auch zu kaufen sein: «Besser ein guter Text an der Wand als ein schlechtes Bild im Schrank», sagt Beat Brechbühl.

Weil ich nicht…

Weil ich nicht öffentlich reden kann
und im Live-Interview nicht viel tauge,
bin ich Schriftsteller geworden.

Weil ich nicht singen kann,
bin ich Lyriker geworden.

Weil ich nicht zeichnen und malen kann,
bin ich Gestalter geworden.

Weil ich eine charakterlose Handschrift habe,
bin ich Typograf geworden.

Weil ich nicht lügen kann,
bin ich Dichter geworden.

Weil ich nicht die Geduld habe,
dürftige Gedichte von andern zu lesen,
habe ich Lieblings-Dichterinnen und -Dichter;
nach dem Umzug nur noch ca. 4 Laufmeter.

Weil ich nicht immer höllisch aufpasse
und deshalb oft das wuchernde Leben verpasse,
habe ich Lücken in meiner elften Biografie;
in diesen Lücken wohnen meine Poetischen Tiere
und das himmlische Flugvolk. Alle machen sie
Kinder; es sind die letzten.

Anders gelaufen –
Weil ich nicht Englisch kann, geriet
ich gleich aus dem Kindergarten nach Italien, dort flog mir
ein Buchverlag entgegen, den ich später gründete,
und nun laufen mir seit 30 Jahren die Bücher anderer so hartnäckig
nach und davon, dass ich meine eigenen Bücher schreiben möchte und
ich möchte laufen auf meinen Füßen, und mit
dem Körper und Hirn. Trotzdem war ich noch nie
in Paris.

30.6.2012
© Beat Brechbühl, Frauenfeld

Zu hoffen ist, dass auch der Kanton Thurgau jenen Mann zu würdigen weiss, der ein Leben lang viel weiter sah als bis zum eigenen Tellerrand, der die Literatur zu einer ganz eigenen Mission machte und Frauenfeld für viele Autoren zu einem Angelpunkt ihres Lebens.

Beitragsfoto © Martin Stiefhofer

Das 45. Literaturblatt hofft auf AbonnementInnen!

Reaktionen auf das 44. Literaturblatt:

«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller

«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller

«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin

«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller

«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin

Frauenfelder Buch- und Handpressen-Messe vom 2. bis 4. November

Die Frauenfelder Buch- und Handpressen-Messe ist eine einzigartige Werkschau von Büchern, Gestaltung, Drucken, Einbänden und Papieren. Veranstaltet wird sie alle zwei Jahre, 2018 bereits zum 14. Mal. Auf der Messe, die in zwei Hallen im historischen Eisenwerk in Frauenfeld stattfindet, präsentieren sich alte Handwerke im Bereich Druck und Papier und zeigen zeitgenössische, künstlerische Anwendungsmöglichkeiten von Bleisatz, Handpressendruck, Kupfertiefdruck, Handbuchbinderei, Holz- und Linolschnitt, Typografie, Papierschöpfen, Papierkunst, Druckkunst und Künstlerbuch.

Viele der Aussteller führen ihre Kunst sogar live am Stand vor, wozu zuvor mitunter tonnenschwere Maschinen in die Werkhalle manövriert werden. Die Besucher und Besucherinnen sind eingeladen, den Arbeiten zuzusehen, zu staunen, zu riechen, zu fühlen und mit den Künstlern ins Gespräch zu kommen. Und natürlich können sie alles, woran sie Gefallen finden, käuflich erwerben: alte und neue Bücher, Handpressendrucke, Einblattdrucke, Alben und Kassetten, Marmor- und Künstlerpapiere, hand- und maschinengeschöpftes Bütten, Kunst und Kleinkunst, Karten und Geschenke.
Die Austeller und Ausstellerinnen kommen aus Deutschland, Österreich, Frankreich, Irland, Liechtenstein und der Schweiz zur Messe nach Frauenfeld, und dies teilweise seit Jahren und Jahrzehnten. Andere junge Kollegen sind erstmalig mit dabei. Denn die «Schwarze Kunst» – so nennen die Handpressendrucker ihr Gewerk, inspiriert von der Farbe ihrer Fingerspitzen – findet beständig neue Adepten, die mit frischen Gestaltungs- und Anwendungsideen das alte Handwerk lebendig halten.

«Endlich ist er Ehrengast unserer HPM: Christian Ewald, am 30. November 1949 in Weimar geboren und dort aufgewachsen. Lehre als Schriftsetzer, später Studium der Grafik in Ost-Berlin. Lebt seitdem in Berlin-Köpenick. Da damals dem Jungdichter und -verleger politisch verboten wurde, Bücher zu drucken, hat er die Bücher von Hand geschrieben (er ist für mich immer noch der beste und förderlichste Kalligraf).

