Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp

Es gibt Bücher, die überrollen, verstören und faszinieren mich. «Zitronen» von Valerie Fritsch ist ein solches, ein weiterer Streich einer überragenden Schriftstellerin, eine Literaturperle. Und trotzdem würde ich dieses Buch nicht allen empfehlen, denn es ist schrecklich schön, leuchtet tief in die Abgründe menschlichen Seins!

Während des Lesens stellte sich eine seltsame Mischung aus Erschütterung, Faszination und Freude ein. Wie schafft es Valerie Fritsch ein Buch in einer derart hohen Sprach- und Bildintensität durchzuziehen, vielfach überraschend, beweisend, dass Literatur viel mehr sein kann, als eine gute Geschichte zu erzählen. „Zitronen“ schmeichelt mit Sprache. „Zitrone“ erschüttert mit Einsichten. „Zitronen“ bannt bis zum letzten Satz. „Zitronen“ ist ein Sprachkunstwerk. Der Saft dieser Zitronen brennt sich ein!

Eine Kleinfamilie in der Provinz, in einem windschiefen, vollgestopften Haus am Rande eines Dorfes. Ein Vater, der die Mutter und seinen Sohn schlägt. Mutter und Sohn, die in dauernder Angst leben und sich in einem Band aus Nähe und Zartheit miteinander gegen den übermächtigen Vater verbünden. Sie braucht ihren Sohn, ihr Sohn braucht sie. Der Sohn ist das einzige, was in ihrem Leben Resonanz gibt. Und für den Sohn ist die Mutter die einzige, die ihm Trost für all die vom Vater zugefügten Verletzungen bietet. Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einem erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah. Bis mit einem Mal der Vater, der Mann verschwindet und sich alles verschiebt.

«In jedem Leben gehen Bestimmung und Selbstbestimmung, Glück, Unglück und Zufall mit stiller Wirkmächtigkeit gegeneinander an, zerren an der Linie, die zwischen Geburt und Tod gespannt ist, und wehen die auf ihr Balancierenden wieder und wieder vom Weg.»

Ein Verschwinden, dass auch die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn radikal verändert. Was der Sohn als Rettung für die Mutter in einem Leben aus Angst und Bangen war, öffnet sich zwar, kehrt sich aber um in eine Angst, diesen Sohn an ein eigenständiges, unabhängiges Leben zu verlieren. Nach einer Krankheit, die die Mutter dem noch jungen August noch einmal ganz in seine Nähe brachte, beginnt die Mutter heimlich Medikamente in die Nahrung ihres Sohnes August zu mischen. Sie deckt August mit ihrer Fürsorge zu, so sehr, dass August nicht einmal mehr zur Schule gehen kann und über Wochen und Monate ans Bett gefesselt bleibt, beständig umgarnt von seiner Mutter, die ganz in ihrer Rolle als Schützende und Wissende aufgeht. Die Medikamente, die sie missbraucht, bezieht sie von ihrem Hausarzt.

Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp, 2023, 186 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43172-6

Auch nach einem gemeinsamen Urlaub am Meer, im Land der Zitronen, zusammen mit eben jenem Arzt, der zwar konstatiert, dass es dem Jungen mit jedem Tag am Meer besser geht, ändert sich das Leben von August nur marginal. Seine Mutter bringt ihn züruck ins Bett, zurück an ihren Tropf. Bis ein Blitz einschlägt. Bis auch für den Arzt nicht mehr zu leugnen ist, dass Augusts Krankheit bloss das Resultat eines fatalen Medikamentenmix ist. August kommt nach Wien, wird förmlich ausgesiedelt, in eine kleine Wohnung, die ihm der Arzt, der sich seiner Schuld bewusst ist, in der fernen Stadt zur Verfügung stellt.

So sehr ins Mutternest zurückgebunden, so einsam und allein sind die ersten Wochen für August in der fremden Stadt. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs mehr schlecht als recht durch und baut aus den Versatzstücken fremder Biographien und Lügengeschichten eine eigene Vergangenheit zusammen, mit der er sich sein Dasein formt, ein Leben zwischen Huren und Ganoven. Bis er Ava trifft, eine Künstlerin, eine Verwundete wie er. Bis er in Ava seine grosse Liebe findet und alles dafür tut, diese eine Liebe nicht wieder zu verlieren. Aber August in seiner Angst, auch diese Liebe zu verlieren, schnürt Ava immer mehr die Luft zum Atmen weg. Bis das Unvermeidbare zur Tatsache wird und sich auch diese Liebe von ihm trennt. Bis August spürt, dass er dorthin zurück muss, wo ihn die Fesseln noch immer binden.

«Es gab nichts, was es nicht gab, aber es gab vieles, was es nicht hätte geben dürfen.»

Aber um den Zauber dieses Romans zu ergründen, sollte man sich viel mehr der Sprache zuwenden. Was Valerie Fritsch mit „Zitronen“ schafft, gelingt nur ganz wenigen. Meist ist die Sprache der Träger einer Geschichte. Aber bei Valerie Fritsch ist die Geschichte der Träger eines Sprachteppichs aus Farben, Gerüchen, Geräuschen und Melodien, die seinesgleichen suchen. Zum einen spürt sie sich in die Seelenlandschaft eines Gefesselten, zum andern bebildert sie die Welt dieses Gebeutelten, eines jungen Mannes, der mit Strategie krank gemacht wird. Ihr Schreiben ist im wahrsten Sinne des Wortes schaurig schön. Valerie Fritsch schreibt in Sätzen, die mich wie Winde umschmeicheln, die den Schrecken in helle Farben verwandeln, die einen Alp sublimieren.

Ich verneige mich tief vor der Kunst dieser Autorin! Lange her, dass mich Lesen so sehr berührte!

Interview

Natürlich geht es um einen krankhaften Zustand, den die Medizin „Münchhausen-Stellvertretersyndrom» nennt, eine ganz fiese Form der Kindsmisshandlung. Mütter, die in ihrem Umfeld als perfekt, maximal fürsorglich gelten und sich hingebungsvoll um angebliche Krankheiten ihrer Kinder kümmern. Krankheiten, die sie selbst herbeiführen. Aber du legst den Fokus auf das Kind, auf August, zeigst, dass dieses zurückgebundene Leben für immer gezeichnet ist. Und trotzdem wolltest Du viel mehr als die Nacherzählung eines Befreiungsversuchs. Du bist eine Reisende. Doch eigentlich erstaunlich, dass dein neuer Roman eine ganz besondere Reise ist.
Und auch sie begann mit Distanz, denn angefangen hat es damit, dass mir viele allgegenwärtige Phänomene fremd und fern waren und ich ihnen näher kommen wollte, um sie zu verstehen. Drei Jahre lang bin ich durch eine Welt hinter der Welt gereist, jene oft unsichtbare der Gewalt, habe intime Gespräche mit Opfern und Tätern geführt, mit Mördern Kaffee getrunken und durfte durch Schlüssellöcher in viele nicht lineare Leben schauen. Herausgekommen ist ein seltsames Buch über Gewalt und Zärtlichkeit, vor dem ich meine Lektorin am Ende nur gewarnt habe: es ist wild geworden.

»Der schlimmste Augenblick jedes Sommers ist sein Ende.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

So sehr die Familie über Jahrhunderte idealisiert und von Politik und Religion immer wieder kräftig instrumentalisiert wurde, so sehr „Familie“ zu einem Traum, einem Ziel, einem Paradies werden kann, so sehr kann „Familie“ Hölle werden. Eine Hölle, die von den betroffenen Kindern mit stoisch scheinender Selbstverständlichkeit ertragen wird. August ist ein ewig Verwundeter. Warum begeben sich Menschen in einen Tunnel, bei dem es keine Umkehr gibt?
Selbstverständlichkeit ist eine hinterhältige Kategorie, sie ist das, was man kennt. Geschlossene Machtsysteme können überall entstehen, Türen zugesperrt, Vorhänge zugezogen werden. Wenn dann noch genug Menschen rundum die Augen verschließen, schaffen es auch die eigenartigsten und schrecklichsten Zustände als Normalität zu gelten, sogar für die Betroffenen. Man trägt schwer an den früheren Verwundungen, sie zerstören mitunter den Vertrauensindex zur Welt. Und es kann in existentiellen Krisensituationen zu einer Logik des Misslingens, einer Folgerichtigkeit der schlechten Entscheidung, sogar dem Glück der bösen Tat kommen: es fühlt sich das objektiv Falsche dann subjektiv richtiger an alles anderes. 

In seiner Zeit in der Stadt, nach seiner ersten grossen Befreiung, muss sich August in seiner Selbstständigkeit zuerst zurechtfinden. Auch mit einem Leben, das sich nach Geschichte sehnt, nach erzählbarer Geschichte. Literatur ist Geschichte. Zusammengetragenes, Versatzstücke, Er- und Gefundenes. August erzählt „Lügengeschichten“, bastelt sich seine Vergangenheit immer und immer wieder neu zusammen. Eine befreundete Schriftstellerin meinte einmal, die Schriftstellerei sei der einzige Betrug, in dem man schadlos lügen kann. Wir hadern mit Wahrheiten, wissen, dass nichts so vieldeutig ist wie die Wahrheit. Tun wir der Lüge unrecht?
Ich denke, die Lüge hat mitunter ihre Berechtigung, außerdem ist sie angenehm eindeutig, manchmal sogar schonend und zartfühlend gemeint. Ganz ohne sie kommt der Mensch nicht aus. Wer würde es schon ertragen, auf einem Familienfest pausenlos mit allen ernstgemeinten Wahrheiten und angestauten Werturteilen beworfen zu werden zwischen Schweinsbraten und Dosenpfirsichkompott? Wer allgemein genug Wahrhaftiges in seinem Leben hat, muss es mit der Wirklichkeit nicht immer so genau nehmen.

