Marianne Künzle «Uns Menschen in den Weg gestreut», Zytglogge

Mai 1921. Benedikt Pradin ist Arzt, 49 und mit seinen ergrauten Schläfen eine stattliche Erscheinung. Er, der immer alles richtig machte, muss erleben, wie selbst ernannte Heiler, Quacksalber und Kurpfuscher seinen Stand verunglimpfen, wie am Bahnhof in Zizers (im Rheintal zwischen Landquart und Chur) ein weitgereister Maharadscha mit seiner Entourage nicht seinesgleichen sucht, sondern den Kräuterpfarrer Johann Künzle.

Johann Künzle, Seelsorger und Kräutermann wurde nicht aus einer zündenden Geschäftsidee zu dem, was Künzle AG und ein umfassendes Lehrwerk über die heilenden Kräfte von Kräutern erahnen lassen. Seine Motivation war es, einer armen, der Willkür der Obrigkeiten ausgesetzten Bevölkerung zurückzugeben, was Industrialisierung, aufbrechende Moderne und Abhängigkeiten von Medizin und Arzneien anrichteten. Daneben war Johann Künzle in den harten Jahren während und nach dem ersten Weltkrieg überzeugt, dass mit Hilfe der Kräuter, die vor den Haustüren der Armen wachsen, viel mehr gegen Hunger und Krankheit hätte unternommen werden können, hätte man nicht vergessen, was seit Jahrhunderten zum Wissen einer naturnahen Bevölkerung gehörte. Im Jahr 1911 schrieb Johann Künzle sein erstes Kräuterbuch „Chrut und Uchrut“, das eine Lawine auszulösen begann. Eine Lawine, die einem Dorf, einer ganzen Gegend Arbeit und begrenzten Wohlstand brachte, Bauernfamilien mit dem Sammeln der Kräuter einen segensreichen Nebenverdienst und Johann Künzle eine nicht immer willkommene Publizität. Aber auf den Ruhm folgten Neid, Missgunst und Verleumdung.

Marianne Künzle schrieb nicht einfach eine Biographie über den Pfarrer mit Nickelbrille und langem weissem Bart, sondern über die Jahre 1910 bis 1922, als Johann Künzle überregional an Bedeutung gewann, weit über die Landesgrenzen hinaus berühmt wurde und sich 1922 entscheiden musste, ob er sich von Neidern in die Enge getrieben zurückziehen soll. Sie beschreibt einen Mann mit vielen Gesichtern; den wohltätigen Pfarrer, den Kinderfreund, den Zornentbrannten, wenn er über Tintenfresser schimpfte, den Unnachgiebigen. Aber die Autorin bleibt nicht bei Pfarrer Künzle allein. Sie setzt ihn geschickt und gekonnt in eine Dreieckskonstellation; Pfarrer Künzle, der den Menschen zuhört, sie ernst nimmt, den Arzt Benedikt Pradin, der sich immer mehr vom Wirken des Pfarrers bedroht fühlt und der ehemalige Lehrer und Emporkömmling Loenz Schumacher. Zwischen den dreien entwickelt sich ein wahrer Krieg, in den alles Verfügbare eingespannt werden soll. Ein Psychogramm dreier Archetypen, die unfähig sind, aus einer festgefahrenen Rolle auszubrechen, auch wenn daran Menschenleben hängen. Und nicht zuletzt eine Geschichte darüber, dass es erst 100 Jahre her ist, dass man Frauen höchst ungern zuhörte und es für Frauen unsäglichen Mut abverlangte, eine eigene Meinung zu äussern. Die Geschichte eines Mannes, der es verstand, seine Gottergebenheit, seinen Glauben nicht bloss mit leeren Worthülsen zu koppeln, sondern mit Begeisterung , mit dem Leben selbst und einem Batzen für fleissige, bedürftige Helfer. Künzle spinnt ein sorgfältiges Geflecht um Johann Künzle und zeigt damit sehr anschaulich, wie sehr der Wangser Kräutermann in Konflikten verwoben war. Die Sprache der Autorin ist überraschend poetisch, hat manchmal etwas vom Geschmack und Geruch der Kräuter. Der Titel des Romans „Uns Menschen in den Weg gestreut“ ist ein Versprechen! Klare Sätze, bildhaft, dem Geschehen ganz nah.

Johann Künzle ist ein zwischen Zeiten und Epochen Eingeklemmter. Auf der einen Seite die Welt der klaren Fronten des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, die nicht zuletzt in Sachen Glauben und Gottverständnis keinerlei Interpretationen zuliess, schon gar nicht jene Verblendung, die die Natur selbst zur Gottheit erklärt. Auf der anderen Seite die alles aufbrechende Moderne, die Revolte, der Aufbruch. Der Pfarrer mit dem asketischen Aussehen, dem zuweilen stechenden Blick war kein Mann des Kompromisses. Die Welt war deutlich eingeteilt in Gutes und Böses. Ebenso war die Reaktion auf ihn und sein Wirken, obwohl er sich je länger je mehr falsch verstanden fühlte, bis er scheinbar resigniert seinen ersten Wirkungsort im St. Gallischen Wangs verlassen musste. Die einen verehrten ihn, andere, nicht zuletzt die etablierte Ärzteschaft, betrachteten ihn als Verkörperung des Rückwärtsgewandten, der Verunglimpfung moderner Wissenschaft, der Medizin. Die Honoratioren der Medizin schienen mit dem wachsenden Zulauf an die Tür des Kräuterpfarrers einen Hexenbann über den streitbaren Pfarrer legen zu wollen. So wurde der kräuterkundige, hilfsbereite und menschenfreundliche Pfarrer zu dem, was im Mittelalter, ein paar Jahrhunderte, zuvor Frauen wegen ihrer Kräuterheilkunde zu Fackeln werden liess.

