Ruth Erat «Zum Trocknen aufgehängte Flügel», Waldgut

Ruth Erats Zeichnungen sind nicht einfach Skizzen. Aus einem Strich gezogen spinnt Ruth Erat einen Faden. In ihren Gedichten spinnt sie den Faden tiefer, verwebt ihn assoziativ. Die Zeichnung darüber, der Text darunter. Entstanden sind «Tafeln», Blick- und Gedankenmomente, die mäandern zwischen leisem Spott, Humor und philosophischem Nachdenken.

Tatsächlich waren ihre Text- und Zeichnungskompositionen zuerst nur für Freunde in Schachteln gesammelt, lose in ihrer Reihenfolge, als wären es Bilder in einer Kartei. Irène Bourquin, selbst Lyrikerin und Herausgeberin im Waldgut Verlag im schweizerischen Frauenfeld, hörte die Texte und sah die Zeichnungen bei einer Atelierlesung, die «Viecher», wie sie die Autorin etwas despektierlich nennt. Assoziativ geordnet und neu miteinander verbunden sind es im wunderschönen Buch Zeichnungen und Texte geworden, die «zeichnend und schreibend einen Faden suchen und finden».

Ruth Erats Sprach- und Bildstücke mit Witz und Tiefgang setzen sich in der aktuellen Lyriklandschaft schon deshalb von vielen ab, weil sie sich ganz unverkrampft reimen. Wenn Illustration sonst den Text, das Geschriebene illustriert, illustriert Ruth Erat in «Zum Trocknen aufgehängte Flügel» vielmehr mit dem Text die Illustration. Das Wort, der Text, gibt dem zweidimensionalen Strich eine zusätzliche Dimension. Auf jeder Seite ist jeweils unter einer Illustration ein Gedicht gesetzt, zentriert, was etwas davon übrig lässt, dass es einst Tafeln waren. Bildtexte oder Textbilder, die sich nicht gegenseitig zu unterstützen versuchen, sondern sich gegenseitig auf dem jeweils andern aufstützen. Aufstützen zu etwas Grösserem!

So wie es in der japanisch-chinesischen Kalligraphie ein Schriftzeichen gibt, das «Nachglanz» bezeichnet, jenes Licht, das bleibt, auch wenn die Sonne bereits untergegangen ist, so glänzen Ruth Erats Schreib- und Zeichenfäden noch lange nach.

Ruth Erat wurde 1951 in Herisau geboren und wuchs in Bern und Arbon auf. Nach ihrem Studium an der Universität war sie ist als Mittelschullehrerin, Schriftstellerin, Malerin und Politikerin tätig. 1999 erschien bei der Edition Suhrkamp die Erzählung «Moosbrand». Seit 2015 ist sie Mitglied des Arboner Stadtparlaments.

Ich danke Ruth Erat für die freundliche Genehmigung, die beiden «Tafeln» abbilden zu dürfen.