»Die Mehrzahl der Toten hatte ihr Bett in riesigen Schränken aus Stein, schlief dort in Schubladen, über- und nebeneinander angeordnet und sorgfältig beschriftet, damit man nicht durcheinanderkam. Es war ein Setzkasten für die Ewigkeit.
Und er erzählte, wie er früher mit den anderen Kindern in den leeren Grabkammern der steinernen Kästen gesessen war, wie sie in den obersten gekrümmt gehockt waren unter der niedrigen Decke wie in Nestern, in den Ecken Vorräte von Süßigkeiten anlegten und Amarettini und Zuckerschlangen aßen zwischen den Toten. Wie sie einander Gespenstergeschichten zuflüsterten.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

Du nennst das Dorf, in dem August aufwächst, das „Dorf, das sich mit Enttäuschungen auskannte“. Auch das Wort „Ent-Täuschung“ birgt doch eigentlich etwas Positives. Wird man nicht von Täuschungen befreit?
Enttäuschung ist eine Funktion der Erwartung, sagen die Philosophen. Zu sehen, dass etwas anders ist, als man gedacht und gehofft hat, ist möglicher Weise befreiend, wenn man resilient ist, aber doch in den meisten Fällen zuerst einfach sehr unschön. 

Zwischen August und Ava wächst eine grosse Liebe. Aber auch diese Liebe zerbricht, weil August die Grenze nicht spürt zwischen Zuwendung und Umklammerung, zwischen Hingabe und Besessenheit. Doch eigentlich ganz ähnlich wie die Liebe seiner Mutter damals. Leben ist ein permanenter Befreiungsversuch. So sehr wir uns nach Liebe sehnen, nach einem Spiegel, der uns vor der Einsamkeit bewahrt, so sehr verlieren wir uns in Abhängigkeiten, der Befreiung entgegengesetzt. Hatte August je eine Chance?
August nimmt das Wünschen nach seiner tragischen Kindheit zum Ausgleich besonders ernst: er wünscht sich unbescheiden und glühend die große Liebe, das große Geld, das große Glück, er will leben bis zum Umfallen. 
Diese Kindheit ist nichts vom Rest des Lebens Abgekoppeltes, es ist die Zeit, in der wir Schritt für Schritt zu dem Erwachsenen heranwachsen, der dann entscheidet, wer man sein will und kann. Für eine eigene Identität bedarf es immer einer Kraftanstrengung, und für eine Flucht aus alten Mustern und Systemen einer umso größeren. Unmöglich ist aber nichts, das ist das Schöne am Menschsein. Und das Schreckliche. 

Am meisten fasziniert mich an deinem Roman die Sprache, die Machart, der Ton, was dein Buch in mir evoziert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein Buch wie das Deinige, so einfach in losen Stücken zusammensetzen kann. Wie gelingt es Dir, dass ich glaube, du hättest Dein Buch in einem Zug, wie im Sprachrausch geschrieben?
Tatsächlich kommt es mir an guten Tagen vor, als würde ich am Schreibtisch zwischen Teetassen und Bücherstapeln mit den Buchstaben komponieren auf der Tastatur. Es hat etwas geheimnisvoll Melodiöses. Ich höre die Sätze. Es ist manchmal wie ein Flow in Zeitlupe: das mag ich sehr.

Valerie Fritsch, geboren 1989, arbeitet als freie Autorin und bereist die Welt. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 wurde sie mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur. Sie lebt in Graz und Wien.

«Herzklappen von Johnson & Johnson», Rezension

Webseite der Autorin

Beitragsbild © oxyblau/Suhrkamp Verlag

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper

Mit ihrer Trilogie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“ hat sich die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev tief ins Bewusstsein vieler geschrieben. Nicht nur weil sich die Romane eindringlich lesen, nicht nur weil „Liebesleben“ wie ein Komet einschlug und sieben Jahre später erfolgreich in die Kinos kam, sondern weil die Autorin mit ihren Themen den Nerv der Zeit trifft.

Dass man nun Zeruya Shalevs Erstling, der bereits 1993 unter dem Titel „Dancing, Standing Still“ in Israel erschien und damals im Vergleich zu „Liebesleben“ niemals jene Resonanz erreichte, jetzt auch auf den deutschsprachigen Markt wirft, erscheint zuerst als geschickter Schachzug des Verlags, nach der Lektüre des Buches aber als echtes Geschenk. 

Als Zeruya Shalev diesen Roman in Israel schrieb, kannte man die Autorin in ihrem Heimatland in einem kleinen Kreis als Lyrikerin. Im Vorwort der Autorin erzählt Zeruya Shalev, wie sie in einem Café mit dem Manuskript eines Schriftstellers auf diesen wartete. Und weil er sich verspätete, begann sie auf den Rückseiten der Manuskriptseiten zu schreiben. Was damals im Café begann, war wie ein Dammbruch. Zeruya Shalev war 32, verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter. Als sie den Roman in einem wilden Rausch nach eineinhalb Jahren zu Ende geschrieben hatte, zerbrach ihre Familie. Und als der Roman 1993 erschien, liess die Presse die Autorin „verwundet und verängstigt zurück“, so sehr dass sie ihren Glauben an sich als Schriftstellerin beinahe verloren hatte.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer,

Zwei Jahrzehnte später, mit dem Erfolg einer ganzen Reihe Bestseller im Rücken, einer getreuen Leserschaft und dem Umstand, dass die Geschichte ihr Land und die Zeit ihre Themen in den Brennpunkt stellt, ist es nicht verwunderlich, dass „Nicht ich“ derart Wellen verursacht, eben darum, weil der Umstand seines Erscheinens viel mehr ist als ein geschickter Schachzug des Verlags. Als Zeruya Shalev den Roman schrieb, war die Autorin ein Niemand. Da waren keine Erwartungen, da war keine Linie, keine Marke „Zeruya Shalev“. Sie schrieb sich in einen Taumel, der aus jeder Seite schreit. Sie reizt aus, gibt sich unbeeindruckt von Konvention und Tradition. „Nicht ich“ ist der buchlange Monolog einer Frau, die sich verloren, ihre kleine Tochter verloren hat, ihren Mann, ihre Familie, ihre Eltern, ihr Zuhause, das Gesicht in ihrem Spiegel. Und mit dem Titel „Nicht ich“ macht sie unmissverständlich klar, dass es nicht ihre Geschichte ist, auch wenn es trotzdem die ihre ist, eine universelle Geschichte von jemandem, der aus der Spur gerissen wird. 

„Wie kann man etwas verlieren, was man nie besessen hat?“

Zeruya Shalev lebt und schreibt in einem Land, das seit seiner Entstehung von Krieg und Terror gebeutelt ist. Am 29. Januar 2004, also vor mehr als 20 Jahren, wurde Zeruya Shalev selbst Opfer eines Selbstmordattentäters und verletzte sich dabei sehr. Eine kollektive Verunsicherung, die im ganzen Roman spürbar ist. So wie ein Land, eine Zivilisation, eine Religion nach Rechtfertigungen sucht, tut es im Roman eine „zerstörte Frau“, der man ihr Kind genommen, die Mann und Familie verloren hat, die sich bewusst ist, vieles in ihrem Leben „falsch“ angegangen zu sein. „Nicht ich“ ist ein lauter Roman aus wilden Träumen und Erinnerungen, aus Bildern, die zwischen Wahn und Realität flirren. Eine Frau voller Schuldgefühle, voller Anklage und Verzweiflung, permanent am Rand ihrer Existenz, von sich selbst und ihrer Wahrnehmung bedroht. Eine Frau, die sich selbst so wenig traut wie ihrer Umgebung. Zu viele unterirdiche Gänge führen zu diesem Kindergarten, da laufen mir zu viele Leute rum. Ich bin mir sicher, ab und zu verschwindet in diesen Gängen unbemerkt ein Kind. Sätze, die wie Messerschnitte die Lektüre zerschneiden.

Alles, was die namenlose Frau hatte, wurde ihr genommen. Selbst die Erinnerung droht in Unsicherheiten zu zerbröseln. Eine Frau, die nicht versteht, was mit ihr geschah und geschieht, die an ihrem Hunger nach Liebe leidet und nicht versteht, wie ihr passieren konnte, was ihr den Boden unter den Füssen wegzieht. Das Erstaunliche an diesem Roman ist die sprachgewordene Verzweiflung und Verunsicherung, der Taumel, die Selbstzerfleischung und der Schmerz. Unglaublich, wie tief Zeruya Shalev in die Wunden blicken lässt. Ich bin mit El Ii Ee Be Ee nicht zurechtgekommen. Für mich war das eine stinkende Verbindung von Schweiss und Sperma, Stechen im Bauch vom Ärger und Kopfschmerzen vom Weinen. Und trotzdem ist „Nicht ich“ eine Liebesgeschichte, wenn auch eine verzweifelte. Da schreibt jemand, der die rosa Brille auf dem Asphalt zertrampelt. „Nicht ich“ ist das literarische Zeugnis einer damals noch unbekannten Autorin und Dichterin, die alles auf eine Karte setzt. Ein Text, der sich in seiner Kraft wie ein Beben liest, der sich auch 30 Jahre nach seinem Entstehen passgenau in eine Zeit fügt, in der alles unter den Bomben der Gegenwart erzittert.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

Anne Birkenhauer, 1961 geboren, studierte Germanistik und Judaistik in Berlin und Jerusalem und lebt seit 1989 in Israel. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin an der Universität und übersetzt u.a. Aharon Appelfeld, Chaim Be`er, Daniella Carmi, David Grossman, Dan Pagis und Yaakov Shabtai.