Nicht zuletzt erstaunte mich bei der Lektüre einiges; Wer weiss, dass im Kanton Graubünden bis 1925 ein ausdrückliches Fahrverbot galt, von dem nicht einmal Krankentransporte ausgenommen wurden. So lud man bis im Sommer 1925 alles an der Grenze zum Kanton vom Automobil aufs Fuhrwerk um! Oder dass die „Spanische Grippe“, die von 1918 bis 1919 wütete, auch in der Schweiz Zehntausende dahinraffte, ausser in den Gemeinden rund um Pfarrer Künzle.

«Uns Menschen in den Weg gestreut» ist eine Mehrfach-Überraschung, ein Roman, sorgfältig mit sicherem Gespür für Sprache und Feinheiten geschrieben. Unbedingt lesenswert!

Marianne Künzle, geboren 1973 in Bern, arbeitete zuerst als Buchhändlerin. Später war sie Kampagnenleiterin im Bereich «Ökologische Landwirtschaft» bei Greenpeace Schweiz. Sie absolvierte einen Lehrgang ‹Literarisches Schreiben› an der SAL (Schule für angewandte Linguistik). Seit Ende 2015 engagiert sich Marianne Künzle in einer Teilzeitanstellung bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Uns Menschen in den Weg gestreut» ist ihr erster Roman.

Peter Schneider «Club der Unentwegten», Kiepenheuer und Witsch

Leben aus der Distanz? Aus der Distanz des Alters? Lieben aus der Distanz? Durch ein halbes Dutzend Flugstunden, über Kontinente getrennt? Durch ein halbes Leben, der Gewissheit, dass gemeinsames Altwerden unmöglich ist? Durch Biografien, die sich nicht so einfach offenbaren lassen, in denen Geheimnisse bleiben?

Roland, vielleicht so alt wie der Autor selbst, Privatgelehrter an einer New Yorker Universität und in Berlin Forschender auf den Spuren rund um die Spekulationen der im Louvre ausgestellten Mona Lisa, verliebt sich doch noch. In eine viel jüngere Frau, die er bei einer Trauerfeier in Manhatten kennenlernt. Roland liest dort ein Stück Prosa des Verstorbenen vor und ist schon während des Lesens betört vom Lachen der jungen Frau. Leyla, persischen Ursprungs, ist nicht nur viel jünger, scheint auch unerreichbar für den in die Jahre gekommenen Gelehrten. Und doch trifft die Liebe beide wie ein Gewitter, ein Wolkenbruch. Roland, abgeklärt und in seinem Leben eingerichtet, sieht sich mit einer Wand aus Emotionen konfrontiert, von denen er sich als werdender Greis befreit  fühlte. Darf und soll er das noch? Soll er sich hingeben, gehen lassen? Selbst im Wissen darum, dass er mit den Empfindungen und Torheiten eines Dreissigjährigen agiert? Ein Mann, der sich sonst mit der Echtheit jenes Bildes auseinandersetzt, das zum Inbegriff des Schönen, der Perfektion zählt. Ein Mann, der nichts dem Zufall überlässt, alles akribisch und wissenschaftlich angeht. Er, der sich immer mehr und unausweichlich mit den Zeichen des Alterns auseinanderzusetzen hat, damit, dass er Namen vergisst, immer öfter das Opfer «einer diskreten Verbrennungsanlage im Gehirn» wird. Ist es die Suche und Sehnsucht nach dem Glück angesichts der unbestreitbaren Endlichkeit des Lebens? Oder ist er nicht einfach ein blinder Idiot? Sind es die Geheimnisse um Leyla, genauso wie die Geheimnisse um den misteriösen Bilderraub vor mehr als 100 Jahren, als ein einfacher Handwerker die Mona Lisa aus dem Louvre trug und das Gemälde längere Zeit verborgen blieb? Roland selbst ist davon überzeugt, dass die ganze Welt dort im Louvre einer Kopie des berühmten Lächelns huldigt. Ist dem Lächeln der Mona Lisa zu trauen? Roland lässt sich in das Abenteuer fallen, erst recht, nachdem die alten Männer im «Club der Unentwegten», sein «alter» Freundeskreis in seiner Heimatstadt Berlin, von ihren Abenteuern erzählen. Alte Männer, die alle irgendwie der Liebe, dem Verliebtsein und der Sehnsucht danach ihr Leben ausrichten. Unentwegt lieben, bereit, alles, was sie an Normalität umgibt, aufs Spiel zu setzen, vielleicht ein letztes Mal.
Roland pendelt zwischen Welten, zwischen Berlin und New York, seinem Zuhause und seinem Liebestraum, zwischen Realität und Rausch. Noch viel mehr, als Leyla Roland bittet, Vater ihres Wunschkindes zu werden. Noch mehr, weil Roland weiss, dass Leyla geschwärzte Seiten mit sich herumträgt, vieles aus ihrer Geschichte, das sie nicht preisgeben will. Auf einer gemeinsamen Reise nach Italien, in die Trümmer der Ruinenstadt Pompeji, als Roland angesichts der Gipsabdrücke der Vulkantoten mit seinen Schilderungen der Katastrophe damals einen emotionalen Ausbruch Leylas verursacht, legt Leyla frei, was sie als Geheimnis, als Verletzung mit sich herumträgt. Leyla verlor damals, als am 11. September 2001 die beiden Türme in New York einstürzten, die Liebe ihres Lebens. Aber nicht, weil der Mann verbrannt, aus dem Fenster gesprungen, von Trümmern erschlagen oder von der Wucht des Einsturzes zerrieben wurde. Was an jenem Septembertag geschah, riss eine Mehrfachwunde in die Seele der jungen Frau.

Peter Schneider ist ein schnörkelloser, leidenschaftlicher Erzähler. Er zieht mich mit den emotionalen Beben eines in die Jahre gekommenen Mannes, der sich seiner Endlichkeit bewusst ist, nicht erst mit dieser einen Liebe, aber mit ihr umso mehr, in den Bann. Peter Schneider weiss, dass Gefühle kein Altern kennen, höchstens immer grösser werdende Entfernung von ihnen. «Club der Unentwegten» ist eine Liebesgeschichte, ein Roman darüber, was zwischen Mann und Frau wider aller Vernunft geschehen kann.

Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton und Harvard. Seit 1996 lehrt er als Writer in Residence an der Georgetown University in Washington D.C. Er lebt in Berlin. Bei Kiepenheuer & Witsch erschienen zuletzt «Die Lieben meiner Mutter», 2013 und «An der Schönheit kann’s nicht liegen», 2015.

Titelbild: Sandra Kottonau

Lena Gorelik «Mehr Schwarz als Lila», Rowohlt

Paul ist verschwunden, seit Tagen. Alex, seine Freundin, macht sich Sorgen. Sie verkriecht sich zuhause, will mit niemandem reden, auch nicht mit Ratte, ihrer Freundin. Paul, Alex und Ratte sind 17, alle in der gleichen Klasse, aber die einzigen in Lena Goreliks Roman „Mehr Schwarz als Lila“, die einen Namen tragen. Alle anderen sind auswechselbar. Paul, Alex und Ratte nicht. Eine Schicksalsgemeinschaft. Eine Dreierbande wie sie es nur mit 17 gibt.

Ratte ist Alex beste Freundin. Ratte heisst eigentlich Nina. Aber Ratte hasst ihren Namen. Und Alex heisst eigentlich Alexandra. Alex wohnt mit ihrem schweigsamen Vater seit dem Tod ihrer Mutter und einem Papagei, den sie von ihrem Vater geschenkt bekam und irgendwie die Leerstelle füllen soll. Paul hat Mutter und Vater, aber auch einen Bruder. Und Pauls kleiner Bruder ist behindert, braucht Mutter und Vater, sodass Paul, dem in der Schule alles ziemlich leicht fällt, viel Zeit übrig bleibt. Für Paul schenken Alex und Ratte das, was er in der Familie nicht findet; Verbundenheit, Nähe. Paul schenkt Alex ein Notizbuch, blau, in Leinen gebunden. Auf dem Deckel steht „Shit that matters“. Alex sammelt Wörter und trägt mehr Schwarz als Lila. Und Ratte? An Ratte ist alles etwas anders, nicht bloss ihre braunen Rastas und dass sie stets ohne Helm auf ihrem Mofa fährt. Die Freundschaft der drei 17jährigen ist alles. Bis zu einem Ausflug, einer Klassenfahrt mit dem Referendar Johnny, mit dem an der Schule alles anders wurde. Sie fahren kurz vor den langen Ferien mit der Klasse nach Auschwitz, nicht nach Italien und ans Meer. Und dann gibt es dort jenen langen Kuss zwischen Alex und Paul. Ein Kuss unter dem Galgen in Auschwitz, ein Kuss, bei dem Alex Paul keine Wahl lässt, ein Kuss, der sich im Netz vertausendfacht, ein Kuss, der Paul in Polen zurücklässt und Alex zwingt, ihre Geschichte zu erzählen.

Lena Goreliks Roman erzählt, was passiert, wenn Freundschaft an der Allgemeinheit, an Interpretationen und Missverständnissen zu zerbrechen droht. Wenn sich ins geschlossene Private plötzlich die Allgemeinheit einmischt. Und Lena Gorelik versteht, dass Freundschaft mit 17, Freundschaft nach der Kindheit und vor dem Erwachsensein, anders ist, als alle Freundschaft sonst. Wenn sie zerbricht, wird nichts mehr so sein, wie es einmal war, weil jene Freundschaft unter den dreien nie mehr und anders ist als Liebe und Familie.

Zum Kippen bringt das untrennbare Dreigestirn ausgerechnet ein Lehrer, ein Referendar, eine Stellvertretung. Ein junger, hübscher Typ. Schwarz gekleidet wie Alex. Lässig irgendwie. „Einer, der den Raum einnimmt, statt reinzukommen.“ Die drei nennen ihn Johnny, was sich der junge Striegel gefallen lässt. Mit Johnny glauben die drei einen Verbündeten in der Welt der Erwachsenen gefunden zu haben. Und dann noch Lehrer, Referendar. Plötzlich wird Schule wieder zum „Vielleicht“, einem Ort, wo Leben stattfindet. Johnny schreibt Wörter an die Wandtafel, lässt schreiben, jeden, ohne mit dem Resultat etwas beweisen zu müssen. Und irgendwann beginnen sie, sich die Texte vorzulesen, ihre Texte, Fünfminutentexte, Texte von innen.

Ratte, Paul und Alex sind alles. Zusammen betreten sie die Klasse, zusammen gehen sie in die Pause. Und manchmal sitzen die drei mit Alex’ Vater am Tisch und Alex’ Vater fragt: „Na ihr drei, wie war euer Tag?“
Aber mit Johnny beginnt das Gleichgewicht zu wackeln und unter dem Galgen in Auschwitz, einem Ort kollektiver Erinnerung, der alles andere ausblenden muss/will, zerbricht sie.
Paul, Alex und Ratte mögen Johnny, aber nicht alle gleich.

Lena Gorelik, Jahrgang 81, ist jung genug, um zu verstehen. Sie beschreibt mit ungebrochener Empathie, wie eine Freundschaft zerfällt, an der sich Paul, Alex und Ratte festhielten, die sie sicher und uneinnehmbar zu machen schien. Eine Art der Freundschaft, für die es in ihrer Nähe und Unmittelbarkeit in der Welt der Erwachsenen keinen Platz mehr hat, weil sich jene Welt zu sehr um Konvention und Anpassung bemüht. Und das endet ausgerechnet in Auschwitz, dem Ort, der kein Missverständnis duldet, gerät das, was zwischen Freundschaft und Liebe pendelt, ausser Kontrolle. So weit, dass sich selbst der Zentralrat der Juden einmischt, die Öffentlichkeit sowieso. Dabei hatte der Kuss nichts mit Auschwitz zu tun, nicht einmal mit Paul.

