Margriet de Moor «Schlaflose Nacht», Hanser

Lucia, ihre Freundin, beschwört sie, lange nach dem Tod ihres Mannes endlich aus der Höhle zu kriechen. Es wäre eine Beleidigung für ihre Sinnlichkeit, für ihre elementaren Bedürfnisse. Aber die Freundin will nicht. Sie bleibt im Haus, dass sie nicht einmal zwei Jahre mit ihrem Mann teilte.

Der Mann ist tot, erschoss sich hinter dem Haus im Chicoréetreibhaus, wo die bleichen Pflanzen mit vorgegaukelten Jahreszeiten aus dem Boden gezwungen werden. Obwohl ihr alle raten, einen Strich zu ziehen, neu zu beginnen, bleibt die vom Mann im Haus Zurückgelassene. Der Schuss, mit dem ihr Mann seinem Leben ein Ende setzte, verwandelte scheinbares Glück mit einem Knall zu einem Alptraum. Irgendwann entschliesst sie sich, wider aller Vernunft, ein Inserat aufzugeben, eine Annonce, die Männer nach einem immer gleichen Ritual für ein paar Stunden, eine Nacht an ihre Seite lassen. Vielleicht auch bloss, um sich selbst zu beweisen, dass sie noch am Leben teilnimmt, auch wenn ihr toter Mann mit diesem einen Schuss ihr Leben beinahe mitriss.

Die Novelle, die 1994 zum ersten Mal auf deutsch erschien und die grosse De Moor Schlaflose Nacht Final_MR.inddholländische Autorin mit Recht prominent an der Frankfurter Buchmesse platzieren sollte, beschreibt eine einzige Nacht. Eine Nacht, die die Protagonistin nicht schlafen lässt. Eine Nacht, in der sie genau spürt, dass eine Zutat in ihrem Leben fehlt. Eine Nacht, in der sie in die Küche geht und einen Teig anrührt, den Beginn von etwas Neuem. Mehl, Salz, Zucker, Hefe und Eier. Ein Teig, der aufgehen und etwas freisetzen soll, was in den bloss vermengten Zutaten erst schlummert – Russischen Napfkuchen. Den Mut, den es brauch, um aufzubrechen.

Margriet de Moors 127 Seiten starke Novelle ist wie ein Film mit langen, stummen Einstellungen. Eine Geschichte, die mit ihren Figuren erzählt, viel offenlässt, in keiner Zeile ein Wort zu viel verliert. Eine Geschichte, die nichts erklärt und mit kleinstmöglicher Bewegung grösstmögliche Wirkung erziehlt. Sprachliche und inhaltliche Verdichtung, Bilder wie Gemälde von Edward Hopper.

margriet_de_moor_neefjesMargriet de Moor, eine der bedeutendsten niederländischen Autorinnen der Gegenwart, studierte Klavier und Gesang, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Bereits ihr erster Roman  «Erst grau dann weiss dann blau» (Hanser, 1993) wurde ein sensationeller Erfolg. Heute sind ihre Romane und Erzählungen in alle Weltsprachen übersetzt. Ihr Werk erscheint im Hanser Verlag, zuletzt «Die Verabredung» (Roman, 2000),  «Der Jongleur» (Ein Divertimento, 2008),  «Der Maler und das Mädchen» (Roman, 2011),  und «Mélodie d’amour» (Roman, 2014). Margriet de Moor lebt in Amsterdam.

 

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Petra Ahne & Judith Schalansky «Wölfe», Matthes & Seitz

Wieder hat sich der Wolf in meine Bibliothek geschlichen. Vor ein paar Monaten war es der Wolf von Roland Schimmelpfennig in seinem Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts». Nun «Wölfe», ein spannendes Porträt einer falsch verstandenenen Kreatur.