Beitragsbild © Jonathan Bloom

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – eine Würdigung von Klaus Merz

Anlässlich der Buchtaufe von Markus Bundis neuem Roman «Wilde Tiere» am 10. März dieses Jahres im Gluri-Suter-Haus in Wettingen, bei der Klaus Merz, aktueller Träger des Schweizer Literaturpreises, die Veranstaltung moderierte, verfasste Klaus Merz eine mehr als treffende Einführung zu «Wilde Tiere». Hier wiedergegeben eine leicht angepasste Fassung:

«Das Kaleidoskop sei ein optisches Gerät, das häufig als Kinderspielzeug verwendet werde, so Wikipedia. Es war ursprünglich schon den alten Griechen bekannt, wurde jedoch erst 1817 als Patent angemeldet. Ein Physiker war bei seinen Untersuchungen über die Polarisation doppelbrechender Kristalle darauf gestossen, als er solche in eine spiegelnden Metallröhre schob und betrachtete.

In unserem Fall aber giesst der Schriftsteller Markus Bundi in seinem neuen Buch mit dem Titel «Wilde Tiere» ein knappes Dutzend nicht über jeden Zweifel erhabene menschliche Individuen wie unsereins, ein paar Kunstmuseen von Rang und die dazu gehörenden Kunstwerke samt einer vermuteten Leiche kurzerhand in seine verspiegelte Rollen-Prosa-Röhre.

Bundi lässt in der Folge Kollers Gotthardpost samt erschrecktem Kalb und Dalis Brennende Giraffe plus Schubladenfrau miteinander die Wege kreuzen, hortet ein gestohlenes Bacon-Porträt im düsteren Abstellraum, während Boschs Knabe mit Windrädchen leise den Wänden entlang vorüberzieht. Das Zürcher Kunstmuseum vermischt sich als Ort des Geschehens lichterdings, so übrigens der Titel eines frühen Bundi-Gedichtbandes, mit dem Kunstmuseum in Wien, die neue, lotterige Aarauer Kunsthausterrasse korrespondiert mit dem ältesten öffentlich zugänglichen Kunstmuseum der Welt im reichen Basel. Und das Putzpersonal der gehobenen Anstalt mischt sich äusserst mitteilsam unter die recherchierenden KriminalistInnen vor Ort.

Von Anfang an nicht zu übersehen der ganz und gar hiesige Hausmeister Binz sowie der alte Kunstkenner Assinger, dem Namen nach vermutlich gebürtiger Österreicher – oder ist er gar dem Umfeld von Robert Walsers Aschinger zuzuordnen? – Er trägt einen Topas als Erbstück an seinem Finger und Droste-Hülshoffs Satz «Du hast die Erde, hast den Himmel und deine Geister obendrein» stets in seinem Herzen. – Und ich kann Ihnen versichern, liebe Leserinnen und Leser, weder die Direktorin des Hauses noch Greta Thunberg kommen ungeschoren davon, sogar Frau Merkel wird fast liebenswürdig «verhundst». Und ein Zwillingsschicksal nimmt, als weiterer Nucleus eines möglichen Romans im Roman, einsam seinen Lauf, während Wärter Odradek, das kafkaeske Museumsfaktotum per se, über Olafur Eliassons geflutete Zumthor-Räume in Bregenz nachdenkt und Marco Odermatt im Kunstschnee weiter siegt.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

Nur, geneigte Leserinnen und Leser, leider weit und breit keine wilden Tiere, sondern im Grunde lauter «Denkzettel». Diese triftige Gedankensammlung Markus Bundis von 2022 findet hier ihre novellistische Fortsetzung. Als wildes Sinnieren.
Soviel als Versuch einer kurzen Einführung oder Entsprechung, will sagen, wilden Leseanleitung zu «Wilde Tiere», diesem sozusagen postmodernen Suchbild in Prosa, worin sich das Nichts und Abernichts auf Schritt und Tritt mit unserer Gegenwart vermischen und der heutige Zeitgeist bei Gelegenheit kurz und gehörig gegeisselt wird. Fast alles wird vom Autor mit einem knirschenden Lachen auf den Stockzähnen in den Prosa-Häcksler geschoben. Auch der Mord als Vorwand und Köder für die neugierige Leserschaft.

Wir sollten in diesem kaleidoskopischen Suchbild also vor allem dem Autor selber auf der Spur bleiben, da er ja – wie immer in literarischen Texten – der eigentliche Täter ist und bleibt. – In unserem Fall lautet sein Leitsatz übrigens: «Ich halte den Realismus für einen Irrtum.» Markus Bundi setzt diese Aussage von Georges Bataille als gestrenges Motto schon vor den Anfang seiner Geschichte. – Viel Vergnügen bei der Lektüre und Lesung von Markus Bundis «Wilden Tieren»!» 

Klaus Merz

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Franjo Seiler

Eva Strautmann «Farbklang», Plattform Gegenzauber

Farbklang

Im strahlenden Licht
fremden Augenscheins
blendet sich wider stilles Verwesen grellen Nimmerseins
Sich zu erzürnen im weissen Klang entgangener Farbenpracht
lasse ich liegen eigene Weltenlosigkeit
Und gehe ich hinaus über himmlische Farbenpracht,
höre ich ein gelbes Stelzen
im farbdurchdrungenen Nimmerfliehen.

«Akt 1», Öl auf Leinwand © Eva Strautmann



Im Schauen

Im Schauen
ohne einen Gegenstand,
eine grüne Wiese, still
im Nachholen,
von dem, was nicht gewesen ist,
eine Spur, wie das Unerhörte,
unverschämt, klingt
grämt sich in etwas hinein,
das keiner kennt und
verschwindet, gleich wieder
ohne ein Wort und wartet.
Lange

«Begegnungen», Öl auf Pappe © Eva Strautmann



In den Höhen

das in die Höhe Schäumen,
das Hinausreichen, Hinüberreichen in das Andere, in die andere Welt?
Das Verlieren jedes einzelnen Schrittes im Stein, im festen Boden gedachter Körper?
Ein Hinübergleiten im Finsteren, im Verborgenen?
Das Herabglitzern erhabener Pracht,
ein Leuchten stummen Sonnenwinkels,
das warm und hoch alles verbietet, alles lichtet und alles auslöscht
im lauten Dämmer, im Sprechen über sich selbst,
ein Verzweifeln über nichts,
im Angesicht hoher Steinwände, kalter Felswände,
im Angesicht seiner Selbst, ohne Selbst,
im Fraglichen verloren….

 

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Großbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regie-Assistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

«Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine grosse Lüge»

Lieber Gallus

Soeben habe ich Jens Steiners «Die Ränder der Welt» fertiggelesen.

«Dieses Ich, so nah und unausweichlich. Du kannst dich nicht daran vorbeilügen, du bist ich, und so stehe ich jetzt auf von meinem Stein, drehe mich um und blicke zurück aufs Land»

Zurückblicken auf ein Leben vor der letzten entscheidenden Begegnung mit seinem Freund: Ich bin tief berührt, begeistert, nachdenklich und angeregt nach dieser Lektüre. Mit anderen Worten: Ich lege diese eindrückliche Suche, dieses Werk voll Liebe und Leiden, Verzweiflung und auch Versöhnung, voller Fragen nach dem Sinn des Lebens, auch der Kunst, bereichert und glücklich zur Seite. Eine klare, sehr bildhafte Sprache mit Witz und Humor zeichnet dieses Buch aus. Kristian hofft auf seiner Reise durch viele Länder und mit wechselnder Beziehung zu seinem Freund Mikkel seit Kindertagen, angeregt durch einen Brief von ihm, auf der dänischen Insel Christianso endlich bei sich anzukommen. Die Auseinandersetzung mit bildender Kunst und das Bearbeiten Kristians von Stein und Fels sind Bilder, die bleiben.

«Du wirst nie wissen, was Kunst ist. Manchmal ist sie eine Luke zur Welt, manchmal ein Ausweg. Und manchmal ist sie einfach nur eine grosse Lüge»

Ich bin gespannt auf deine Meinung zu diesem lesenswerten Buch.

Herzlich
Bär

***

Lieber Bär

Eben habe ich „Die Ränder der Welt“ beiseite gelegt, zumindest haptisch, denn das Buch wird mich zu meiner grossen Freude noch weiterbegleiten. Ich werde es nicht gleich ins Regal schieben zwischen die anderen Perlen aus seiner „Feder“, so wie man nach einem besonderen Stück Leben nicht einfach in die Mühlen des Alltag zurückkehren will.

Manchmal fühle ich mich als Leser Zeuge von etwas Besonderem. Schon sein Romandebüt „Hasenleben“ gewann meine Aufmerksamkeit. Auf meinem dritten Literaturblatt schrieb ich über jenen Roman: „Man ist den ProtagonistInnen ganz nah, bleibt ein Buch lang und darüner hinaus bei ihnen, fühlt mit. Die eigentliche Katastrophe ist die Summe vieler kleiner Katastrophen. Was darauf folgt, schmerzt, zerreist, fügt tiefe Wunden zu.“ „Hasenleben“ gefiel nicht nur mir. Das Debüt schaffte es gar auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. „Carambol“, Jens Steiners Zweitling, glänzte dann endlich auch mit Preisen, nicht zuletzt mit dem Schweizer Buchpreis 2013. Mit diesem Buch war Jens Steiner Gast einer meiner traditionellen Hauslesungen in Amriswil. Seither sind weitere Romane dazugekommen, solche für Kinder und Erwachsene, Romane, die die Vielschichtigkeit des Autors wiederspiegeln und seine Lust, stets neues Terrain zu erkunden.