Was Lena Gorelik kann, ist erstaunlich. „Mehr Schwarz als Lila“ zeigt, wie sehr die Welt der Jugendlichen bebt, wie weit weg sie vom Verständnis Erwachsener sein kann. Lena Gorelik tut das mit so viel Sympathie und Wärme, dass ich nur staune. Lena Gorelik tut auf, was anderen nach der Jugend ein Leben lang verschlossen bleibt. Anlässlich einer Lesung in Stein am Rhein meinte Lena Gorelik, sie hätte schon immer einmal mit der Stimme eines Teenagers schreiben wollen, vielleicht auch, weil sie sich noch gar nicht so weit von dieser Zeit entfernt fühle. Lena Gorelik vermisst gute Bücher, die sich ernsthaft mit dieser Zeit auseinandersetzen, Bücher wie «Tschick» von Wolfgang Herrndorf. «Gratwanderungen, das Spiel mit Grenzen, das interessiert mich. Kunst soll Fragen stellen und im besten Fall bewegen.»

Lena Gorelik, in St. Petersburg geboren, kam elfjährig mit ihrer Familie nach Deutschland. Mit ihrem Debütroman „Meine weißen Nächte“ (2004) wurde sie als Entdeckung gefeiert, mit „Hochzeit in Jerusalem“ (2007) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr Roman „Die Listensammlerin“ (2013) wurde mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet. 2015 erschien „Null bis unendlich“, die „Welt am Sonntag“ schrieb: „Ein starkes, ein emotionales Buch, das durch seine reduzierte Sprache große Gefühle offenlegt.“

Webseite der Autorin

Titelbild: Sandra Kottonau

Juliana Kálnay «Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens», Wagenbach

Romane, in denen Häuser eine zentrale Rolle spielen, scheinen Konjunktur zu haben. Zwei Beispiele, die ich besprach waren «Herr Brechbühl sucht eine Katze» von Tim Krohn oder «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» von Max Küng. In Juliana Kálnays Erstling «Die kurze Chronik des allmählichen Verschwindens» aber ist das Haus mit der Nummer 29 selbst der wirkliche Protagonist.

Ein Haus wie ein Lebewesen, in dem die Menschen den Puls bestimmen, allen voran Rita, die fast so alt ist wie das Haus. Der Roman ist ein kleiner Kosmos an Geschichten, die sich alle um und im Haus abspielen. Schräg, geheimnisvoll, unerklärlich, dunkel, leidenschaftlich und spleenig. Wäre der Roman ein Film, würde er mich an Peter Greenaway erinnern. Bilder, die sich einprägen, Bilder, die sich wenig um Nähe zur Realität kümmern. Juliana Kálnay schrieb einen mutigen, ausgelassenen Roman. Eine Geschichte, die strotzt und funkelt.

In längeren und kürzeren Kapiteln begleiten wir Familien und Personen, die über kurz oder lang Gast im Haus Nummer 29 sind. Zum Beispiel im 3. Stock links Lina und ihr Mann, der sich immer mehr vom Mann zum Baum verwandelt. Irgendwann so gross wird, dass er in einem grossen Topf auf dem Balkon über der Strasse bleibt und zur Sehenswürdigkeit der ganzen Stadt wird. Manchmal schmiegt sich Lina an ihren Baum, ihren Mann und singt, streicht mit den Fingern über die Borke und seine Äste. Wie Lina an ihren Mann dachte, als der Baum noch ihr Mann war. Wie ihr Baum nach drei Jahren zum ersten Mal sein Laub verliert, viel Laub, dass sich in allen Ecken der Strasse verstreut sammelt, das Lina zusammennimmt, hinein in ihre Wohnung, um den Inhalt all ihrer Kissen mit dem Laub ihres ehemaligen Mannes zu füllen. Dafür schläft Lina unter und in ihren Kissen gut.

Oder im Erdgeschoss rechts die junge Maia, die sich immer mehr zurückzieht und im Garten Löcher gräbt, immer tiefere Löcher. Maia verändert sich, auch ihre Essgewohnheiten. Ihre vom vielen Graben gekrümmten Finger, die das Essbesteck kaum mehr halten können, nennen die Hausbewohner Maulwurfshände. Und eines Tages verschwindet Maia ganz. Ein ganzes Haus macht sich auf, die junge Frau zu suchen, bis der Friedhofsgärtner im nahen Friedhof, ganz am Rand des Friedhofs an der Mauer ein «wildes» Grab findet.

Lass dich betören von diesen Geschichten! Juliana Kálnay erzählt mit bunten Farben, frei von vielen Konventionen. Ein Fest reiner Fantasie!

Foto: Mathias Prinz

Juliana Kálnay, geboren 1988 in Hamburg, wuchs zunächst in Köln und dann in Málaga auf. Sie veröffentlichte in deutsch- und spanischsprachigen Anthologien und Zeitschriften und erhielt das Arbeitsstipendium Literatur der Kulturstiftung des Landes Schleswig-Holstein 2016. Sie lebt und schreibt in Kiel. »Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens« ist ihr erster Roman.

Titelbild: Sandra Kottonau

1. Randnotiz: Der Hund im Theater

Der Hund im Theater

Ich sass in der hintersten Reihe. Der dämmrige Saal füllte sich. Und dieses Auffüllen entpuppte sich als ganz besonderes Schauspiel. Vorne auf der Bühne würde in wenigen Minuten die Première eines Schülermusicals stattfinden. Mehr als 250 Kinder vom Kindergarten bis in die 6. Klasse! Folglich war der Saal voll mit Eltern, Grosseltern, Tanten und Göttis, mit Geschwistern in Windeln und der Behördenvertretung ganz vorne in der ersten Reihe. So gar nicht das übliche Theater- oder Musicalpublikum, das Unterhaltung oder Erbauung sucht, so gar nicht. Seitlich in meinem Rücken stand ein älterer Herr ganz in Schwarz, einer der Lehrer von Kindern, die bald als Giraffen, Zebras oder Erdmännchen ihr Bestes gaben. Neben ihm stand ein ebenfalls älterer Herr mit Lederweste, tätowierten Unterarmen und Charles-Bronson-Schnurrbart. Er fragte den Lehrer, ob es okay wäre, wenn er seinen Hund mit in den Zuschauerraum nehmen wird. Nicht wirklich eine Frage. Während der Angesprochene ganz offensichtlich um Fassung rang, konnte ich mit ein stilles Grinsen nicht verkneifen. Ob er seinen Hund auch ins Kino oder in der Kirche mitnehmen musste? Genügte es nicht, wenn sich in den Reihen vor mir Windelpakete tummelten, das Geschnatter fast ohrenbetäubend war und es in Kürze nicht einmal während der Vorstellung Ruhe oder ein Abklingen von permantem Raus und Rein geben würde? Ein Hund im Theater. Ich schüttelte im Halbdunkeln den Kopf und schmunzelte. Aber nur bis sich der Bronson-Verschnitt mit seinem Schosshündchen direkt neben mich setzte: «Er bleibt schon ruhig. Ist noch viel zu jung, um alleine zuhause zu bleiben.» Er lächelte, ich quälte mich damit. Ich mag keine Hunde. Vielleicht ein Überbleibsel einer kindlichen Angst. So ergab ich mich tapfer meinem Martyrium zwischen röchelndem Schosshündchen mit eingedrückter Schnauze, Zwischenrufen quengelnder Kleinkinder und dem verzückten Winken militanter Mütter.

