13. Frauenfelder Buch- und Druckkunst Messe

Wer den Geruch von Druckerschwärze liebt, wer gerne mit der Hand über verschiedenste Papiere streicht, wer Drucke schätzt, die von Idealisten produziert werden, denen Druckerzeugnisse Herzensangelegenheiten sind, der ist am 4. – 6. November richtig im Eisenwerk in Frauenfeld!

hpm2016-plakat-klDass das besondere Buch, der Schriftsetzer und Buchdrucker, die Handbuchbinderei und Handpressendrucker noch nicht ausgestorben sind, beweist die Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse mit jedem Mal, dieses Jahr zum 13. Mal, und jedes Mal mit Nachdruck!

Freitag, 4. November 2016:

  • 11 Uhr Messeeröffnung mit Beat Brechbühl, Schriftsteller, Dichter, Schriftsetzer und «Spirtus rector» der Messe
  • Eröffnung der Ausstellung «dada ist 100» mit Beat Brechbühl und Marc Berger
  • 11 bis 18.30 Uhr Ausstellung, Demonstrationen in zwei Hallen

Samstag, 5. November 2016

  • 11 bis 18.30 Uhr Messebetrieb
  • ab 18 Uhr Apéro im Foyer des Eisenwerks mit der Musikerin Nicole Johänntgen am Saxophon
  • ab 19.30 Uhr Ausstellerabend mit Spaghettiplausch im Salon Rouge

Sonntag, 6. November 2016

  • 11 – 16 Uhr Messe, Ausstellung, Verkauf, Demonstrationen in beiden Hallen

Klaus Merz «Helios Transport», Haymon

«Unser Leben besteht aus Alltag. Meine Literatur soll den Alltag neu oder mit einer kleinen Verschiebung der Wahrnehmung sehen. Überhaupt ist das eine wesentliche Aufgabe der Kunst; die häufig abgenutzte Wahrnehmung des Alltags rückgängig, den Alltag wahrnehmbarer machen.»

7272-jpg-thumb-380x550-keepratioKlaus Merz neuer Gedichtband «Helios Transport» tut genau das. Klaus Merz folgt seiner Spur seit mehr als 50 Jahren, seit seinem ersten Gedichtband «Mit gesammelter Blindheit», der 1967 noch in St. Gallen erschien. Klaus Merz schreibt noch immer gegen Blindheit an, formuliert als Sehender und Beobachter Texte, die einem durchaus die Augen öffnen, den Nebel der Gewohnheit wegreissen können. Die Gedichte in seinem neuen Buch sind Konzentrate. Helios ist der griechische Sonnengott, der den von vier Hengsten gezogenen Sonnenwagen über den Himmel lenkt. Klaus Merz bringt Licht, «transportiert Lasten aller Art» auf seine ganz eigene Weise. Seine Lyrik ist die eines gereiften Mannes, der es versteht, einen Blick hinter das Wesen der Dinge zu werfen, oft nur einen ganz kurzen Blick, dafür entlarvend, in die Tiefe. Seine Gedichte, eines jeden Morgen auswendig gelernt, können dem Tag ein anderes Licht aufsetzen, den Brennpunkt ganz leicht verändern, korrigieren. Blitzlichter in die Gegenwart, manchmal nur drei Zeilen, nicht einmal 10 Wörter lang. Blitze, die Türen öffnen, Kleinstbeobachtungen, die das scheinbare Grau und Einerlei des Alltags mit einem Mal erhellen, in helle Farben tauchen. Substrate, die wie lyrisches Antidepressivum wirken. Texte, die weit entfernt vom online-Gebabbel und reissenden Schlagzeilen über Nichtigkeiten beweisen, was Sprache als Kunst bewirken kann: Glück! Klaus Merz Gedichtband ist ein Manifest des Sehens!

Kind of Blue

Bei Einbruch der Nacht

die Unerschütterlichkeit der Dinge
gewahrend, wandte ich mich
wieder dem Fenster zu:
Da lag noch ein Klang in der Luft
der nur uns Sterblichen galt.
Ein hörbares Blau.