Jens Steiner «Die Ränder der Welt», Hoffmann und Campe, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-455-01710-6

Sein neuster Roman „Die Ränder der Welt“, im Frühling bei Hoffmann und Campe erschienen, ist die Geschichte eines Mannes, der die Nabe seines Lebens sucht und dabei, wie im Titel, an die Ränder der Welt gerät, und das ist nicht nur geographisch gemeint. „Die Ränder der Welt“ ist die Reise eines Mannes ins Epizentrum seines Lebens, eine Reise von Kleinhüningen, über Paris nach Kopenhagen, von Italien bis nach Patagonien, die keine dänische Insel Christianso immer immer wieder nach Estland, wenn auch nur im Herzen. Die Reise eines Suchenden. Ein Roman, der meines Erachtens so gar nicht helvetisch erzählt, sondern mit fast südamerikanischem Gestus, ohne diesen kopieren zu wollen. Ein Roman, der mich ungeheuer mitnahm, inspirierte, manchmal gar belehrte, in gutem Sinne, und während Tagen nicht mehr losliess.

Jens Steiner ist seit vielen Jahren Redaktor der Zeitschrift „Kunst und Stein“, dem Verbandsorgan der Schweizer Bildhauer und Steinmetze. Jens Steiner hat dänische Wurzeln, lebte einige Jahre in Flensburg und heute im Burgund. Er erzählte mir einmal, als er noch in Zürich lebte, seine Schreibklause sei damals bloss wenige Quadratmeter gross gewesen. Jens Steiner öffnet die Welt, vom Kleinen ins Grosse, er fokussiert und schweift mit dem suchenden Blick in die Weite. Sein Tun ist Aufforderung!

Liebe Grüsse

Gallus

Lize Spit «Der ehrliche Finder», S. Fischer

Die junge Lize Spit erzählt in ihrem dritten, auf Deutsch erschienenen Roman «Der ehrliche Finder» von der bedrohten Freundschaft zwischen Jimmy und Tristan. Ein Erzählen, das es meisterhaft versteht, die kindliche Perspektive zu einer Art des Sehens zu machen. Ein Roman voller Zuwendung!

Tristan und Jimmy sitzen in der Schule in der gleichen Bank. Tristan, als Sohn einer grossen Flüchlingsfamilie quer durch ganz Europa aus dem Balkan bis nach Belgien gekommen, Jimmy aus der Einfamilienhaussiedlung, aus einem Haus ohne Vater. Tristan Ibrahimi mit seiner ganzen Familie, Schwestern und Brüder, Mutter und Vater. Jimmy von einem Zuhause, wo sich die Mutter seit Vaters Verschwinden nur mehr schwer aus dem Bett bringt. Und weil Jimmy es gewohnt ist, die Welt, die sich ihm stellt, in kleinen Schritten anzugehen, ist die Tatsache, dass sich Tristan neben ihm in der gleichen Schulbank findet, Aufgabe genug. Jimmy zeigt Tristan seine Welt und Tristan lernt. Er lernt den Ort, die Schule, die Sprache. Und mit einem Mal ist Jimmy auch ein Teil der Welt von Tristan. Einer mitgenommenen Welt. Einer Welt in einer grossen Familie. So ganz anders wie das verlorene Glück in Jimmys Familie, seit der Vater nicht mehr da ist, alles im Haus, was an ihn erinnern könnte, ausgemerzt ist.

Jimmy sammelt Flippos, kleine, bunte Klebebilder, die er in Alben sammelt. Und weil sein Taschengeld nicht reicht, um jene Chipstüten zu kaufen, in denen Flippos beigelegt sind, macht Jimmy jeden Tag seine kleine Fahrradtour und sucht in irgendwelchen Automaten nach liegengelassenen Münzen. Bis er eines Tages, mittlerweile liegt der Ausweisungsbescheid an die Familie Ibrahimi auf ihrem Tisch, im Schlitz eines Geldautomaten ein Bündel Banknoten sieht. Er bleibt stehen, nimmt das Bündel; 5000 Gulden – eine Menge Geld für eine ganze Menge Chipstüten. Aber das vermeindliche Glück dauert nicht lange. Ein Mann fährt mit seinem Auto vor und fragt Jimmy, was der in seiner Jackentasche verschwinden liess. Jimmy ist das Geld wieder los. Nicht einmal ein Finderlohn. Ein ehrlicher Finder. Erst später wird Jimmy bewusst, wofür man das Geld auch noch hätte brauchen können, zum Beispiel für einen Anwalt.

Lize Spit «Der ehrliche Finder», S. Fischer, 2024, aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, 128. Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-10-397564-2

Jimmy sammelt nicht nur Flippos, irgendwann, wenn die Gelegenheit die richtige ist, wird er auch seinem Freund Tristan ein volles Album übergeben, Jimmy sammelt Geschichten. Er schreibt in ein kleines Buch, dem er den Titel „Tristans Krieg“ gab. Er schreibt, was er von Tristan erfährt, chronologisch. Er versuchte nicht, eigens danach zu angeln, Sensationen wollte er nicht, das passte nicht zu seinem Beruf als Ehrlicher Finder. Was Jimmy erfährt, ist nicht leicht einzuordnen, noch weniger das, was im Dorf die Runde macht. 

Aber die Familie Ibrahimi bringt nicht nur Jimmys ehrliche Seele in Aufruhr. Das ganze Dorf wird mitgerissen. Ibrahimis enges Zuhause wird zugedeckt von Dingen, von denen andere glauben, man könne sie in der Not brauchen; Möbel, Säcke mit Bettwäsche und Kartons voller Spielzeug, Dinge, die Kurt, der Vermieter der Ibrahimis, in seiner Gebrauchtwarenhandel „Klein-Kosovo“ wieder zu gutem Geld macht. Im Dorf formiert sich eine Allianz, die erreichen will, dass die Ibrahimis bleiben können. Jimmy würde seinen Freund nicht verlieren. Tristan, von dem er nur den Tristan-nach-der-Flucht kennt, den Tristan mit der permanenten Angst, ausgewiesen zu werden, nie den kosovarischen Tristan, der einst auf einem Bauernhof aufwuchs.

Lize Spit ist eine Spezialistin der Ausnahmezustände. Das bewies sie auch schon mit ihrem vorherigen Roman „Ich bin nicht da“ über eine junge Frau, der die grosse Liebe von einer psychischen Erkrankung weggerissen wird. Lize Spit erzählt in kleinen Geschichten von den grossen, wichtigen Dingen des Lebens; von Freundschaft und Liebe, von der Suche nach Zugehörigkeit und dem Wunsch verstanden zu werden. Lize Spit erzählt in ruhigen Bildern, scheinbar unspektakulär, aber mit grösstmöglicher Empathie. Kein Wunder, hat dieses warmherzige und ehrliche Buch über eine Freundschaft zwischen einem belgischen und einem kosovarischen Jungen in Belgien Diskussionen ausgelöst. Das Buch hat es in sich!

Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman «Und es schmilzt» stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste, gewann zahlreiche Literaturpreise und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Auch ihr zweiter Roman, «Ich bin nicht da», war ein großer Erfolg. Mit ihrem dritten Roman, «Der ehrliche Finder», hat sie ein ganzes Land aufgewühlt.

Helga van Beuningen ist die Übersetzerin von Margriet de Moor, A. F. Th. van der Heijden, Marcel Möring, Cees Nooteboom u.a. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Martinus-Nijhoff-Preis, dem Helmut-M.-Braem-Preis und dem Else-Otten-Preis. 2021 wurde ihr der Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW verliehen.

Beitragsbild © Lieve Blanquaert

53. Rauriser Literaturtage April 2024 – ein Bücherfest der Extraklasse!

Das Rauristal, eine Bahnstunde südlich von Salzburg, ist zwischen Ski- und Wandersaison ein stilles Tal. Und manch eine Lokalität ist für immer verrammelt, es wächst Gras aus den Parkplätzen, weil man einst von Grossem träumte. Das Rauristal ist ein geschlossenes Tal, ein Tal ohne Durchgangsverkehr, ein Sackgasstal. Aber ganz bestimmt nicht in jener Vorfrühlingswoche, in der jeweils die Rauriser Literaturtage stattfinden, in denen Winde aus nah und fern durchs Tal wehen, in denen sich das Tal auftut, der Horizont selbst dann aufbricht, wenn man sich in geschlossenen Räumen aufhält.

Als die Rauriser Literaturtage vor 53 Jahren gegründet wurden, waren Festivals wie dieses alles andere als selbstverständlich. Aber das Publikum schien begierig darauf gewartet zu haben. Und weil bei seiner ersten Durchführung 1971 schon Thomas Bernhard Gast an den Rauriser Literaturtagen war, im Jahr zuvor als Georg-Büchner-Preisträger gekürt, begann ein Festival zu strahlen, das bis heute nichts von seinem Glanz eingebüst hat, ganz im Gegenteil. Rauris ist mit seinen Literaturtagen gewachsen und das Festival im Rauristal.

Seit ein paar Jahren geben sich die Literaturtage ein Thema, heuer „Geschichten vom Zusammenleben“. Ein Thema, das sich angesichts der Probleme und Miseren, die sich uns stellen, mehr als aufdrängt. Ein Thema, das von der Literatur vielfach intensiv beackert wird. Ein Thema, mit dem die Literatur in Tiefen zu leuchten vermag, die sich den Überdrüssigen verschliessen. Texte stellen sich einem Publikum und stellen das Publikum. Sie beantworten keine Fragen, offenbaren keine Lösungen. Aber Literatur stellt präzise Fragen, deckt auf, entschlüsselt, sucht Form, wo sonst pure Sprachlosigkeit grassiert.