Gallus Frei-Tomic

Marie-Jeanne Urech «Schnitz», Bilger

Kunst ist frei. Und weil sie frei ist, darf sich Literatur alles erlauben. «Schnitz» Marie-Jeanne Urechs dritter auf Deutsch erschienener Roman ist frei, voller Poesie und starker Bilder. Die gelernte Filmemacherin beweist ein besonderes Gespür für Inszenierung, hinterlässt einen bleibenden Eindruck!

Ist Kunst frei? Zumindest dort, wo man nicht dafür verfolgt oder eingesperrt wird. Die Welt abzubilden, wie sie ist, ist Aufgabe des Journalismus, der Reportage. Kein Mensch ermahnt einen Maler, sich an Fakten zu halten. Aber weil man dem geschriebenen Wort mehr als allem anderen zu glauben scheint, weil es Authentizität ausstrahlt, wenn man mit seinem Namen besiegeln kann, brechen selbst jene Grenzen, die bisher logisch waren. So macht sich gesteuertes Kalkül in Fake-News breit und zugleich werden Stimmen laut, die Literatur möge endlich Stellung beziehen, sich an aktuellen Fragen in Politik und Gesellschaft beteiligen. Aber Literatur soll Kunst sein, muss Kunst sein, muss frei sein. Wenn sie zu einem blossen Instrument wird, selbst dann, wenn nur noch Provokation in den Zeilen schreit, macht sich Geschriebenes, das sich als Literatur preist stutzig. «Schmitz» macht mich glücklich!

Marie-Jeanne Urech schafft Literatur, Literatur in der Totalen, Literatur im Kleinen. Die Autorin nimmt Realität und macht sie zur Kulisse. Ihr Personal sind Archetypen, holzschnittartig gezeichnet. Die Geschichte der Familie Kummer eine wilde Fahrt in eine abgrundtiefe Welt poetischer, in dunklen Farben gemalter Bilder, auch wenn die ganze Szenerie im Grellen Weiss eines ewigen Winters spielt.

Nathanel Kummer versucht mit aller Kraft, die Familie zusammenzuhalten, obwohl ihn Rückstände und Zahlungsaufforderungen von einer Katastrophe in die nächste treiben. Nathanel arbeitet täglich 21 Stunden, an drei verschiedenen Arbeitsstellen. Seine Frau Rose verkauft Pillen gegen die Traurigkeit, Vitaminkuren, die sich niemand in der heruntergewirtschafteten Stahlstadt mehr leisten kann. Serafin, der Grossvater, ein verwirrter Kriegsveteran, wacht entweder am Lichtschalter im Wohnzimmer oder macht sich auf auf die Suche nach dem «Schwarzen Mann», den er zu kennen glaubt, von früher, damals, der ihm und seiner Familie aus der Not helfen soll. Die beiden Kinder Yapakleu und Zobeline, die längst nicht mehr zur Schule gehen, streifen auf der Suche nach Brauchbarem durch die zerfallende Stadt, bis sie einen Pommes-Automaten entdecken, aus dem ein Riese steigt, zu ihrem Freund wird und ihre Spielsachen verstecken hilft. Die letzte unter dem Dach der Familie ist Philantropie, die in ihrer unsäglichen Leibesfülle aus purer Menschenliebe besteht und wenn sie singt, Haus und Garten mit andächtig Lauschenden füllt, die für die Dauer des Gesangs all das Elend in der kaputten Stadt vergessen. Philanthropie ist so ausladend dick, dass sie sich nicht mehr vom Sofa stemmen kann. Einziges Nahrungsmittel, das sie noch verträgt, ist ein Blätterteiggebäck mit viel Puderzucker; Schnitz. Nathanel Kummer und seine Familie sind eine der letzten, die in der zweigeteilten Stadt noch nicht endgültig aus ihrem Haus vertrieben sind, auch wenn der Kommissar und Gerichtsvollzieher alles daran setzt, die Familie auf die kalte Strasse zu setzen. Der Kampf zwischen den Menschen in den eingeschlossenen Villen, den Glastürmen mitten in der Stadt und der darbenden Bevölkerung ist längst entschieden. So gesehen hat der dunkel-bunte Roman von Marie-Jeanne Urech durchaus eine real-politische Parallele. Aber ich glaube nicht, dass dahinter eine aufklärerische Absicht steckt. «Schnitz», Marie-Jeanne Urechs dritter Roman überzeichnet Realität wie die zwei vorangegangenen Romane. Die Autorin will nicht aufklären, nicht warnen, obwohl es indirekt dann doch geschieht, wenn über ihren Roman, über ihre Kulisse diskutiert wird. Sie erzählt von einer Klassengesellschaft , von den Superreichen in ihren Glaspalästen und den von Bilanzen Gestraften, von Schulden Erdrückten, von Armut Gepeinigten.