So wie einst der Wolf vom Menschen als Feind, Bösewicht und Untier, als Verbündeter des Teufels und Nachtgestalt des Hexers vertrieben, getötet und ausgerottet wurde, findet er zurück in die Nachbarschaft des Menschen. Gab es schon um 1500 auf den Britischen Inseln keinen einzigen Wolf mehr und im restlichen Europa im Lauf des 19. Jahrhunderts fast keine mehr, traut sich das scheue Tier zurück, nach Deutschland, Österreich, bis in die dicht besiedelte Schweiz. Ein Tier, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts systematisch selbst von der Wissenschaft «verraten» wurde. 1875 schrieb der Naturforscher Friedrich von Tschudi: «Selbst unter den Raubthieren ist er eins der widerwärtigsten. Mit dem reissendsten img_0098wetteifert er an Heisshunger, der selbst dem schlechtesten Hasen gierig nachstellt, an Tücke, Perfidie, während er dabei keine Spur vom Edelmuth des Löwen, von der frischen Tapferkeit des Eisbärs, vom Humor des Landbärs, von der Anhänglichkeit des Hundes hat.» Aber so sehr man den Wolf damals mit den Charakterzügen des Menschen beschreibt, so sehr ist der Wolf auch heute Sinnbild einer menschlichen Sehnsucht. Einst die Angst verkörpernd, die Angst vor der Unberechenbarkeit der Natur, ist der Wolf heute «personifizierte» Sehnsucht nach unmittelbarer Nähe zur Natur. Der Wolf als Medium.

Petra Ahne zeichnet ein feines Portrait eines Tieres, das in vielem dem Menschen näher scheint als die Primaten. Umfangreich bebildert und im letzten Teil des Buches mit Portraits aller Wolfarten ergänzt, ist dieses Büchlein vieles, Reportage und Mahnmal zugleich.

Petra Ahne, geboren 1971 in München, studierte Komparatistik, Kunstgeschichte und Publizistik in Berlin und London. Sie ist Redakteurin der Seite 3 bei der Berliner Zeitung.

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Unbedingt lesen: «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts» von Roland Schimmelpfennig, S. Fischer!

Mein Geschenk an mich

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…ein Buch aus der Katzengraben-Presse, einem Kleinstverlag in Berlin Köpenick, einem Ein-Mann-Betrieb, der das Handwerk des «Büchermachens» kultiviert und am Leben lässt. Christian Ewald, der Katzengraben-Mann, druckt jährlich zwei Bücher nach Gutenberg-Manier, jeweils in einer Auflage von magischen 999 Exemplaren, jedes ein Unikat durch Christian Ewalds spezielles Markenzeichen: den mit einer alten Singermaschine eingenähten Faden. Was Christian Ewald seit 1990 schafft, ist eine Bibliothek der literarischen und gestalterischen Kunstwerke.

Zum Buch von Peter Härtling » Das verlorene Grab», das 2003 bei der Katzengraben Presse erschien: Peter Härtling schreibt von der Suche nach dem Grab seines Vaters, der nach dem Krieg in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager in Österreich ums Leben kam. Nicht genug des Unglücks für den 12jährigen Jungen: Aus lauter Verzweiflung begeht die Mutter Suizid und lässt den jungen Peter allein. Peter Härtling auf der Such nach einem verlorenen Vater: «Ich bin neunundsechzig. Er war neununddreissig, als er starb. Als alter Mann beuge ich mich über einen jungen und entdecke den unauflösbaren Grund der Trauer: Es ist der einer Liebe, die ohne Antwort auskommen muss.

Besuchen Sie die Webseite der Katzengraben Presse. Lassen Sie sich betören!

«Die Kiefern Aleppos» Raoul Schrott, Edition Thurnhof

Nachdem Bomben Aleppo in Schutt und Asche legten, lese ich mit feierlichem Ergriffenheit «Das Alphabet der Bäume», einen ganz besonderen Gedichtband von Raoul Schrott, illustriert vom Wiener Künstler Wolfang Buchta. Ein Schmuckstück, das wohl schon vor bald 20 Jahren erschien, aber nichts von seiner Tiefe, seiner Schönheit und seiner ganz besonderen Ästhetik verloren hat. 

illustriert mit Offsetfarblithographien von Wolfgang Buchta
illustriert mit Offsetfarblithographien von Wolfgang Buchta

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Toni Kurz ist Verleger mit Leib und Seele, mit Leidenschaft und Esprit! Seit vielen Jahren verlegt er zusammen mit einem kleinen Team, allen voran seiner Frau, Perlen der Literatur; die grosse Frederike Mayröcker, die eben den ersten Österreichischen Buchpreis erhielt, Bodo Hell, Karl-Markus Gauss, Sabine Gruber und viele andere, stets illustriert von Könnern ihres Fachs. So entstehen Mehrfach-Kunstwerke, Bücher, die mich schon entzücken, wenn ich sie in die Hand nehme, aufschlage, für kurz die Nase hineinstecke und geniesse. Bücher, die man lange aufgeschlagen liegen lassen kann und muss, wie einen guten Rotwein, der den Raum erst füllt, wenn er aus seiner Flasche befreit wird.