Matthias Gruber ist ein Roman gelungen, der, wohl der Grund seines Erzählens, auf einer großen Empathie seinen Figuren gegenüber aufbaut und an bedeutende Genres der Literatur anschliesst: das Märchen, die Fabel, die Legende. Er bringt diese Urformen des Erzählens so geschickt, leichthändig und verwandelt ins literarische Spiel mit sozialen Medien, gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen der heutigen Zeit ein, dass man über den ästhetischen Gewinn der Lektüre nur staunen kann. Dieses Buch wirft einen neuen Blick auf das Leben und was es sein kann.“ Jurybegründung zum Rauriser Literaturpreis 2024 für Matthias Grubers Debüt „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“.

Mobilmachung“ von Margit Schreiner: Ein Fötus und Säugling, der zu verstehen sucht und sich mit jeder Frage Stück für Stück emanzipiert, auch wenn dieser weiss, dass die Erwachsenen damit nicht allzu sehr überfordert werden dürfen. Nichts ist heilig, schon gar nicht die Religion, nicht einmal die Muttermilch. Man liest „Mobilmachung“ mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Betroffenheit, witziger Unterhaltung und demaskierender Verwunderung. Eine „Nestbeschmutzung“ der besonderen Art, eine „Publikumsbeschimpfung“ in bester österreichischer Tradition.

Amir Gudarzi auf der Heimalm in Zusammenarbeit mit dem Literaturforum Leselampe, Moderation: Magdalena Stieb

In seinem Debüt „Das Ende ist nah“ beschreibt Amir Gudarzi die Geschichte von A., mit Sicherheit seine Geschichte, aber damit viel mehr. Nämlich die Geschichte aller Geflohener, Heimatloser, Entwurzelter, Vertriebener und Verlorener. Die Geschichten jener, denen man überall begegnet; auf Bahnhöfen, in Parks, auf Plätzen mitten in der Stadt, irgendwo abgeschoben auf dem Land, am Strassenrand, auf einer Bank, ins Warten und Nichtstun verbannt, der Willkür von Bürokratie und Fremdenhass ausgesetzt. Ob in Österreich, in der Schweiz oder in Deutschland, wir lieben die Geschichten jener, die es geschafft haben. Das Vielfache jener, die es nicht schafften, versenken wir erfolgreich im grossen Vergessen.

Gianna Molinari im Gespräch mit StudentInnen der Universität Klagenfurt

Gianna Molinaris Roman „Hinter der Hecke die Welt“ erzählt nur rudimentär eine Geschichte. An einem Plott ist die Autorin nicht interessiert. Gianna Molinari schreibt wie die Arktisforscherin Proben aus den Sedimenten zieht. Sie liest aus den Veränderungen der Zeit. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein zweihundertseitenlanger Versuch, die Schichten der Veränderungen zu lesen. Das Vergnügen der Interpretation liegt ganz bei den LeserInnen. Ein faszinierender Leseprozess, ein Lesevergnügen der besonderen Art, wie schon in ihrem Debüt. Und doch ist der Roman weit mehr als ein sprachliches Fabulieren. Gianna Molinari zeichnet Skizzen, nicht nur sprachlich, zwischendurch gar bildhaft. Aber ihre Zeichnungen illustrieren nicht, genauso wie ihr Erzählen. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein schillerndes Porträt des Gegenwärtigen. Eine romanlange Aufforderung nachzudenken, ein literarisches Forschen in den Sedimenten des Lebens.

Sabine Gruber beschreibt in «Die Dauer der Liebe» eine Frau, die in den Ungewissheiten und dem Wegbrechen aller Sicherheiten den Halt im Leben zu verlieren droht, die mit Verzweiflung nach Gewissheiten sucht, irgendwann sogar in ein Auto steigt, um nach dem nachzuforschen, was sich in ihrem Geist zu Ungeheuerlichkeiten auftürmt. Sie schreibt von einer Frau, die ihr Leben neu kartographieren muss. Ein feinfühliger Roman, der nie in Sentimentalität wegbricht. Ein leidenschaftlicher Roman über die Macht der Liebe, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und den drohenden Verlust aller Gewissheiten.

Jan Wagner zusammen mit StudentInnen der Universität Wien

Jan Wagner las aus seinem Gedichtband „Steine & Erden“ über das Kleine, das Unscheinbare, auch das Abseitige, Fallen-Gelassene, Periphere. Jan Wagner greift auf, verfremdet und erzählt dadurch Grosses über Welt und Gesellschaft, über Politisches und Kulturelles, nicht zuletzt über Wahrheit und Schönheit. Aber so schön sie oft sind, seine Klangwunder und Sprachspiele – sie sind nicht stromlinienförmig, idyllisch oder gefällig. Unter der glatten Oberfäche blitzt immer auch etwas Verstörendes, Bissiges, Finsteres auf. Und: sein virtuoses Spiel mit der Sprache hat immer auch einen Gegenpart, nämlich die strenge Form.

Robert Prosser zusammen mit Lan Sticker bei einer Rauriser Hauslesung

Robert Prossers „Verschwinden in Lawinen“ ist viel mehr als ein Lawinenroman. Das deutet schon der Infinitiv im Titel an. Lawinen sind vielfältig. Es gibt jene aus Schnee und Steinmassen, aus Schlamm und Geschiebe. Aber es gibt auch jene, die Leben unsichtbar verschütten, die Menschen niederdrücken, Menschen nicht entfliehen lassen. Robert Prossers Sprache ist stark, ihr Klang so archaisch wie das Licht, die Konturen der Berge, die Kälte; und so direkt, wie die Schilderungen einer Schlachtung im Dorf, als der Protagonist bereits weiss, dass irgendwo da oben ein noch nicht erwachsener Bursche einen langen Kampf ums Überleben auszustehen hat. Robert Prossers Schreiben folgt nicht dem Countdown um Leben und Tod, sondern den Verletzungen der vielfach Verschütteten, dem Verschwinden in Lawinen. Beeindruckend und nachhal(l)tig!

Milena Michiko Flašar im Gespräch mit Festival-Co-Leiter Manfred Mittermayer
Milena Michiko Flašar im Gespräch mit Festival-Co-Leiter Manfred Mittermayer

Milena Michiko Flašar reisst in „Oben Erde, unten Himmel“ eine Tür auf, eine Tür, hinter der es stinkt, hinter der sich Fliegen und anderes Krabbelgetier über jene Säfte hermachen, die übrigbleiben, wenn Tote liegenbleiben. Die Autorin zelebriert aber weder den Schrecken noch die Abscheu. „Oben Erde, unten Himmel“ erzählt von jenem Dazwischen, vor dem wir allzu gerne die Augen verschliessen. Die Autorin beschreibt mit grosser Nähe und aller verfügbaren Liebe für menschliche Eigenheiten, derart liebevoll, dass man das Buch nach der Lektüre nur ungern zur Seite legt. Gleichzeitig konfrontiert sie nicht nur ihr Personal, sondern auch mich als Leser mit Fragen rund ums Sterben. Warum es in einer Welt, in der man von Dichtestresse spricht, immer mehr Menschen gibt, die sich in ihrer Einsamkeit verlieren und keinen Weg mehr herausfinden.

Das sind nur einige wenige Höhepunkte. Ich danke den OrganisatorInnen, dem grossen Team für ein äusserst gelungenes Festival!

Beitragsbilder © David Sailer IMAGES

Lukas Sam Schreiber «Aitutaki-Blues», Goldmann

Mit 60 brach mit der Diagnose Alzheimer eine sich langsam abwickelnde Katastrophe ins Leben der Schriftstellerin Claudia Schreiber. Eine Katastrophe für sie und ihre Familie. Zusammen mit ihrem Sohn Lukas unternahm die Autorin 2019 eine letzte grosse Reise ans andere Ende der Welt.

Ich lernte die Schriftstellerin Claudia Schreiber 2013 persönlich kennen, als ich mich nach der Lektüre ihrer Bücher traute, ihr zu schreiben und von meinen Leseerlebnissen schwärmte. Genau in jenem Jahr inszenierte das Theater Konstanz ein Stück für Kinder, das aus einem ihrer Bilderbücher entstand; „Sultan und Kotzbrocken“. Und weil die Kölner Schriftstellerin beabsichtigte, eine der Vorstellungen zu besuchen und für ein paar Tage bei einer Freundin in Friedrichshafen wohnte, machte sie den Vorschlage, ob ich nicht Lust hätte, eine Lesung in der Schweiz zu organisieren. Weil ich zusammen mit meiner Frau damals schon Hauslesungen in unserem Wohnzimmer durchführte, taten wir dies mit Freude auch mit Claudia Schreiber. Und weil die Begeisterung für diese Autorin überschwappte, war die Stube rappelvoll, als Claudia Schreiber mit ihrer Freundin vorfuhr. Sie las aus ihrem Roman „Süss wie Schattenmorellen“, ein Roman, von dem ich erst viel später erfuhr, wie viel Eigenes darin zu Literatur wurde.

Aus dem Besuch damals wurde eine Freundschaft. 2019 kam sie noch einmal auf einer Lesereise in den Süden bis nach Überlingen, wo wir viel Zeit bei Spaziergängen und in Restaurants verbrachten und sie mir von ihrer Diagnose Alzheimer erzählte. Gespräche, die mich mehr als traurig machten, weil sie durch nichts zu trösten waren. Alzheimer lässt keine Hoffnung, ist unbarmherzig. Ich kenne kaum jemanden, die oder der fähiger gewesen wäre, den Kampf aufzunehmen. Claudia Schreiber hatte viele Kämpfe aufgenommen und wenn auch mit vielen Niederlagen stets den Kopf oben behalten. Alzheimer aber gibt niemandem eine Chance.

«Das Vergessen ist für mich wie Wasser, das wegrinnt. Die Gedanken fliessen unweigerlich aus meinem Kopf. Ich wünschte, ich könnte es …aber ich kann das Loch nicht stopfen. Ich habe überhaupt keine Erinnerung an irgendwas.»