Marie-Jeanne Urechs Roman lebt von den Gestalten und Bildern, die zwischen Alp und Traum pendeln, von Namen, zwischen bedeutungsvoll und verspielt, von den kleinen Geschichten im Roman. Von Nathanel Kummer, der seinen streusalzbeladenen Laster durch die ewig wintrige Stadt pflügt und nichts unversucht lässt, um seine Familie zu retten. Von der dicken Philanthropie, die auf dem Sofa im Wohnzimmer thront, ihren betörenden Gesang mit ausgebreiteten Armen in den Äther schmettert, sekundiert von zwei kleinen Engeln, Daphne und Tournov, die Philanthropie immer dann bewachen, wenn sie nicht singt. Von den beiden Kindern Yapakleu und Zobeline, die auf ihren Erkundungen durch die Stadt einen Pommes-Automaten entdecken, aus dem im Dunkeln, kurz vor acht, ein Riese aus einer kleinen Seitentür des Automaten entsteigt, sich entfaltet und im Dunst von Bratöl auf die andere Strassenseite geht. Der Riese wird zum Freund der Kinder, zum Hort und Hüter ihrer Geheimnisse. Es ist das Personal, das ich zu lieben beginne, selbst den Kommissar in seiner Verzeiflung, den der Winterwind in immer neuer Mission auf die Vortreppe des Hauses weht, um mit neuen Papieren das Ende des Hausfriedens anzukündigen.

Und es ist die Poesie, die Sprache, das unerschrockene Erzählen der Autorin, diese starke Stimme, die es schafft, ihr Erzählen immer wieder mit markigen Sätzen zu durchsetzen. Sätzen, die das Zeug zu Zitaten haben. «Schnitz» ist ein Buch, dass ich mit einem Stift hinter den Ohren lesen musste, um nichts zu versäumen. Eine erfrischende Stimme aus der Westschweiz, die unzimperlich erzählt und es verdient, in der deutschsprachigen Lesewelt entdeckt zu werden. Marie-Jeanne Urech zaubert, auch wenn die Bilder in düsteres Licht getaucht sind.

Marie-Jeanne Urech liest am Literaturfestival Leukerbad aus ihrem neuen Roman. Ebenfalls zu Gast am internationalen Literaturfestival im Wallis ist der zweite Literaturstern aus der Westschweiz, dessen neustes Buch im bigerverlag erschien: Quentin Mouron mit «Notre-Dame-de-la-Merci» (ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen!).

Marie-Jeanne Urech wurde 1976 in Lausanne geboren. Nach einem Studium der Soziologie und Anthropologie in Lausanne machte sie 2001 ihren Abschluss an der London Film School und lebt heute als Regisseurin und Schriftstellerin in Lausanne. Im bilgerverlag erschienen 2006 «Mein sehr lieber Herr Schönengel» und 2013 «Requisiten für das Paradies». Alle Roman wurden aus dem Französischen übersetzt von Lis Künzli.

Titelbild: Sandra Kottonau

literaturblatt.ch fragt, Teil 9, Reinhard Kaiser-Mühlecker antwortet

Ihr neuster Roman „Fremde Seele, dunkler Wald“ erzählt die Geschichte zweier Brüder, deren Biographie sich immer weiter voneinander trennt. Gleichzeitig ist es die Geschichte über den Schmerz des Verlustes; das Zerbrechen der Familie, das Verschwinden eines Ortes, an den man heimkehren kann. Leiden Sie mit, wenn Sie schreiben?
Leiden würde ich nicht sagen, aber so nah an den Dingen, wie man es beim Schreiben ist, ist man sonst kaum je einmal; und zugleich, seltsam, so fern auch den Worten.
     Da ist ein Hof, auf dem drei Generationen leben und leiden. Allen drei Generationen ist es nicht möglich, sich selbst zu retten; nicht dem Jüngsten Jakob, der den Hof sterben sieht, nicht dem Vater, der mit allen unmöglichsten Geschäftsideen Geld machen will und nicht der Grossvater, der wohl  einiges aus seiner Zeit vor Ende des Weltkrieges hinüberretten konnte. Die Familie als Urbühne aller Konflikte?
Als eine zentrale Bühne, ja; aber meine wichtigste bleibt doch der Einzelne («the human heart in conflict with itself», nannte W. Faulkner es) – ob es für das, was ich zeigen will, dann einen Familienzusammenhang braucht oder nicht, entscheidet das Schreiben. 
     Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Etwas beschreiben, was außer mir keiner beschreiben kann; eine Wahrheit sagen, die außer mir keiner kennt. Aber ich will doch auch spannende Geschichten erzählen, und wenn mir einer sagt, was oft geschieht, er oder sie habe mein Buch wie einen Krimi verschlungen, ist mir das schon ein Lob. 
     Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Das Schreiben selbst ist das Schönste. Quälendes, das einen Stunden oder Tage oder Wochen beschäftigen kann, gibt es zuhauf, aber Furcht kenne ich keine, höchstens die, keine oder zuwenig Zeit zu haben. 
     Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Im Grunde lese ich eher vorsichtig, wenn ich schreibe; aber ich lese immer. In  Zeiten der Schwermut oder der Ausweglosigkeit gehe ich dann zu gewissen Autoren, nicht immer zu den gleichen, wie eine kranke Kuh auf der Suche nach dem heilenden Kraut. 
     Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Das Schreiben ist mir gemäß. Auch das Briefschreiben übrigens, das ich vernachlässige. Ich habe schon sehr schöne Briefe geschrieben in meinem Leben, bin oft Tage an einem Brief (= fast immer Mail) gesessen. Im Gespräch ist mit mir nicht viel anzufangen, immer weniger eigentlich, oder immer mehr fällt es mir auf; sehr oft will ich gar nicht sprechen. 
     Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende(r) mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Ohne Möglichkeit zum Rückzug kann ich nicht schreiben. Ich suche ihn, den Rückzug, und wenn ich ihn nicht finde, schreibe ich immer bloß Wetternotizen. – Ich gehöre aber nicht zu denen, die gerade sehr viel dagegen haben, Zeit alleine zu verbringen. 

  Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?