Zitat Verlagsgeschichte: Das erste Buch, das vom Verlag heraus-gegeben wurde, war zugleich das letzte Buch der DDR: Ostberliner Treppengespräche von Jan Silberschuh. Es wurde in 999 Ex. gedruckt und am 2. Oktober 1990 um 23.59 Uhr ausgeliefert; es wurde «eines der schönsten deutschen Bücher 1990» und erhielt den Preis der Stiftung Buchkunst in Frankfurt/Main.

Mit der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 endete die DDR. Seither werden in der Katzengraben-Presse jährlich zwei Werke (im Frühjahr und Herbst) in limitierter Auflage von 999 Exemplaren verlegt. Seit 2003 erscheinen Unikat-Editionen in einer einmaligen Auflage von 14 Exemplaren, der Hausnummer folgend: grafisch aufwendig hergestellte und handgeschriebene Buchausgaben. 2013 wurde der Verlag auf der Mainzer Minipressen-Messe für hervorragende Verdienste um das schöne Buch mit dem Victor-Otto-Stomps-Preis der Stadt Mainz ausgezeichnet.

Ich weiß nicht mehr, wann und wo wir uns kennengelernt haben. Für mich ist Christian Ewald in Sachen Bücher, Gestaltung und Präsentation seiner Werke einer der einfallsreichsten Menschen.

Vor 17 Jahren haben wir einander versprochen, in unseren Verlagen gegenseitig je ein Buch herauszugeben. Das Buch von Christian Ewald ist 2002 im Waldgut Verlag erschienen: Kann ein im Meer versenkter Traum an fremden Stränden leben? Fragen als Ansicht. Mit Collagen des Autors. Esther Menzi hat das Buch als Bodoni Druck 47 von Hand gesetzt, von Hand gedruckt. Die Collagen wurden in Berlin in Sepia auf Transparent-Papier gedruckt. Die Broschur wurde in Frau- enfeld von Hand gebunden.

Ich hoffe, dass ich mein Buch «Die japanische Bindung» für die Katzengraben-Presse bis zur HPM schaffe. Wenn Ja, gibts ein tüchtiges Fest mit dem Ehrengast. In jedem Fall macht Christian Ewald an der HPM «etwas mit blau angemalten Bäumen» und andere Überraschungen.» Beat Brechbühl, im Juni 2018

literaturblatt.ch fragt, Teil 4, Beat Brechbühl antwortet.

beat_brechbuehl_Foto_Amanda-GaechterBeat Brechbühl ist Schriftsteller, Dichter und Verleger, unermüdlicher Kämpfer für die Poesie und seit seiner Erstveröffentlichung «Kneuss» 1970 bis zu seiner neusten Veröffentlichung «Farben, Farben» 2015 ein ganzes Leben in Sachen Literatur unterwegs. 1939 in Oppligen, Kanton Bern, geboren, lernte er zuerst Schriftsetzer, wurde dann Redakteur und Verlagsmitarbeiter. Heute lebt Beat Brechbühl als Schriftsteller von Lyrik und Prosa, als Gestalter und Verleger (Waldgut Verlag) in Frauenfeld im Thurgau, Schweiz. Für sein schriftstellerisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, dem Bodensee-Literaturpreis, dem Kulturpreis des Kantons Thurgau und dem Buchpreis der Stadt Bern. Zuletzt erhielt er den Anerkennungspreis der Stadt Frauenfeld (2009).

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich!
Für mich ist das Leben: Geschichten. Einige davon finde ich so interessant oder komisch oder ekelhaft, dass ich sie andern erzählen will.

Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste, der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest?
Schreiben ist für mich immer schwierig. Ich habe nie leicht geschrieben (Was ist das?). Wie bei anderer Arbeit: Manchmal machts (skeptische) Freude, manchmal machts Ärger (einem selbst und andern), manchmal will ich es einfach machen.
Höhepunkt ist vielleicht, wenn ich die Schreibe gelungen finde. Tiefpunkte: Wenn ich im Thema stecken bleibe, wenn ich die Sprache nicht finde, wenn es mir verleidet. Wer sich vor seinem Schreiben fürchtet, soll es bleiben lassen und etwas anderes tun.

Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ich lasse mich von Vielem ver- und entführen, denke herum, schwärme, ärgere mich, rege mich auf – doch irgendwann muss die Arbeit die Form und Straffheit bekommen, die ich mir vorgestellt und vorgenommen habe. Und am Schluss wird gekürzt. Das tut oft weh, aber viel weher machts mir, wenn für mich Unnötiges in einem Gedicht, in einer Geschichte drinbleibt.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Was mir in den letzten Jahren immer wichtiger geworden ist: die Gesellschaft. Das gesellschaftliche Zusammenleben. Das friedliche, kreative, selbstverständliche Zusammenleben mit uns Menschen, mit den Tieren, der Erde, der Zukunft. Das ist für mich die / unsere Chance; nicht die einzige, aber die wichtigste. Diesen Sätzen brauche ich nicht anzufügen, dass ich mich dafür in voller Verantwortung denke und fühle; und oft nicht nur für meinen Teil.

Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Klar schau (höre, spüre, fühle) ich besser hin, wenn ich etwas wieder- oder/und weitergeben will.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibender mögen oder tust du aktiv etwas dafür/dagegen?
Wenn ich schreibe, versuche ich mich zu isolieren; ich schalte alle möglichen Stör- und Ablenkungsfaktoren aus und ab. Ich will möglichst intensiv in der Geschichte, im Gedicht drin sein, leben, Musik soll mich nicht beeinflussen oder ablenken; die muss in der Geschichte, im Gedicht drin sein. Ich trinke zB keinen Wein zum Schreiben, nur selbst angesetzten Tee.

Gibt es für dich Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Ich kenne auch beim Schreiben viele Grenzen. Meist sind es die selbstgesetzten, die einen fördern, fordern, oder hemmen. Grenzenlos ist für mich ein Begriff, in dem ich die Grenzen nicht sehe, spüre, merke. Grenzen nehme ich oft positiv; ich arbeite mit ihnen, selten abweisend. Die bequemsten Grenzen sind die, die ich nicht merke, oder nicht merken will.

Erzähl kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den du vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen hast?
Was soll ich Geheimtipps verbreiten? Wen es interessiert, soll unser Verlagsprogramm lesen. Wenn ich davon Namen nennen würde, wäre das ungerecht und anmaßend. Also: www.waldgut.ch

Zähl doch 3 Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben?
Robert Walser «Der Gehilfe» (Selbstverständlich habe ich damals die etwa 11bändige Ausgabe im Kossodo Verlag Genf gelesen. Und alles andere auch.)
Arno Schmidt «Zettels Traum» (Auch da: alles alles gelesen. Nur nicht mehr die Suhrkamp Ausgabe; ich kannte das ja alles….)
Orhan Veli Kanık «Fremdartig»

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wärst du nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller geworden, hätten sich deine Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob du weiter schreiben willst?
Mit 25 musste ich mich entscheiden: Fotografie oder Schreiben. Da damals in der Fotografie eine neue Mode herrschte (ran ans Objekt ohne Hemmungen…), war mir klar: Schreiben. – Schreiben aufhören, fertig, aus…? Was ist das? Kenn ich nicht.

Was tust du mit gekauften oder geschenkten Büchern, die dir nicht gefallen?„Bücher, die mir nicht gefallen?“ Mir soll ein Buch nicht „gefallen“; ich kaufte Bücher wegen ganz andern Kriterien, zB: muss das haben, will das haben, spricht mit mir, erweitert mich, bringt für mich Neues, usw.
Geschenkt bekomme ich selten etwas, Bücher noch seltener. Wenn ich die nicht haben möchte, kann ich das vielleicht sagen – oder ich sag nix und lege die Bücher an unserem Flohmarkt auf.

Schick mir bitte ein Foto von deinem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz.
Fotos von meinem Arbeitsplatz gibt es nicht.
1. hab ich leider schon seit Jahrzehnten keinen Fotoapparat mehr; von einem digitalen rede ich seit Jahren, und
2. handy Foto kann und will ich nicht.
3. Lohnt sich nicht zu fotografieren: Schreibtisch mit Computer drauf. Alles andere soll in meinem Kopf sein; Gedichte schreibe ich nach wie vor von Hand.

Weil ich nicht…

1

Weil ich nicht öffentlich reden kann
und im Live-Interview nicht viel tauge,
bin ich Schriftsteller geworden.

Weil ich nicht singen kann,
bin ich Lyriker geworden.

Weil ich nicht zeichnen und malen kann,
bin ich Gestalter geworden

Weil ich eine charakterlose Handschrift habe,
bin ich Typograph geworden

2

Weil ich nicht schlafen kann,
bin ich Tag- und Nachwandler geworden.

Weil ich nie Motorrad fahren konnte,
bin ich Fussgänger geworden.

Weil ich nicht lügen kann,
bin ich Dichter geworden.

Weil ich dies&das lachen kann,
bin ich kein Humorist geworden.

H1198_200_301Das Gedicht geht noch viel weiter und entstammt seinem Gedichte-Band «Böime, Böime! Permafrost & Halleluja! Erschienen 2014 beim Wolfbach Verlag, Zürich

Lieber Beat Brechbühl, vielen Dank!

Das war der 4. Teil einer kleinen Reihe. Anfang September antwortet Dominique Anne Schuetz. Seien Sie wieder dabei!