"Hörbares Blau", Pinselzeichnung des Künstlers Heinz Egger (mit Erlaubnis des Künstlers wiedergegeben)
«Hörbares Blau», Pinselzeichnung des Künstlers Heinz Egger
(mit Erlaubnis des Künstlers wiedergegeben)

Seit mehr als 20 Jahren erscheinen Klaus Merz Bücher beim Innsbrucker Verlag Haymon, illustriert vom Burgdorfer Künstler Heinz Egger. Über die Jahre muss aus der Zusammenarbeit der beiden Künstler eine Freundschaft geworden sein, spürbar in den wunderschön gestalteten Büchern, die Gesamtkunstwerke geworden sind.

merz_foto_davidzehnder-jpg-thumb-380x550-keepratioKlaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm in der Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005 sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016), Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012).

Klaus Merz liest am Sonntag, den 30. Oktober um 17 Uhr in der Kirche Linsebühl in St. Gallen. Begleitet wird er vom Organisten Rudolf Lutz.

Unterkulm Nord

Mit der Strassenbahn
passieren wir das Verlangen.
Ohne Halt.

(Ich danke dem Verlag für die Erlaubnis, zwei Gedichte zu veröffentlichen!)

Wilhelm Genazino «Ausser uns spricht niemand über uns», Hanser

«Ich wurde das Gefühl nicht los, dass meine Art zu denken zu einem Siebzehnjährigen passte, zu einem erwachsenen Mann aber nicht.» Zumindest diese Erkenntnis holt den Protagonisten am Schluss des Romans «Ausser uns spricht niemand über uns» ein. In Wilhelm Genazinos neuem Buch dreht  sich das Geschehen um genau jene Sorte Protagonist, der keine Sympathie abverlangt, auch gar nie einen Versuch in diese Richtung wagt.

Er wohnt am Stadtrand, seine Freundin in der Stadtmitte. Man trifft sich mal hier, mal dort. Sein Bett ist breiter, ihre Wohnung aufgeräumter. Er ist nicht arbeitslos, geht aber auch keiner geregelten Arbeit nach, hangelt sich als abgehalfterter Schauspieler von Engagement zu Engagement, mal als Stimme im Funkhaus, mal als Rezitator launiger Ehegedichte bei irgend einer Hochzeit. Er sehnt sich nach Bedeutsamkeit, bleibt aber haften bei der Sehnsucht danach, froh darüber, bis jetzt vor «der Vernutzung des Lebens» bewahrt worden zu sein. Ein ewig Unentschlossener um die 40, der in seinem wohlig warmen Alltag herumdümpelt. Ein Typ, dem ich  während des vergnügten Lesens gerne öfters einen Tritt in den Hintern versetzt hätte. Nicht weil er ein Müssiggänger oder faul wäre, sondern weil es der Protagonist meisterlich versteht, seine Umgebung nach seinen Bedürfnissen ein- und auszurichten. Einer jener Sorte Mensch, der selbst durch «Schicksalsschläge» und mehr als deutliche Seitenhiebe nicht gezwungen werden kann, einen Blick über die eigene Nasenspitze hinauszuwerfen. Da wird Carola, seine Freundin, schwanger, wenn auch nicht sicher, eher Genazino_25273_MR1.inddunwahrscheinlich von ihm, aber so doch in seiner Nähe. Aber Carolas Schwangerschaft ist wie eine Schlechtwetterlage. Sie geht vorbei, schmerzhaft für Carola, fast ungerührt bei ihm. Ein Protagonist, der sich vor nichts mehr fürchtet als vor Zuständen und Dingen, die nicht sind, vor allem und im Speziellen vor dem «beginnenden Alter». Carola und er scheinen sich irgendwie zu verstehen. Was längst nicht bedeuten muss, dass es auch etwas zu reden gäbe. Was er als noble Distanz zu erklären weiss, ist in Wahrheit die Angst davor, sich mit allem Gegenüber zu sehr zu verstricken. Eine Partnerschaft, selbst eine Liebe, ist bloss Arrangement, nicht mehr, eine Zweckgemeinschaft der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung, die sich unter Umständen auch aufzwingen lässt. Selbst die Lust des anderen wird zum drohenden Gewitter, zur Laune der Natur, zur Anomalie der Normalität. «Leider (oder zum Glück) war es uns nicht gegeben, diese Feinheiten hinterher oder am nächsten Tag zu besprechen, was ich an manchen Tagen bedauerte, an den meisten Tagen aber in Ordnung fand, weil ich nicht zu den Menschen gehören wollte, die aus jeglicher Regung zwischen den Geschlechtern eine unausweichliche Sprechstunde machen mussten.»
Man muss den Protagonisten nicht mögen, auf keiner Seite, den Mann, der bloss sich selbst ernst nimmt, sehr, sehr ernst. Das Verlassenwerden von seiner Freundin nimmt er hin wie lästige Kopfschuppen.