Wenn sie sich nach der Weihnachtszeit verwundert fragen, warum man ihnen wieder kein Buch geschenkt hat, dann beschenken sie sich selbst mit einem Buch aus der Edition Thurnhof!

Toni Klein war mit seier Edition Thrunhof Gast an der diesjährigen Buch- und Druckkunstmesse in Frauenfeld, einem Eldorado für Buch- und Papierliebhaber!

Webseite des Kleinverlags

Reif Larsen «Die Rettung des Horizonts», S. Fischer

2009 erschien Reif Larsons erster Roman «Die Karte meiner Träume», ein Buch, das mich berührte und das ich bei einer Bücherpräsentation einmal als eines der 10 schönsten Bücher auf eine Liste setzte. Auch wegen der Geschichte, die aus der Sicht eines 12jährigen seine heimliche Reise durch die Staaten erzählt. Aber mit Sicherheit wegen seiner Form; ein übergrosses Buch, voll mit Randnotizen, Skizzen, Plänen und Zeichnungen, die meisten vom Autor selbst gestaltet, ein Buch voller Originalität, formal und inhaltlich.

«Shiranu ga hotoke.»

Nun erschien wieder bei S. Fischer der neue Roman «Die Entdeckung des Horizonts» («I am Radar»): Im Frühling 1975 erblickt Radar Radmanovic in New Jersey das Licht der Welt, auch wenn im Moment seiner Geburt im Spital der Strom ausfällt und alles im Dunkeln vonstatten geht. Es ist stockfinster im Gebärsaal des Spitals. Und als das Licht wieder angeht, liegt da ein Junge mit aubergine-brauner Haut, obwohl seine Eltern weiss sind. Trotz einer naheliegenden Erklärung, ist Radars Mutter überzeugt, ihr Sohn sei das Resultat eines biologischen Irrtums. Sie setzt alles daran, Licht über die dunkle Haut ihres Sohnes zu bringen, allem Widerstand ihres Mannes entgegen. Sie pilgert von u1_978-3-10-002216-5Arzt zu Arzt, eines Tages bis in die norwegische Arktis zu einer illustren Gruppe mysteriöser «wissenschaftlicher» Puppenspieler, die den Eltern Heilung durch ein ganz besonderes Experiment versprechen. Noch mehr verunsichert, aber gleichermassen fasziniert reist die Familie zurück und tatsächlich verändert sich die Hautfarbe des Jungen Radar, wenn auch zu einem hohen Preis. Der sonst schon sonderbare Junge leidet fortan unter epileptischen Anfällen und bleibt künftig mehr als nur empfänglich für alle Arten von elektrischen Schwingungen. Radar wird zu einem Medium, Teil einer ganz speziellen Gruppe von Menschen, die im Laufe von 50 Jahren mehrere grosse Kunstperformances durchführen, in den Ruinen der vom Bosnienkrieg zerschossenen Nationalbibliothek von Sarajevo, im diktaturverseuchten Kambotscha oder im in Anarchie versinkenden Kongo.

«Meine Mutter meint, ich bin ein gutes Buch mit einem schlechten Cover.»

Reif Larsen erzählt die Geschichte von Menschen, die im Laufe ihres Lebens einmal aus den Schienen ihres Lebens herauskatapultiert wurden und nicht mehr in ihr altes Dasein so einfach zurückkehren können. Von Menschen, die durch Geschichte, Schicksal oder Zufall aus aller Sicherheit gerissen werden, ihr Leben, die Umgebung und zu Wahrheiten gewordene Zusammenhänge mit einem Mal auf ganz andere Weise und in ganz anderer Intensität wahrnehmen. «Die Entdeckung des Horizonts» ist eine phantasievolle Reise an die Ränder der Realität. Vielleicht ein Buch, dass so nur von US-Amerikanern geschrieben werden kann, die sich auch sonst in ihrem Selbstbewusstsein weniger um Grenzen kümmern. Ein Buch, das Kategorien sprengt und sich nur schwer einordnen lässt. Wieder ein Buch, das fasziniert, mich in verschiedenste Leben eintauchen lässt, das gerne so tut, als sei der Sonderfall die Normalität. Ein Buch, das einem während des Lesens fast kindlich begeistern lässt, mich mitzieht und teilhaben lässt an der «Entdeckung des Horizonts».