Im Augenblick lese ich Franz Tumler, den ich hoch schätze und der wegen seiner NS-Sympathisiererei – und wohl noch mehr, weil er sich hinterher nie so recht distanzieren oder rausreden wollte – ziemlich in der Versenkung verschwunden ist. Zum Glück macht der Innsbrucker Haymon Verlag seit einigen Jahren seine wichtigsten Bücher wieder zugänglich.  
     Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich hätte mir irgendetwas gesucht, wo man keinen Vorgesetzten hat. 
     Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Manchmal lasse ich eines auf einer Parkbank liegen.

 

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien.
Sein Debütroman ›Der lange Gang über die Stationen‹ erschien 2008, es folgten die Romane ›Magdalenaberg‹ (2009), ›Wiedersehen in Fiumicino‹ (2011), ›Roter Flieder‹ (2012) und ›Schwarzer Flieder‹ (2014) sowie ›Zeichnungen. Drei Erzählungen‹ (2015). Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Kunstpreis Berlin, dem Österreichischen Staatspreis und dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Zuletzt erschien der Roman ›Fremde Seele, dunkler Wald‹ (2016), der für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde.

John von Düffel «Klassenbuch», Dumont

John von Düffel verwebt in seinem Roman „Klassenbuch“ die neun Leben neun Jugendlicher einer Klasse, nicht aber aus derselben Welt. Obwohl für viele Stunden im gleichen Raum verbindet sie wenig bis nichts. Jede und jeder lebt in seiner mehr oder weniger digitalen Welt. Neun Jugendliche an der Grenze zum Erwachsensein, trotz allem aber weit davon entfernt, weil die Welt der Erwachsenen aus Sicht der Jugendlichen kaum etwas mit der ihren zu tun haben kann.

Selbst im gemeinsamen Klassenzimmer leben und agieren die Jugendlichen nicht mehr im gleichen Raum. Sie sind irgendwo, in allen möglichen oder unmöglichen Räumen, selbst erfundenen Welten, in denen man sich mit selbst kreierten Identitäten bewegen kann. Kann das jemand schreiben, der über 50 ist? Ja, John von Düffel gelingt dies, weil er sich in Innenwelten begibt, weil er als Theaterautor sehr wohl in Rollen schlüpfen kann.

Da ist Henk, der ausbricht aus Mutters Weichspülwolken, nicht nur mit Vorliebe Frauenfussgeruch schnüffelt, sondern auch alles andere, das ihn betäubt. Dessen In-Ear (Kopfhörer) den permanenten Soundtrack zu seinem Leben liefern, ihn wegtragen in eine Welt, in der man mit der Virtualität fremd geht. Henk ist sicher, ein Elf zu sein und irgendwann dann doch noch den männlichen Gang lernen zu können.
Stanko, der überzeugt ist, die Vergangenheit seiner Eltern und seiner Schwester getötet zu haben. Stankos Eltern flohen aus dem Krieg in Bosnien, liessen die Vergangenheit zurück, halsten damit Stanko aber umso mehr auf. „Ich bin nicht geflohen. Aber die Flucht ist in mir.“
Oder Nina, die eigentlich Vanessa heisst, aber Nina sein will, wenigstens im Netz, als Figur in ihrem Blog, als Traumfigur; souverän, frech, sportlich, schön und umschwärmt. Offline wird Vanessa kaum wahrgenommen. Dafür fliegt eine Drohne mit Perma-Photoshop mit ihr, die ihre Speckrollen zu Muskeln formt, Vanessa zu Nina macht.
Oder Annika, die mit ihrem kleinen Bruder Malte all jenen Tieren ein Grab gibt, die an den Rändern der Strasse liegen bleiben. Selbst dann, wenn nicht mehr sicher zu erkennen ist, was es einmal war. Annika gibt den toten Tieren Namen, weil „jedes Tier vollkommen ist, nur der Mensch nicht“.

Es sind neun junge Leben, die wie in einem Episodenfilm an ihren Rändern miteinander verwoben sind. Neun Leben, die in krassem Gegensatz stehen zum Publikum, das anlässlich einer Lesung im schaffhausischen Osterfingen (erzählzeit.com) dem Autor aus Berlin lauschten. Ich sah den Schrecken, das Entsetzen in den Gesichtern des Publikums (50+), weil da eine Welt „zur Sprache kommt“, die mehr als leise Zweifel entstehen lässt. Eine Gegenwart, die verunsichert. Der Vorteil des älteren Publikums ist, dass sie schon etwas waren, bevor es die sozialen Netzwerke gab. Jugendliche fühlen sich genötigt, dauernd dabei, immer online zu sein. Sie stehen unter Dauerstress. 90 % der Jugendlichen Deutschlands behaupten, Zeit wäre ihnen wichtiger als Geld. Die Generation, die John von Düffel im pittoresken Osterfingen zuhörte, hatte in ihrer Jugend unendlich viel Zeit, Langeweile inklusive. Jugendliche heute sind schon mit 16 erschöpft, Burnout gefährdet. In einer Welt der Kommunikation ist die Isolation nicht kleiner geworden, im Gegenteil. Aber wo beginnt die Dämonisierung all dessen, was die Moderne unumgänglich zu machen scheint? Wie weit geht man mit? Wo zieht man seine Grenzen? Wo ist der Rest, der mich mit der Welt der Jugendlichen verbindet? Nur die persönliche Begegnung vermeide Kulturpessimismus, meint John von Düffel.

Der Autor inszeniert neun Welten, keinen repräsentativen Querschnitt durch alle Möglichkeiten. Aber neun Leben, die geprägt sind von Angst, Einsamkeit, Isolation, dem Gefühl unverstanden zu sein bis hin zu maximaler Entfernung von der Wirklichkeit. Neun Leben, kein Laufsteg der Nettigkeiten. Es tut weh, wenn ich lese, wie sehr sich da Menschen verlieren. Mir wird bewusst, wie weit zurück in der Vergangenheit meine Jugend liegt. In meiner Jugend war es bei den Erwachsenen der Kampf gegen die Glotze, obwohl sie jeden Abend davor verbrachten. Bei meinen Kindern war es der Computer, ohne den man sich die Arbeitswelt schon vor 30 Jahren nicht mehr vorstellen konnte. Und heute sind es die Smartphones, die auch von den Erwachsenen wie Gebetsmühlen mitgetragen, zu eigentlichen Lebenshilfen werden.

