Kathy Zarnegin «Chaya», weissbooks, ein Interview am Literaturfestival Leukerbad

Am Literaturfestival in Leukerbad traf ich im Garten des Thermenhotels die Schriftstellerin Kathy Zarnegin, die mit «Chaya» einen wunderbaren Roman über eine junge Frau schrieb, die sich anschickt, die deutsche Sprache, die Dichtung zu erobern. Ein Buch voller Sprachlust, Witz und Ironie.

Seit 20 Jahren veröffentlichen Sie Texte; Essays, wissenschaftliche Texte, Lyrik und dieses Jahr Ihren ersten Roman «Chaya» bei weissbooks. «Chaya» ist die Geschichte eines Mädchens, das vom Iran in die Schweiz geschickt wird. Aus einem Land der Revolution in die ruhige, satte Schweiz. Sie sind auch Psychoanalytikerin mit eigener Praxis. Wofür schlägt Ihr Innerstes, Ihr Herz? Schaffen Sie es, alles miteinander zu verbinden? Ich schreibe schon viel länger als 20 Jahre, wie Chaya seit meiner Kindheit. «Chaya» ist auch nicht mein erster Roman, aber der erste, der veröffentlicht wurde. Bei allem, was ich tue, geht es um Sprache, um die Arbeit mit und an der Sprache. Und darum, was Effekte der Sprache mit uns anstellen, in uns bewirken, selbst in der Psychoanalyse. Was macht Sprache mit uns und was machen wir mit Sprache.

Chaya lernt Deutsch als junge Frau, taucht ein in eine neue, ganz andere Welt der Laute und des Sprechens. Nicht nur in ihrem Roman, sondern auch in ihren Gedichten spüre ich die Lust am Klang, an der Musik, am Sound von Worten, Zeilen und Texten. Die eigentliche Bedeutung, die Aussage scheint in der Lyrik nebensächlich zu werden. Sprache soll mehr als bloss Inhalt transportieren. Aber die Psychoanalytikerin legt das Gewicht doch in die Bedeutung. In der Psychoanalyse spielt die Bedeutung eine grosse Rolle. Aber viel mehr, was diese Bedeutungen «intravenös» bewirken. Man hört auch in der Psychoanalyse nicht nur auf die Bedeutung. Der Klang spielt eine wichtige Rolle, die Färbung, der Ton. In meinem literarischen Schreiben fühle ich mich als altmodische Person. Als jemanden, der auf Rhythmus und Klang reagiert und damit zu wirken versucht. Auch im Leben von Chaya, in der Suche nach Liebe und einem Zuhause, spielt der Klang, der Sound eine wichtige Bedeutung. Die Suche nach Rhythmus, Klang und Musik war mir auch wichtig beim Schreiben meines Romans, wenn auch weniger zentral wie in meinen Gedichten. Bei Romanen ist es selten die Geschichte, viel mehr der Sound, der eine Resonanz erzeugt, der LeserInnen am Lesen bleiben lässt.

In Ihrem Roman schildern Sie Gegensätze. Das farbige Leben im Iran vor der Revolution, die ledige Tante Farah, der Leuchtturm in Chayas Kindheit, der Gegenpol zur strengen und verschlossenen Mutter, den umtriebigen Vater und die leidenschaftliche Lektüre von 1001 Nacht. Und dann wird Chaya in die unterkühlte Schweiz verpflanzt, aus ihrer Sprache herausgerissen. Das Leben ist etwas Buntes mit vielen Schattenseiten. Je genauer ein Mensch zu- und hinhört, je aufmerksamer er ist, desto stärker nimmt er Gegensätze wahr. So unterschiedlich die Welten im Iran und in der Schweiz sind, im Leben von Chaya gab es eine Konsequenz, die Konsequenz wegzugehen, in eine fremde Welt hineinzuspringen.

Ein Unterschied zwischen Europa und dem Orient, erklärt ihr Roman, ist das Verhältnis zur Zeit. Hast gehöre nicht in die Welt des Orients. Stimmt das immer noch? Ich bin keine Orientexpertin. Ich schreibe aus der Erinnerung und aus Sehnsüchten. In meiner Orientwahrnehmung nimmt man sich mehr Zeit füreinander, Zeit für Menschen, für die Familie. Bei uns in Europa herrscht das Diktat der Arbeit. Der Roman «Chaya» entstand aus Geschichten aus dieser Arbeitswelt. So entstand auch die Idee einer Lyrikagentur. Wir leben in einer Gesellschaft, in der nicht nur das Empfinden, sondern die Gesundheit abhängig ist von ihrer Arbeit, ihrer Leistungsfähigkeit. Eine heikle und gefährliche Denkmentalität!