Im Sommer 2021 besuchte ich sie ein letztes Mal. Mit dem Fahrrad. Ich gab mir zehn Tage Zeit, von Basel bis Köln. Zehn Tage, die ich brauchte, um mich auf die Tage zusammen mit ihr vorzubereiten. Ich hatte mir ein Zimmer ganz in der Nähe ihrer Wohnung gebucht, hatte am Abend vor dem ausgemachten Klingeln an ihrer Wohnungstür vom Strampeln erschöpft eingecheckt und in der Nacht danach schlecht geschlafen. Die Tage mit ihr waren ein grosses Geschenk. Aber als wir uns verabschiedeten und am letzten Abend mit einem Glas Wein anstiessen, hatte der Abschied etwas Endgültiges. Sie würde auf eine Reise gehen, von der es kein Zurück gibt, in eine Zukunft ohne Vergangenheit, hinein in eine grosse Leere.

Lukas Sam Schreiber «Aitutaki-Blues», Golmann, 2022, 224 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-442-14285-9

Damals, als ich die Tage mit Claudia Schreiber verbrachte, war die gemeinsame Reise mit einem ihrer beiden Söhne, mit Lukas, kein Thema mehr. Claudia hatte die Reise vergessen, oder mir gegenüber mit keiner Silbe erwähnt. Die Reise auf eine kleine Insel, Aitutaki, ihre Wunschreise ans andere Ende der Welt. Und weil ich kein Potcast-Konsument bin und Sam Lukas Schreibers Hörgeschichte an mir vorbeiging, musste die Geschichte dieser Reise als Buch zu mir kommen. Ein Buch, das keinen literarischen Anspruch erfüllen will, aber die Geschichte vieler Reisen erzählt, auch von einer, von der es kein Zurück gibt.

«Claudias brillantes Hirn ist inkontinent geworden. Die Welt wirft ihr tausend Sachen in den Schoss und sie kann die Dinge nicht mehr halten. Dabei findet alles, was wir empfinden und als unser Leben wahrnehmen, doch in unserem Kopf statt. Wir sind nur das. Claudia zieht in eine Welt, die ich nicht kennen kann.»

Claudia Schreiber schrieb ihr Leben lang, zuerst als erfolgreiche Mitarbeiterin im Hörfunk, später als Schriftstellerin. Eine Frau, die von ihrem Leben schrieb, die das Schreiben als Lebenselexier brauchte, die aber auch wirtschaftlich davon abhängig war, in einigermassen regelmässigen Abständen ein Buch herauszugeben und auf Lesereise zu gehen. Dass sie mit ihrer Krankheit genau diese Fähigkeit verliert, dass ausgerechnet sie, die immer unabhängig und proaktiv war, zunehmend abhängig und orientierungslos wird, an Kleinigkeiten verzweifelnd, muss sowohl für die Betroffenen wie für die Angehörigen schrecklich sein. Claudia Schreiber hat sich aus einer baptistischen Vergangenheit geschält, die Übergriffe eines dominaten Vaters ein Leben lang mit sich herumgeschleppt, zwei Söhne grossgezogen, zehn Bücher geschieben und mit der preisgekrönten Verfilmung ihres Roman „Emmas Glück“ grosse Höhepunkte erlebt. Heute schreibt Claudia Schreiber nicht einmal mehr Notizen, führt aber noch immer Gespräche mit ihrer Familie, wenn die Themen auch immer wieder die selben sind; der Tod, das Verblöden, die Angst und der Zorn.

„Aitutaki blues“ ist der Reisebericht des Sohnes, eine Reise mit seiner an Alzheimer erkrankten Mutter. Eine Reise, von der die Mutter ein Leben lang sprach, manchmal als Wunsch, manchmal als Drohung. Und als die Diagnose wie ein Komet in das Leben der Familie einschlug, fasste sich Lukas ein Herz und trat die Reise an, solange die Mutter noch etwas davon haben würde. Eine Reise ins Ungewisse, ein Stück auf einem unendlich langen Abschied von seiner Mutter, ein Stück Nähe, das Geschenk einer paradiesischen Erinnerung. „Aitutaki blues“ ist Auseinandersetzung mit den sich immer wiederholenen Gesprächen über das Sterben, das Versinken, das Verschwinden. „Aitutaki blues“ ist der Liebesbeweis eines Sohnes, einer Familie, an eine Mutter und Freundin, die alles gegeben hat.

Claudia Schreibers Bücher sind noch immer lesenswert! Ob „Emmas Glück“, eine tragikomische Liebesgeschichte von der Schweinezüchterin Emma, die im Wrack eines Ferraris einen bewusstlosen Mann und eine Plastiktüte voller Dollarnoten findet: endlich ein Mann und genügend Geld, um ihren verschuldeten Hof zu retten. Ober „Süss wie Schattenmorellen“, die Reifung eines Mädchens zur Frau, umgeben von kuriosen Figuren. Oder „Goldregenrausch“, die Abrechnung mit einer Familie, bei der nur Arbeit und Erfolg zählt. Oder die beiden „Sultan und Kotzbrocken“ Bilderbücher, die allen Witz der Autorin auf den Punkt bringen!

Interview:

Das Buch ist Teil eines langen Abschieds. Oft gibt es keinen Abschied. Menschen sterben einfach weg. Tröstet dich dein eigenes Buch?
Ich würde sagen Ja. Auch weil ich mich ihr im Schreibprozess wahnsinnig nahe gefühlt habe. Das war ihre Leidenschaft, ihr Instrument – und das auf eine intensive Art zu erleben hat mich nochmal ganz anders verstehen lassen, welche Arbeit sie hatte. Teilweise war es auch echt zäh und schwer, nicht emotional abzuschalten, weil es teils auch echt schwer war so in die Gefühle reinzugehen. Letztendlich bin ich sehr dankbar, dass ich das Buch geschrieben habe.

Stellt sich irgendwann Resignation ein? Bei dir? Bei deiner Mutter?
Definitiv. Ist auch gar nicht zu verhindern. Sie ist ja nicht nur krank. Es strahlt auf alles aus. Das Familienleben, Feste, den Alltag, ihr Essverhalten, die psychische Verfassung aller Angehörigen, Freunde die bleiben & Freunde die nicht mehr bleiben können. Manchmal kann man nur resignieren und weitermachen. Lachen geht trotzdem immer. Meistens ist es sogar das Einzige, dass Licht bringt.

Bildet man als Sohn einer an Alzheimer erkrankten Schriftstellerin nicht auch irgendwann eine Art Schale, einen Abwehrmechanismus, vielleicht sogar einen gewissen Zorn, weil man nicht dauernd darauf reduziert werden will? Auch als Fachmann im „Umgang mit dieser Krankheit“?
Nein, zum Glück nicht. Das war ein Lebensabschnitt. Ich denk oft an ein Gedicht von Bukowski «Roll the Dice»: ‹If you’re going to try, go all the way. You will ride life straight to perfect laughter. It’s the only good fight there is». Wenn man das Buch schreibt, dann macht man es richtig. Mit allem was dazu gehört. Gut und schlecht. Das habe ich mir so ausgesucht. Das ist unser Familienhandwerk. Wir sind die Schreibers. Da wird aufgeschrieben und erzählt. Bis keiner mehr zuhören will.

Wäre Lukas Schreiber heute ein anderer, hätte es diese Krankheit in seiner Familie nicht gegeben? Was bedeutet diese Krankheit für Dich, Deine Zukunft?
Zu eintausend Prozent. Ich hatte mal eine Phase, in der ich mich sehr schuldig gefühlt habe, da ich den Eindruck hatte – dass die Dinge sogar insgesamt besser geworden sind durch die Krankheit. Ein viel engeres Verhältnis zu meinem Vater, meinem Bruder, anderen Verwandten. Eine tiefe Verbindung zum Leben und zum Tod. Eine Sehnsucht, das Leben intensivst zu lieben. Alles mitzunehmen auf eine verantwortungsvolle Art und Weise. Ich habe ausgerechnet auf Aitutaki zum ersten Mal Camus gelesen. Das ist in mein Herz gesprintet wie nichts Anderes. ‹One must imagine Sisyphus smiling›. 

Ich vermisse meine Mutter wie sie war. Vermisse jeden Tag ihre Ratschläge, die jetzt nicht mehr kommen. Ihre nicht zu bändigende Kraft. Ihre Arbeitswut. Ihr Lachen ist zum Glück geblieben. Und dann weiß man, dass es schlimmer werden wird mit der Krankheit. Ich würde sagen, darauf sind wir vorbereitet. Und so viele schöne Momente wir bis dahin noch erleben dürfen, desto besser

Ich fahre Claudia in einigen Wochen zu einer Theateraufführung von ihrem Buch «Goldregenrausch». Wird sie verstehen, was auf der Bühne passiert? Wird sie sich wenige Stunden danach noch an eine einzelne Szene erinnern? Nein. Ist es das trotzdem wert? Auf jeden Fall!

Danke Lukas!
© Jens Oellermann

Lukas Sam Schreiber, geboren 1991, ist Podcastproduzent. Er ist viel rumgekommen in der Welt, doch die weite Reise zum Atoll Aitutaki hat ihn am nachhaltigsten bewegt – vor allem wegen seiner Reisebegleitungen: seine Mutter Claudia und ihr Alzheimer. Seither denkt Lukas über vieles anders, vor allem über das Leben und den Tod.