„Klassenbuch“ liest sich nur schwer als blosse Unterhaltung. Erstaunlich aber ist, dass es John von Düffel schafft, den neun Leben neun verschiedene Stimmlagen zu geben. Der Autor dramatisiert auf neun verschiedenen Tonarten, schmeichelt aber weder mit Inhalt noch mit Sprache, lässt mich mit meiner Sehnsucht nach Harmonie auflaufen.

John von Düffel

John von Düffel, geboren 1966 in Göttingen, Autor und Übersetzer, arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Er ist passionierter Schwimmer und hat dem fliessenden Element mit mehreren Büchern, u. a. mit seinem preisgekrönten Roman „Vom Wasser“ (Mara Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg; Aspekte-Literaturpreis des ZDF etc.), ein literarisches Denkmal gesetzt – zuletzt in dem Band „Wassererzählungen“. John von Düffel ist Koautor des bei Piper erschienenen Buchs von Petra Anwar „Was am Ende wichtig ist“ (als TB unter dem Titel »Geschichten vom Sterben«.).

Titelbild: Sandra Kottonau

Graham Swift «Ein Festtag», dtv

Wo sind die Momente im Leben, die alles ausmachen, alles entscheiden? Welches sind die wirklich wichtigen Geschichten, die man alt und greise vor seinem Tod erzählt oder mit sich ins Sterben nimmt? Jane Fairchild ist über 90, müde vom Rummel und unzähligen Interviews, fast sicher, dass sie als Frau des 19. Jahrhunderts im nahenden Jahrtausend nicht mehr Gast sein wird.

Dreimal geboren. Das erste Mal 1901 als Findelkind vor die Türe eines Waisenhauses gelegt. Zum zweiten Mal am Muttertag, dem 30. März 1924, zwischen zwei Weltkriegen. Und zum dritten Mal, als man ihr eine alte, ausgediente Schreibmaschine schenkt und sie zur Schriftstellerin wird.

Jane erzählt von diesem einen, schicksalshaften Tag, einem Märzsonntag 1924. Damals war sie Dienstmädchen bei den Beechwoods und verliebt in den nach dem 1. Weltkrieg einzig «übriggebliebenen» Spross Paul. Jane erzählt eine Geschichte, die man nicht so einfach und schon gar nicht jedem erzählt. Nicht einmal dem Mann, mit dem sie Jahre später lange verheiratet war, schon gar nicht einem den von ihr geschriebenen Romane und damit all den Leserinnen und Lesern, die sie, wenn auch nicht nacherzählt, an ihrem Leben teilhaben lässt. Damals an jenem 30. März, zwei Wochen bevor ihr Geliebter Paul seine Verlobte Emma standesgemäss heiraten sollte, liegen Jane und Paul dieses eine Mal nackt in Pauls Zimmer, allein in einem grossen Haus, weil sämtliches Personal an diesem Muttertag frei bekommen hatte. Was nach Zufälligkeit aussieht, ist der Moment der zweiten Geburt. Damals, Paul war schon weggefahren, schwebt Jane immer noch nackt durch das grosse Haus ihres Geliebten. Während Paul bei einem Selbstunfall in seinem Auto verbrennt, wandelt sie wie Gott sie erschuf durch die Zimmer des riesigen Hauses, in die Bibliothek, über Treppen, in die Küche. Als würde sie eine noch fremde Welt in Besitz nehmen, flügge werden, ein Leben als Waise und Dienstbotin abstossen. Aber dieser eine Tag brennt sich ein, in alles, was an den folgenden Tagen im Leben Janes und im Leben der Schriftstellerin entscheidend sein wird. Dieser eine Tag wird alles Tun und Schreiben durchtränken, unauslöschlich. Nicht bloss diese wenigen unvergesslichen intimen Stunden im lichtdurchfluteten Zimmer ihres Geliebten, sondern ein ganzes Leben, hinauskatapultiert in die Tragödie, nackt, während die Uhren auch nach der Katastrophe weitertickten.

Der schmale Roman des Engländers Graham Swift leuchtet in das Geheimnis einer alten Frau, einer Schriftstellerin, die genau weiss, dass es Brüche sind, die einen aufbrechen lassen. Graham Swift schildert aber nicht nur die leidenschaftliche Liebesgeschichte einer 23jährigen Dienstmagd. Graham Swift erzählt von den Initialzündungen des Schreibens, dem Finden einer eigenen Sprache, der Entdeckung der eigenen Kreativität. Ein Abenteuer, das 1924 nicht der Normalfall einer Frau in Europa war. «Ein Festtag» ist ein Roman über das Schreiben, das Erzählen. Ganz am Schluss seines Romans schreibt Graham Swift: «Es ging darum, dem, was das Leben ausmachte, treu zu sein, zu versuchen, genau das einzufangen, was Lebendigsein bedeutet, obwohl das nie gelang. Es ging darum, eine Sprache zu finden. Und es ging darum … der Tatsache treu zu sein, dass viele Dinge im Leben, oh, so viele mehr als wir uns vorstellen, nie erklärt werden können.»

«Ein Festtag» von Graham Swift ist eine Perle.

Graham Swift, geboren am 4. Mai 1949 in London, arbeitete nach dem Studium in Cambridge und York zunächst als Lehrer. Seit seinem Roman «Waterland», der mit Jeremy Irons verfilmt wurde, zählt er zu den Stars der britischen Gegenwartsliteratur. «Letzte Runde» wurde 1996 mit dem Man Booker-Prize ausgezeichnet und, hochkarätig besetzt, von Fred Schepisi verfilmt. Swift favorisiert unzuverlässige Erzähler, die den Funktionen der Erinnerung und der Verknüpfung persönlicher Erinnerung mit zeit- und weltgeschichtlichen Ereignissen auf den Grund gehen – das Ergebnis sind psychologisch Glanzstücke von äußerster Raffinesse.

Bild: Sandra Kottonau