af_larsen_reif__001_web-jpg-55406257Reif Larsen, geboren 1980, lebt im Hudson Valley und in Schottland. Er schreibt, unterrichtet Literatur, dreht Dokumentarfilme in den USA, Großbritannien und in Afrika. Seine Erzählungen und Essays erscheinen u.a. in «The New York Times» und in «The Guardian». Sein erster Roman «Die Karte meiner Träume» (S. Fischer Verlag 2009) wurde ein Weltbestseller und 2013 von Jean-Pierre Jeunet verfilmt.

Das 34. Literaturblatt ist bereit, verschickt zu werden!

Die Schar der Empfängerinnen und Empfänger der Literaturblätter wächst stetig. Was zu Beginn eine Idee war, wächst sich zu einer richtigen Serie aus, zu einer Arbeit, zu etwas Besonderem. Die Blätter brauchen Zeit; Zeit zum Lesen, Auswählen, Zeichnen, Schreiben, Drucken, Einpacken, Adressieren und Verschicken. Dass es immer mehr Menschen gibt, die mich dabei mit Komplimenten, Zuspruch, Ermunterungen und Geld unterstützen, freut mich sehr und macht mich stolz.

So ist literaturblatt.ch nicht einfach nur ein Blog, sondern ein Veranstalter, ein Vernetzer, eine Plattform und eine kleines, eigenwilliges Schreibwerk, das so ganz anders ist, als alles andere, was für das gute Buch wirbt.

Zwei Reaktionen auf das 32. Literaturblatt:

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für den schönen Beitrag. Überhaupt gefällt mir Ihre Seite sehr gut, wie auch die Literaturblätter; eine wunderbare Idee, finde ich, Büchern derart fein ein kleines Denkmal zu setzen. Ihnen alles Gute, herzlich grüsst
Ursula Fricker»

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für Ihr genaues Lesen, auf das ich – und jeder, der veröffentlicht, angewiesen bin. Herzliche Grüße,
Reinhard Kaiser-Mühlecker»

Vielen Dank!

In der Rubrik «Literaturblätter Übersicht» sind alle bisher erschienen Literaturblätter sichtbar. Wer das 34. Literaturblatt mit der Post «old school» zugesandt bekommen möchte, kann dieses bestellen über das Kontaktformular der Webseite,

über gallus.frei-tomic@gmx.ch

oder «old school» per Post:
Gallus Frei-Tonic
Literaturport Amriswil
St. Gallenstrasse 21
8580 Amriswil

Urs Richle «Anaconda 0.2», Limmat Verlag

«Language is a virus», ein Zitat von William S. Burroughs, steht dem Roman voraus. Ein vieldeutiges Zitat, eines das genau beschreibt, was mit mir passierte, während ich den neuen Roman «Anaconda 0.2» von Urs Richle las, ein literarisches Abenteuer!

Nichts mehr wünsche ich mir als Leser; Bücher, die mich mitreissen, die mich meiner Kontrolle entziehen, die mich schütteln, die mich treffen. Als ich den Roman «Anaconda 0.2» fertig gelesen aus den Händen gab, blieb ich noch eine Weile bloss sitzen, vielleicht ein bisschen betäubt, vielleicht geschlagen, aber mit Sicherheit beglückt und begeistert.

Leo, knapp über zwanzig, wird bei einer Demonstration gegen die Allmacht der Banken von einem Hartgummigeschoss der Polizei getroffen. Er verletzt sich mehr als unglücklich und schwer, fällt ins Koma und stirbt wenig später im Spital, während seine Familie an seiner Seite in Schockstarre zurückbleibt. Der Roman erzählt aus Sicht des Vaters die verzweifelte Suche nach einem verlorenen Sohn. Leo war nicht lange ausgezogen, damals im Streit, einer Tatsache, die zur Loslösung zu gehören schien. Beim Aufräumen des ehemaligen Kinderzimmers, das Leo nur noch als Flucht- und Rückzugsort diente, findet der Vater eine antike Spieluhr (eine Uhr aus dem 18. Jahrhundert, die «Grande Dame», aus dem Gebeinen der Geliebten des Uhrmachers Jean-Louis Sovary hergestellt, jener Uhr, die schon der Mittelpukt in Urs Richles letzten Roman «Das taube Herz» war). Ein geniales Uhrwerk, das in seinem Innern eine banale Paketbombe versteckt. Wer war sein Sohn? Wer oder was hatte ihn so sehr entfremdet, dass eine stumme Bombe zurückbleibt?