Chaya wird in Ihrem Roman zur Europanautin. «Sie entzog sich der Gravitation der Vergangenheit», schreiben Sie. Kann man das oder ist es bloss Wunschdenken oder Hoffnung? Natürlich glaube ich nicht, dass man seine Vergangenheit wie schmutzige Wäsche abstreifen kann. Man kann sich mit der Gegenwart arrangieren. Bei Chaya geht es immer um die Sprache, nur um die Sprache, wenn sie sich mit dem Abstreifen der Vergangenheit, dem Abstreifen der Muttersprache auseinandersetzt. Chaya zieht sich mit der neuen, fremden Sprache eine Uniform an.

Sie und Ihre Romanfigur Chaya verloren eine Sprache. Sie beide fanden in der Lyrik ein neues Zuhause, Chaya gar mit einer Gedichtagentur. Genügt Sprache als Heimat? Menschen sind unterschiedlich. Den einen genügt Musik oder Esskultur und es erzeugt Heimat, zumindest ein Heimatgefühl. Der Begriff Heimat ist ein Modewort und überstrapaziert. Wie viele Menschen hängen an kitschigen Vorstellungen von Heimat. Heimat ist eine Sehnsucht nach Orten, Menschen und Zuständen, die nicht einmal den Anspruch haben, realistisch sein zu müssen. Heimat ist die Erinnerung an Verbundenheit.

Chaya verliert mehrfach; die Sprache, die Vertrautheit, die Familie, die Mutter. Sie schreiben, Gedichte seien «Rezepte gegen die Traurigkeit». Ist das auch in Ihrem Leben so? Sprache und Sprechen ist ein Mittel gegen den Verlust. Und Verlust ist tief in der Literatur verankert. Literatur schafft Welten, neue Welten, Zustände und Figuren. Lyrik ist dabei viel komplexer, viel sprachbezogener und mit viel konkreterm und imaginärem Potenzial.

Mit dem Verlassen der Heimat und der «Ankunft» in der Schweiz gerät Chaya in ein «Dazwischen», nicht nur in ihrer Sprache. Dieses «Dazwischen» ist ein Ort des Schmerzes, ein Schmerz, der lähmen könnte. Chaya schafft den grossen Schritt aus diesem «Dazwischen». Millionen von Flüchtenden, Ausreisenden geraten in dieses «Dazwischen». Wann hört bei Chaya der Schmerz auf? Ob das «Dazwischen» je ganz aufhört, weiss ich nicht. Es kann für die Person aufhören, aber für die Umwelt noch lange nicht. Bevor ich meinen Roman «Chaya» veröffentlichte, interessierte man sich kaum für meine Herkunft. Und nun, mit einem Mal, setzt man mir diesen Stempel auf. Ich laufe nicht mit der Tafel «Ich bin eine Emigrantin» durchs Leben. Die Welt macht das mit mir. Bei Flüchtenden ist es noch ganz anders. Niemand verlässt seine Heimat freiwillig, wenn man der Gefahr und Unfreiheit entkommen ist. Und dann, im neuen Leben, kommt ein Leben, das mit diesen Menschen nicht zusammenpasst. Und rundum verlangt man von ihnen, dankbar und nun endlich glücklich zu sein. Sie leben mit dem permanenten Gefühl des Verlusts.

Chaya, die Europanautin, begegnet Männern, den unterschiedlichsten Männern. Männern mit Makeln, denen sie sich trotzdem auftut. Auch Männer sind unbekannte Territorien, manche bleiben fremd, andere werden vertraut. Wie gross war die Lust, das Chaya alles durchstehen zu lassen. Chaya ist eine energische Person, auch wenn sie sich als eine melancholische Orientalin bezeichnet. Wenn Lust da ist, bleibt sie, die Sprachlust, ihre Neugier. Auch in der Sprache der Erotik.

Wie sehr dominieren die Geschehnisse in und um ihr Herkunftsland ihr Leben, ihr Denken, ihr Schreiben, das Mädchen Chaya? Mit Chaya werde ich nun plötzlich reduziert auf meine Herkunft. Aber man kann viele «Herkünfte» haben. Meine Herkunft liegt in meiner geistigen Welt. Im Zusammenhang mit Chaya werde ich nie über meine wirkliche Herkunft befragt; die deutsche Literatur und die deutsche Philosophie. Das ist mein Koordinatensystem, das mein emotionales und geistiges Leben formte. Es sind Vorurteile und Bequemlichkeiten. Man sucht einen Aufhänger, eine Schublade. Man verkauft es leichter und besser.

Kathy Zarnegin, vielen Dank für das Interview und das wunderbare und fesselnde Buch, dass Sie uns Leserinnen und Leser geschenkt haben.

Kathy Zarnegin wurde in Teheran geboren und kam mit 15 Jahren in die Schweiz. Sie ist Lyrikerin, Essayistin, Übersetzerin aus dem Persischen, Philosophin und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie ist Mitbegründerin des Lacan Seminar Zürich und Mitorganisatorin des Internationalen Lyrikfestivals Basel. Ihre Lyrikveröffentlichungen hiessen «Tierische Träume» (1998), «Buchstäblich traurig» (2004) und «SaitenSprünge» (2006). «Chaya» ist ihr erster Roman.

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