Claudia Schreiber, geboren 1958, studierte Kommunikationswissenschaften und Pädagogik in Göttingen und Mainz, war für den SWF3 und das ZDF tätig, bevor sie mit ihrer Familie für sieben Jahre nach Moskau und Brüssel zog. Danach arbeitete sie bis zu ihrer Alzheimerdiagnose mit Anfang sechzig als Autorin und Journalistin in Köln. Claudia Schreiber hat fünfzehn Romane und Kinderbücher geschrieben. Ihr bekanntestes Werk ist der mehrfach ausgezeichnete Roman »Emmas Glück«, der in neun Sprachen übersetzt und mit Jördis Triebel und Jürgen Vogel in den Hauptrollen verfilmt wurde.

Rezension von «Goldregenrausch» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Gerbrand Bakker «Der Sohn des Friseurs», Suhrkamp

Mit seinem Roman „Oben ist es still“ (dt, 2008) hat sich der niederländische Schriftsteller nicht nur bei mir tief ins literarische Bewusstsein gegraben. Da schreibt einer mit einem ganz eigenen Blick auf Menschen und Szenarien! Mit seinem neusten Roman „Der Sohn des Friseurs“ setzt Gerbrand Bakker noch einen drauf!

Da ist die Geschichte eines stillen Mannes, der in seiner Freizeit Stunden Länge um Länge im Hallenbad schwimmt, der den Friseursalon seines Grossvaters weiterführt und gerade so viel arbeitet, dass es reicht. Da ist die Geschichte eines Sohnes, der die Einmischungen seiner Mutter stoisch erträgt und auf die Fragen nach seinem Vater keine Antworten bekommt. Die Geschichte eines Kunden, eines Schriftstellers, der erst zaghaft nach Einblicken in die Arbeit eines Friseurs fragt und ein immer wichtigerer Teil im Leben des stillen Mannes wird. Und die Geschichte eines Vaters, der sich aus seinem Leben weggeschlichen, dem eine Katastrophe zu einem Neuanfang verholfen hat.

Gerbrand Bakker erzählt die unspektakulären Leben der kleinen Leute. Und weil er sich selbst auch zu ihnen zählt und ganz offensichtlich nichts am Hut hat mit kulturellem Klassenbewusstsein, ist auch der Schriftsteller, der sich in diese Geschichte mischt und unzweifelhaft seine Züge trägt, ein „kleiner Mann“. Einer, der seine Arbeit macht, gerade so viel, dass es reicht, so wie Simon in seinem Salon in der Stadt. Jener Schriftsteller, der sich zu Recherchezwecken so sehr für die Arbeit eines Friseurs interessiert, wurde mit einem Roman „Oben ist es still“ bekannt. Er ist einer neuen Geschichte auf der Spur, jener eines stillen Mannes, der in seiner Freizeit Stunden Länge um Länge im Hallenbad schwimmt.

Gerbrand Bakker «Der Sohn des Friseurs», Suhrkamp, 2024, aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, 285 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-518-43158-0

In Simons Salon ist die Zeit stehengeblieben, alles noch immer so wie damals, als sein Vater aus dem Leben der Familie gerissen wurde, Opfer jener Flugzeugkatastrophe vom 27. März 1977, als eine Boing der KLM und einer der Pan American auf der Ferieninsel Teneriffa bei Nebel auf dem Flughafen Los Rodeos zusammenkrachten. Fast 600 Tote. Simons Mutter verweigert Antworten auf Fragen nach seinem Vater. Simons Mutter war damals schwanger, schwanger mit Simon. Und obwohl Simons Vater keine Erinnerungen generiert, bestimmt er immer wieder Simons Gedanken. Nicht zuletzt, weil sein Grossvater, der damals seinen Salon zu einem regelrechten Quartiertreffpunkt gemacht hatte und so ganz anders tickt wie er, immer wieder rätselhafte Andeutungen machte, beginnt Simon zaghaft eine Recherche.

Gerbrand Bakker erzählt aber auch die Geschichte des Vaters, der damals in einem jener Flugzeuge sass, aber eben nur vor dem Start auf der Ferieninsel, vor der tödlichen Katastrophe. Weggeschlichen aus einem Leben, das ihm zu vorgezeichnet erschien. Es hätten ein paar Tage mit einem Praktikanten aus dem Salon werden sollen. Es wurde ein ganzes Leben auf der Insel, in einem neuen Leben.
Und Gerbrand Bakker erzählt die Geschichte eines Schriftstellers, der auf der Suche nach einem neuen Stoff ist, der der Spur einer Geschichte folgt, der mehr und mehr vom Leben des vierzigjährigen Simons erfährt und sich nicht zuletzt von ihm hingezogen fühlt, sie beide ruhelose Seelen auf der Suche nach einer Spur. In Simons Wohnung über dem Salon, in dessen Schlafzimmer immer noch die eigerahmten Poster seiner grossen Schwimmidole hängen, stehen auch die Bücher des Schriftstellers. Obwohl sie erst nur höfliche Geschenke waren, beginnt Simon zu lesen. So nähern sich die beiden Männer an, verknoten sich mit ihren Geschichten.

„Der Sohn des Friseurs“ ist eine Geschichte, die sich selbst erzählt. Gerbrand Bakker erzählt von sich, von seinem Schreiben, nicht zuletzt vom Unerklärlichen des Literaturbetriebs, witzig dann, wenn er von einer Begegnung mit dem grossen Kehlmann erzählt, bescheiden dann, wenn er sich an der Übersteigerung seines Berufsstands stört. „Der Sohn des Friseurs“ ist Vater- Sohn- und Enkelgeschichte. Die Geschichte einer Familie, die eine Katastrophe zeichnete. Wie viel ist Bestimmung? Können wir uns so einfach verabschieden? Wer und was bestimmt, was wir tun? Gerbrand Bakker stellt seine Fragen ganz dezent, erzählt scheinbar locker und bleibt seinen Figuren freundschaftlich nah. Ein echter Bakker!

Gerbrand Bakker, 1962 geboren, lebt und arbeitet in Amsterdam und in der Eifel. Neben dem Schreiben ist er auch als Gärtner und hin und wieder als Eisschnelllauftrainer tätig. Seine Romane, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, sind vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Independent Foreign Fiction Prize und dem International IMPAC Dublin Literary Award.

Andreas Ecke hat neben Gerbrand Bakker, AutorInnen wie Saskia Goldschmidt und Ernest van der Kwast ins Deutsche übertragen. Er wurde mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis und dem Europäischen Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Marc Brester

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger

Es gibt Geschichten und Stoffe, bei denen man sich wundert, dass sie so lange schlummerten, so lange warten mussten, bis jemand Literatur aus ihnen macht. Was Margrit Schriber mit ihrem Meisterstück „Die Stickerin“ gelungen ist, ist verblüffend und weht den Wind grosser Gefühle und grosser Leidenschaften in meine kleine Lesestube.

Sie sei dem Stoff vor vielen Jahren über den Weg gelaufen. Und auch wenn andere Bücher zuerst geschrieben werden mussten, reifte der Stoff, bis er sich nicht mehr zurückhalten liess“, erzählte Margrit Schriber anlässlich ihrer Buchtaufe im proppenvollen Saal beim Hotel Hofweissbad, unweit von jenem Ort, an dem die Protagonistin Maria Antonia Räss 1893 zur Welt kam. Im Appenzell Innerrhodischen, auf einem kleinen Bauerngut auf dem Wellenhügel, einem niederen Gehöft, in dessen Webkeller die kleine Maria Antonia schon fünfjährig als flinke Fädlerin auffiel, reist die auserwählte Sechzehnjährige als Schaustickerin in die europäischen Metropolen, als eigentliches Exportgut eines Bauernkantons, im Schatten der Stickereimetropole St. Gallen und erobert später aus ihrer Broderie in New York die Haute Couture und den Geldadel des 20. Jahrhunderts.

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger, 2024, 233 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-03762-111-0

Die Gegensätze in Margrit Schribers Roman könnten grösser nicht sein: Hier das beschaulich, niedlich scheinende Appenzellerland, dort die Schluchten New Yorks. Hier die düster feuchten Keller im Hof Grüt, dort die mondäne Broderie im Rockefeller Center. Hier der Geruch nach Ziegen und Kuhmilch, dort der müde Kater auf dem Samtkissen. Margrit Schriber leuchtet das Leben der reichen Tante in Amerika nicht aus. Den reichen Teppich aus Fakten und Fiktion bestickt Margrit Schriber gekonnt zu einem Zeugnis des 20. Jahrhunderts, der Geschichte einer Frau, die sich nicht bestimmen lassen will, ausgewandert aus einem Landstrich, indem das Frauenstimmrecht erst nach dem Tod der Protagonistin 1990 von den Männern gnädigst angenommen wurde, eingetaucht in ein Land der Einwanderer, ein Land, das von Kriegen und Weltwirtschaftskrisen gebeutelt wurde.

„Maria Antonia Räss. Die Stickerin“ ist ein Roman von unbändiger Kraft, auch ein Spiegelbild der Autorin selbst, die ein Leben lang mit den traditionellen Einordungen und Zuschreibungen zu kämpfen hatte. MAR, Maria Antonia Räss regierte zu Lebzeiten unangefochten ein Imperium und verschaffte vielen in ihrem Heimatkanton ein sicheres Einkommen. Sie, die es in Übersee schaffte, aus der Namenlosigkeit Bedeutung zu generieren, eine Vertraute Coco Chanels wurde, eine Muse Walt Disneys, inszenierte ihre Besuche im Appenzellerland stets zu grosszügigen Triumpfzügen, bei denen sie im besten Hotel des Ortes Hof hielt. Die kleine Frau, die die Upperclass der Staaten blendete, gab sich im Heimatkanton als Wohltäterin und heimliche Rächerin an den festgefahrenen Strukturen einer patriarchalischen Welt.