51rw5zm6d7lDas ist aber nur die eine Ebene dieses überaus gelungenen und grossartigen Romans. Leo ist tot, aus einer Familie herausgerissen. So wie sich der Vater in der Vergangenheit des Sohnes verbeisst, will die Mutter ein Gesicht, den Namen des Mörders, den Prozess gegen jenen Mann, der das Hartgummigeschoss abgefeuert hatte. Aus dem Krieg, den der Sohn als Aktivist und Hacker, Demonstrant und Konspirant führte, wird ein Krieg zwischen den Eltern, die in ihrem Schmerz den Weg aus der Trauer in komplett verschiedenen Richtungen suchen. Ein Krieg, der auch die beiden Schwestern Leos einsam werden lässt. Ein Krieg, der unsere Kinder an den irreparablen Zuständen von Umwelt und Gesellschaft zerbrechen lässt.
«Anaconda 0.2» ist aber auch ein Einblick in eine mir fast völlig fremde Welt, obwohl ich mit Computern arbeite, die Vernetzung allgegenwärtig ist und ich mir vieler Gefahren bewusst bin. Urs Richle arbeitet neben seinem Schreiben und der Dozentur am Literaturinstitut in Biel als Medieningenieur an Forschungsprojekten der Universität Genf. Was der Autor an Einblicken in die Welt der Big-Data-Konzerne ausbreitet, ist nicht bloss angelesene Recherche, sondern Insider-Wissen. Wenn Urs Richle sein Personal im Roman über die Möglichkeiten und Bestrebungen dieser in sich geschlossen scheinenden Welt erzählen und fachsimpeln lässt, wird mir schwindlig. Hinter dem schweren Tuch des Wissens öffnet sich nicht nur ein weites Feld, das mir meist verborgen bleibt, sondern auch ein beängstigend tiefer Abgrund.

Er wird einem beinahe schwindlig ob der Dimensionen und Perspektiven, die mit dem Lesen dieses Roman entstehen. Urs Richle gibt Einblicke in eine Welt der Wissensverarbeitung und Wissenskonstruktion durch künstliche Algorithmen, dass mir fahl im Bauch wird. Als würde ich ganz unvermittelt in einen ungeahnten Abgrund blicken. Urs Richles Roman saugt sich fest. Wo ich als Begleiter eines zurückgelassenen Vaters mit den schwarzen Löchern rund um seinen Sohn Zeuge werde, verändert der Autor mit immer neuen Wendungen und Einsichten meinen erstaunten Blick auf eine sich an Dimensionen potenzierendes Geschehen. So sehr, dass ich mir im letzten Teil des Romans zwischendurch die Augen reiben muss ob der Rasanz, mit der mich Urs Richle zum Finale peitscht.

Ein Ereignis!

Ein kurzes Interview:

Kinder werden gross in einer Zeit, die an positiven Perspektiven zu mangeln droht. Müssen wir uns vor unsern Kindern fürchten? Ich glaube nicht, dass wir uns vor unseren Kindern fürchten müssen. Aber wir haben allen Grund uns vor dem zu fürchten, was wir ihnen hinterlassen: eine kanibalistische (Menschen zerstörende) Marktwirtschaft, unkontrollierbare Maschinen, unkontrollierbare genmanipulierte Organismen und Viren, zerstörte Oekosysteme…. die Liste ist lang…

Sie beschreiben in ihrem Roman, was mit einer Familie geschieht, wenn ein Kind stirbt. Der Alptraum aller Eltern. Da ist der Verlust eines Sohnes, das Gefühl, ihn mehrfach verloren zu haben. Sie haben auch Familie. Ist da auch ein Stück ihrer Angst in den Roman eingepackt? Der Verlust eines Kindes ist tatsächlich das Schlimmste was einer Mutter/einem Vater widerfahren kann. Ja, da ist ein bisschen meiner persönlichen Angst dahinter. Auch die Angst, ein Kind so zu verlieren, dass man, wie Sie sagen, Angst vor ihm bekommen müsste (Entwicklung hin zu einem religiösen Fanatiker z.B.).

