Lorenz Langenegger «Dorffrieden», Jung und Jung

«Ohne Geschichten kann der Mensch nicht leben, denkt Wattenhofer. Zum Überleben mögen Wasser, Brot und Wärme reichen, zum Leben aber braucht der Mensch Geschichten. Und das Schöne an Geschichten ist, dass sie jeder selbst erfinden kann. Sie kosten nichts. Sie brauchen nichts. Sie sind einfach da. Sie sind überall.»

Wattenhofer ist schon seit einer gefühlten Ewigkeit Polizist in einem zwei mal zwei Kilometer grossen Fleck, irgendwo in der Provinz. Alles nimmt seinen Lauf, nebst Parkbussen, gelegentlichen Ladendiebstählen, Ermahnungen und dem Einerlei im neuen Büro, seinen regelmässigen Besuchen bei der alten Witwe des Gemeindepräsidenten und dem wöchentlichen Training mit den Junioren im hiesigen Fussballverein. Alles hat seine Ordnung. Wenn da nur nicht Wattenhofers Sorgen um den Frieden in den eigenen vier Wänden wäre. Erst recht, als wegen eines Schlüssels in der lange verschwundenen Sporttasche seines Sohnes das Gleichgewicht nicht nur bei den Wattenhofers zu schwanken beginnt. Seit einem Monat ist der einzige Sohn Stefan ausgezogen. size_150_image553Und ausgerechnet durch Wattenhofers Ermittlungen muss der Polizeiwachtmeister feststellen, dass sein Sohn, kaum abgenabelt, auf Konfrontationskurs mit der Staatsgewalt ist. Als ihm Helen, seine Gemahlin, offenbart, dass auch sie vor seiner Zeit einmal verbotene Rauschmittel ausprobierte und im Zuge der Opernkravalle für einige Stunden ein Gefängnis ausprobierte, und sich dann auch noch auf die Seite seines abtrünnigen Sohnes schlägt, der unter die Hausbesetzer gegangen ist, spitzt sich die Lage zu. «Wenn Helen ihm zwanzig Ehejahre lang verschwiegen hat, dass sie eine Nacht im Gefängnis verbrachte, welche Geheimnisse hat sie noch?» Aber Wattenhofer taugt nicht für Schlagzeilen und Filmstoff, allerhöchstens in seinen Fantasien, die ihn in unbedachten Momenten manchmal entgleiten lassen. «Der unerträgliche Unterschied besteht darin, dass bei den Tatort-Kommissaren die Philosophie, die liebende Frau, das Kind, die Imbissbude und der Ärger über Kollegen nur die Beilagen zu einem Mordfall sind, er hingegen kaut seit fünfundzwanzig Jahren darauf herum, als wären sie der Hauptgang.» Wattenhofer ist aus seinem Idyll vertrieben, mit der Erkenntnis, dass auch ohne Mord und Todschlag nichts mehr so ist, wie es einmal war. Da braut sich die Angst wie ein Sturm zusammen. Er muss feststellen, dass er stets ausserhalb der wirklichen Welt steht, nicht dazugehört, als Polizist höchstens Staffage ist. So stürzt sich Wattenhofer in seine Ermittlungen darüber, was ein Garderobenschlüssel und ein in lauter kleine Schnipsel zerrissenes Foto seines Sohnes mit dem schief hängenden Haus- und Dorffrieden gemein haben.
Lorenz Langenegger versteht als Theaterschreiber bestens, Dramaturgie zu inszenieren, ohne die Handlung an all den Krimistereotypen aufzuhängen. Es ist nicht der Kampf zwischen Gut und Böse, nicht die Verbrecherjagd, die Bedrohung des Dorffriedens, sondern der Kampf im Polizeihauptmann selbst. Wattenhofer lässt sich immer mehr in den Sog der Geschehnisse hineinziehen und sieht sich plötzlich gezwungen, unter Aufbietung aller zur Verfügung stehender Mittel seinen Frieden wieder herzustellen.
Faszinierend, wie das Lorenz Langenegger schafft, wie er Atmosphäre und Spannung erzeugt. Ein kleines Meisterwerk!

size_125_image386Lorenz Langenegger, Jahrgang 80, lebt und arbeitet als Schriftsteller in Zürich und Wien. Er studierte Theater- und Politikwissenschaft in Bern, wo seine ersten Arbeiten fürs Theater entstanden sind. Bei Jung und Jung erschienen bisher die Romane «Hier im Regen (2009) und zuletzt «Bei 30 Grad im Schatten».

Lorenz Langenegger liest an der Schaffhauser Buchwoche!

(Titelfoto: Sandra Kottonau)

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