Aber Margrit Schribers Intention war kein Denkmal, kein Geschichtsbuch und keine Tellerwäscherinnenbiographie. Margrit Schriber zeichnet ein Porträt einer ewig suchenden Frau. Sei es die Suche nach Anerkennung, nach Liebe und Geborgenheit, nach Sicherheit und Respekt. Maria Antonia Räss bleibt auch nach der Lektüre des Romans ein Rätsel. Eine stellvertretende Geschichte all jener, die sich auf den mühsamen Weg der Selbstbestimmung machten, die den Kampf nicht scheuten, die sich nie entmutigen liessen. „Die Stickerin“ ist die Lebensgeschichte einer Frau, die sich ihren nie gestillten Sehnsüchten stellte, die aufrecht blieb, sich in keine Schublade drängen liess.

Bühne ihres Romans ist der Rathaussaal im Kantonshauptort Appenzell, in dem sich alle rechtmässigen und ungeladenen Sippenmitglieder zur Erbteilung versammeln. Auf einem Tisch im Saal ist alles zusammengetragen; Gerätschaften, Porzellan, Handtaschen, Fotos, Briefbündel und eine vernagelte Kiste Dom Pérignon, alles, was von dem einstigen Riesenvermögen übrig geblieben ist. Ziemlich wenig angesichts dessen, was sich in den Vorstellungen ihrer Verwandtschaft über die Jahrzehnte als scheinbare Tatsache verfestigte. Erstaunlich wenig für ein Leben, das die Protagonistin in ihren späten Jahren mit viel Pomp inszenierte.

Maria Antonia Räss starb 1980 auf einer ihrer Reisen in ihren Heimatkanton. Begraben wurde sie auf dem Friedhof Eggerstanden, neben der Kirche, die ohne ihr Geld nie so hätte erbaut werden können. Margrit Schriber schreibt sich mit „Die Stickerin“ nicht nur ins Selbstbewusstsein eines kleinen, traditionsreichen Kantons. Margrit Schriber schrieb mit „Die Stickerin“ einen fulminanten Roman über den Kampf einer Frau durch die Zeit.

Vielfach faszinierend!

Interview

Was für ein Roman, was für ein Buch, was für eine Geschichte. Ich war an der Bauchtaufe im Hotel Hofweissbad im Kanton Appenzell Innerrhoden, einem Ort, der wie die Geschichte von Maria Antonia Räss die Geschichte des kleinen Kantons im 20. Jahrhundert repräsentiert, einer Geschichte zwischen Monarchie, Diktatur und Demokratie, eine Geschichte der Industrialisierung, der Moderne, einer Geschichte zwischen Tradition und Aufbruch. War dir von Anfang an bewusst, wie viel Potenzial in diesem Stoff steckt?
Zuerst war da nur diese Maria Antonia Räss und ihre exzentrischen Auftritte als Frau von Welt, die mich beeindruckten. Als ich mich in die Kinderarbeit an einer Stickmaschine vertiefte, begriff ich, dass sehr viele Vorhänge aufgezogen werden müssen. Schliesslich waren 100 ereignisreiche Jahre aufzudecken. Ich musste den Einfluss der Geschichte auf eine Region erforschen, die ich überhaupt nicht kannte. Die Wirkung der Zeit auf Menschen mit einem anderen Lebenshintergrund, einer anderen Kultur, einer anderen Melodie von ihrem Wellenhügel. Aber nicht nur das. Ich musste die Gestaltungskraft dieser Menschen und die Anziehung der Welt auf sie ergründen. Ich durfte mich nicht nur mit Landsgemeinde-Berichten, der wechselnden Wirtschaft und der europäischen Geschichte zufrieden geben. Diese Tochter eines Geissenbauern ist nach New York ausgewandert, hat sich dort auf dem allerbesten Platz positioniert, den Stickenden in der Heimat Arbeit verschafft und sich auch nach China orientiert. Mein Stoff war entsprechend aufregend, anspruchsvoll, vielseitig und spannend.

Du hattest nie die Intention, eine Biographie zu schreiben. Und trotzdem hat die Buchtaufe unweit des Geburtsorts der Protagonistin bewiesen, wie sehr Du den Nerv dieser Existenz, dieser Zeit getroffen hast. Du hast ein Stück Stellvertretergeschichte geschrieben. Du hast genau soviel Fiktion miteingeschrieben, in das sonst nur undeutliche Bild einer starken Frau hineingestickt, dass sämtliche BesucherInnen dieser Veranstaltung das Gefühl hatten, Du hättest ein Denkmal gesetzt. Auch ein Denkmal für all die Frauen, die in der Fremde vergessen gingen.
Tatsächlich habe ich mich ohne Nebengedanken oder Berechnung durch meinen Stoff hindurch gearbeitet. Und dies mit einer Leidenschaft sondergleichen. Ich verliebe mich in meine Figuren. Ich langweile mich rasch. Meine Figur muss also so sein, dass ich den Kopf nach ihr drehe und nicht mehr wegschauen kann. Ich verschaffe ihr eine Präsenz, die mich erfüllt. Ich will nicht wissen, dass sie zwischen zwei Buchdeckeln lebt. Sie ist ein Teil von mir. Ihr Leben ergibt für mich einen Sinn.

Maria Antonia Räss reiste als Schaustickerin mit sechzehn in die europäischen Metropolen und mit siebenundzwanzig mit nichts als einem Traum und einer Sticknadel aus englischem Stahl ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ausgerechnet aus einem Kanton, in dem die Frauen ein sonst unscheinbares Dasein in der Familie und im Web- oder Stickkeller führten, mit einer Schiffspassage ohne jeden Luxus, ohne Rückfahrkarte. Eine Reise weit, weit weg von allem, was ihre Welt bisher ausmachte. Dein Roman beschreibt auch eine verwundete Frau, ohne Psychologisierung. War es die Lust an dieser offenen, unbeschriebenen Weite?
Da müsste ich mich selber fragen. Warum schreibe ich? Weil es mir unbekannte Wege öffnet? Weil jedes Buch ein Tanz mit dem Leben auf Probe ist? Das Leben lässt wenig Wahl. Was passiert, das passiert. Das Leben ist immer der Ernstfall. Und es ist kurz. Viel zu kurz. Ein Roman ist die tausendfältige Möglichkeit. Eine offene, unbekannte Weite der Phantasie. Das macht Lust, die Augen zu schliessen und loszuziehen. Die Stickerin benutzte dazu ihre Nadel. Ihr Freund Walt Disney nutzte den Zeichenstift. Ich die Tastatur meines Computers. 

Maria Antonia Räss im Micki-Mouse-Car, mit ziemlicher Sicherheit mit Walt Disney

Maria Antonia Räss hatte einen Traum, den sie mit allen Mitteln Tatsache werden lassen wollte. In vielem entspricht ihre Geschichte auch Deiner Geschichte. Deine Reise war eine in ein männer-dominiertes Literaturestablishment, eine Reise, bei der Du noch immer nicht sicher angekommen scheinst. Der Literaturbetrieb ist wie der Modebetrieb eine Welt der Halbgottheiten. Warum verfallen wir so leicht dem Zwang der Schubladisierung, der Macht der Vorurteile, dem Schein des welt“männ“ischen Gestus?
Es ist, wie Du sagst. Und ist es so wie Du sagst, weil zu viele den Kopf nicht nutzen? Ist man zu oberflächlich? Ist es einfacher, andere denken zu lassen, und sich diese Idee dann als eigenes Etikett weithin sichtbar aufzukleben. Es ist bequem, denn das Urteil ist ja vorhanden. Man kann sich bedienen. Zudem ist die Meinung der Gesellschaft eine Macht, wenn nicht gar ein Gesetz. Das eigene Urteil könnte womöglich Ausschluss von der Gesellschaft bedeuten?   

Die Craisy Woman war im Alter eine Diva, ihre Inszenierung ein Schutzpanzer. Wir inszenieren uns alle. In deinem Roman schimmert eine verletzliche, suchende, leidenschaftliche Frau durch. Dieses Durchscheinende hat aber nichts melodramatisches, nichts exhibitionistisches. Es ist derart zart, fast fluid, dass ich versucht bin zu glauben, dass es gar nicht in Deinem Interesse stand, ein scharfrandiges Bild zu zeichnen. Wolltest du so die Bilder den Lesenden überlassen?
Letztendlich: Was weiss man vom Anderen? Was versteht und begreift man vom Anderen? Der Mensch ist sich selbst ein Rätsel. Will man sich überhaupt bis ins letzte verstehen? Der Wind weht unsere Geheimnisse in alle Richtungen. Und es ist gut so. Ich fand heraus, dass Maria Antonia Räss ihre grosse Liebe zu beklagen hatte. Er war Jude und verschwand in einem Lager. Liebe, Hoffnung, Sehnsucht sind Kräfte, die den Menschen zu Ausserordentlichem bewegen können. Sie geben uns ein Ziel. Ich gestand meiner Figur solche Kräfte zu. Denn was die Crazy Woman erreichte, war ausserordentlich. Woher nahm sie diese Kraft? Für mich war die Antwort klar. Die Sippe von Maria Antonia Räss musste begreifen, dass sie das Leben von der «Der reichen Tante» nie ergründen wird. Daraus ergab sich für mich als Autorin etwas Wunderbares, denn die Verwandten griffen nach tausend Fantasiefäden und machten eine Geschichte daraus.

Margrit Schriber, 1939 in Luzern geboren, lebt in Zofingen und in der Dordogne. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr umfangreiches literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, zB. 1977 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung oder 1998 Aargauer Literaturpreis.

Folgende Titel sind auf literaturblatt.ch besprochen: «Das Abenteuer, eine Frau zu sein» (2022), «Die Vielgeliebte meines Mannes» (2020), «Glänzende Aussichten» (2018), «Schwestern wie Tag und Nacht» (2014)

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