Es ist nicht der erste Roman, der ihre Faszination für antike Uhrwerke spiegelt. Darum, weil jene Kunstwerke die «Vorgänger» der Computer waren, auch wenn von Kunst bei Computern nicht viel zu spüren ist? Die Spieluhr «La Grande Dame» bildet die Verbindung zum Roman «Das taube Herz». Es handelt sich hier um das Projekt einer Trilogie – Vergangheit-Gegenwart-Zukunft. «Anconda 0.2» ist der zweite Teil. Am 3. schreibe ich zur Zeit.

Nimmt man ihr Schreiben unter Computerfachleuten wahr? Reagieren sie? Die Literaturwelt und die Informatiker-Welt sind zwei recht getrennte Welten. Aber das hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich als Informatiker im franzäsischen Sprachraum tätig bin. Kaum jemand hier liest deutsch…. Aber ich achte auch darauf, dass es nicht zu technisch wird. Beim «Tauben Herz» kam ein bisschen der Vorwurf, dass zuviel Mechanik beschrieben wird. Es geht ja um die Figuren, um die Menschen in dem ganzen Spiel, nicht um die technische Umsetzung.

Vielen Dank!

img_0151Urs Richle, 1965 im Toggenburg, einem kleinen Bergtal in der Ostschweiz geboren, unterrichtete ein Jahr lang an der Primarschule in Gais, Kanton Appenzell. Von 1989 bis 1992 lebte er in Berlin, wo er zuerst Soziologie und Philosophie zu studieren begann, danach das Studium jedoch abbrach, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Seit 1993 lebt Urs Richle in Genf. 1996/97 absolvierte er die Ausbildung an der Drehbuchwerkstatt München (Hochschule für Film und Fernsehen München). Von 2002 bis 2006 studierte er an der Ingenieursschule des Kanton Waadt und erlangte 2006 das Diplom „Ingénieur HES en Ingénieurerie des médias, orientation IT“ (Ecole d’ingénieur COMEM+, Lausanne). Diplomarbeit: WikiViz für TECFA, Université de Genève. Seit Mai 2006 arbeteitet Urs Richle als Ingenieur im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte an der Universität Genf – und ist weiterhin als freier Autor tätig. Seit Oktober 2007 unterrichtet Urs Richle Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut der HKB (Hochschule der Künste Bern).

(Titelbild: Urs Richle)

Webseite des Autors

Hannah Dübgen «Über Land», dtv

«Dein Herz ist dort, deine Füsse sind hier» – dieses Zitat trifft ein wichtiges Thema des Buches: Wo gehört man hin? Wie lebt es sich in der Fremde? Was zieht einen zurück in die Heimat? Und wie geht man mit dieser Situation um?

In Berlin begegnen sich bei einem Beinahe-Unfall zufällig Amal, eine auf Asyl wartendende Archäologie-Studentin aus dem Irak, und Clara, eine junge Ärztin aus Berlin. Diese Begegnung führt in den kommenden Wochen zu schüchternen Treffen, Gesprächen und einer beginnenden Freundschaft. Dem Leser wird das Leben von Amal im Irak sowie ihre Gründe für die Flucht auf eine sachliche, eindrucksvolle und trotzdem tiefgehende Weise nahe gebracht, die jedoch nie anklagend wirkt. Eher würdevoll und doch neutral.
9783423280945Claras Leben zwischen der Berliner Klinik und ihrem Lebensgefährten Tarum, einem Architekten aus Indien, spiegelt die Zerrissenheit der jungen Frau wieder. Sie sucht im Umgang mit ihrem Partner die Balance zwischen Nähe, Distanz und Selbstverwirklichung. Tarum erhält die Chance, nach erfolgreichen Jahren in Deutschland, ein Projekt in der Nähe seiner Heimatstadt in Indien zu betreuen und stellt die Beziehung mit Clara auf die Probe.
Als Amals Grossmutter im Irak stirbt, fährt Clara an ihrer Stelle nach Bagdad und taucht in die bis dahin gehörte Geschichte ein.

Hannah Dübgen versteht es, die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven zu beschreiben, wodurch man als Leser immer wieder neu gefordert wird. Die Geschichte nimmt ihren Lauf und setzt sich aus der unterschiedlichen Sichtweise immer weiter fort. Die Sprache berührt und saugt einen auf in die Geschichte, die unterschiedlichen Kulturen und Gedanken. Alles ohne Anklage zur Flüchtlingsthematik, sondern mit Achtung und Respekt. Und dem Nachhall zum Nachdenken, zum Überlegen, zum neu sortieren und bewerten.
«Vielleicht soll man den Menschen einfach das Recht auf Ihre Geschichte lassen.»

Ein tolles berührendes Buch mit vielen unterschiedlichen Facetten und einem stimmigen Gesamtbild. Ich freue mich auf weitere Bücher von Hannah Dübgen.

Mirja Grajer, 4.11.2106

 

5474Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater, und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman «Strom», ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry, erschien 2013 bei dtv.

Webseite zur Autorin

Quentin Mouron «Notre-Dame-de-la-Merci», Bilger

Auch wenn Quentin Mouron, Jahrgang 89, noch jung ist, ist dieser schmale, beim Zürcher Bilger Verlag herausgekommene Roman, ein Buch von unsäglicher Tiefe, Traurigkeit und reifer Verzweiflung. Eine Tragödie von sheakespearscher Kraft gepaart mit dem schonungslosen Realismus amerikanischer Erzähler, so gar nicht das, was ich unter nabelfixierter Literatur verstehe.

Quentin Mouron weiss, wovon er erzählt, wuchs dort auf, wo der westeuropäische Tourist die Freiheit vermutet, in den Wäldern von Québec, «zwischen Feuer und Kälte». Der junge Autor erzählt die Geschichte aus einer finsteren Gegenwart, in einem Winter, der nicht nur Kulisse des Geschehens ist, denn die Kälte reisst einem Risse in die Haut. Odette liebt Jean. Daniel liebt Odette und Jean liebt nur sich selbst. Drei kaputte Leben im ewigen Strudel einer Sackgasse. Odette verwittwet und gescheitert, geschunden und verletzt, hält sich mit Drogenlieferungen über Wasser. Daniel, im Würgegriff finanzieller Schulden und dem Elend zuhause, hilft Odette als Kurier, weiss, dass es der falsche Weg aus seinem Elend ist, aber der einzige. Und Jean, der die Polizei ruft, nachdem sich sein Vater im Schuppen erhängte. Jean, ein Möchtegerngangster, dessen einzige Regel er selbst ist, jeden instrumentalisieren will, Odette als Frau, Daniel als img_0138Sündenbock. Drei Schicksale, drei brennende Lunten, die sich unaufhaltsam auf das gleiche Pulverfass hinfressen. Drei Leben, die irgendwann aus dem Tritt gerieten, dasjenige von Jean mit aller Absicht, das von Daniel, weil das Leben mit ihm spielt, das von Odette, weil sie gefangen ist. Daniel und Jean, zwei Archetypen von Männern, die unterschiedlicher nicht sein können. Und dazwischen eine Frau, deren Leben sich an ihr selbst rächt, die nicht aus ihrer Haut schlüpfen kann, trotz allem Zorn, aller Wut.

Das ist die Geschichte. Die Geschichte eines Dreiecks. Aber Quentin Mouron erzählt durch den Roman auch von sich selbst, seinem Schreiben, dem Kampf mit sich, mit seiner Gegenwart, mit der Deformation einer ganzen Generation. Quentin Mouron leidet, verzweifelt und macht 95 Seiten lang keinen Hehl daraus. «Notre-Dame-de-la-Merci» erzählt von seiner Verzweiflung, dass gewisse Leben nie und nimmer umzukehren sind, dass Unglück unabwendbar scheint, die Katastrophe nur immer eine Frage der Zeit. Was der Autor an persönlichen Gedanken in den Roman mischt, ohne ihn zu stören, zwang mich öfters zu mehrmaligem Lesen, weil da jemand mit seiner Verzweiflung an der Welt, mit dem Schicksal der Verlorenen hadert, die nicht wie er selbst eine Stimme haben, ihre Ausgeschossenheit von Glück, Wärme und Liebe.

Starke Literatur von einer starken Stimme. Grund genug, dass Mouron Stimme auch in der deutschsprachigen Welt wahrgenommen wird.

img_0139Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec.
Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.

Webseite des Autors 

(Titelbild: Sandra Kottonau)