Wilhelm Genazino ist Beobachter des Feinen und Unscheinbaren. Der Roman wurde eine Sammlung kleiner Begebenheiten, die vermuten lassen, dass auch der Autor selbst die Kunst des Müssiggangs versucht, wohl das einzige, was er mit dem Protagonisten gemein hat. Gut konstruiert, hat mich das «böse» Buch bestens unterhalten!

genazino_wilhelm_h7_2013Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebt in Frankfurt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt «Tarzan am Main» (Spaziergänge in der Mitte Deutschlands, 2013), «Leise singende Frauen» (Roman, 2014) und «Bei Regen im Saal» (Roman, 2014).

Wilhelm Genazino liest am 28. Oktober im Rahmen des Literaturfestivals «Zürich liest» in der coalmine in Winterthur. Die Lesung beginnt um 19.30.

(Titelbild: Sandra Kottonau)

9. Hauslesung mit Dominique Anne Schuetz

Am Samstag, 22. Oktober, 2016, las Dominique Anne Schuetz, 2014 mit dem Buch „Die unsichtbare Grenze“ aufgefallen, auch Fotografin und visuelle Künstlerin, aus ihrem 2015 beim Europa-Verlag erschienenen Roman „Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben“.

Eine eindrückliche Hauslesung, eine engagierte Autorin, am Schluss ein leerer Büchertisch, viele Komplimente und einmal mehr das Gefühl, an etwas Besonderem teilgenommen zu haben!
«Ich kam an einen Ort, wo ich noch nie gewesen bin, und als ich ihn verlassen habe, war mir, als wäre er mir schon lange vertraut.» Dominique Anne Schuetz
Dominique Anne Schutz präsentiert ihr Buch, angereichert mit Bildern, Geräuschen und Musik.
Dominique Anne Schutz präsentiert ihr Buch, angereichert mit Bildern, Geräuschen und Musik.
beidseits gute Aussichten
beidseits gute Aussichten
Alle Bücher verkauft und signiert!
Alle Bücher verkauft und signiert!

Nachdem ich Dominique Anne Schuetz bei den vorbereitenden Gesprächen gefragt hatte, ob sie auch bereit wäre, etwas von ihren Bildern zu zeigen, brachte sie nicht nur ihre Bücher, sondern auch eine kleine, eindrückliche Auswahl ihrer bildnerischen Werke vorbei.

Dreiteilig, je 40 x 30 cm, Sujet 7up je 50 x 70 cm | Zeichnung, Fotografie und Short Story | Das Produkt eröffnet den Dreiakter, die Fotografie ist Schauplatz und Kulisse, in der Short Story betritt der Mensch die Bühne.
Dreiteilig, je 40 x 30 cm, Sujet 7up je 50 x 70 cm | Zeichnung, Fotografie und Short Story | Das Produkt eröffnet den Dreiakter, die Fotografie ist Schauplatz und Kulisse, in der Short Story betritt der Mensch die Bühne.

«Leseort: Ein sonniger Literatursalon in Amriswil mit Sofas, Sesseln, einem Klavier und einer beeindruckenden Bücherwand.
Gastgeber: der Literaturfreak vom Kanton Thurgau und seine charmante Frau.
Anwesend: Literaturfans, Büchernarren, Leseratten und mehr Männer als erwartet.
Literarische Mission: Vorstellen meines vierten Romans.
Es war ein wunderbarer Tag mit einem tollen Publikum, das aktiv meinem Ton-Bild-und-Lesevortrag gefolgt ist. Und danach? Natürlich haben wir geschwatzt. Über Bücher, Kritiker, Autoren und Verleger, aber auch über Musik (Diana Krall, Kem, Madeleine Peyroux …), Kunst, Künstler und Galeristen. Und wir haben feine Biowurst aus Österreich und würzigen Schweizer Käse gegessen, Rot- und Weisswein getrunken, Öpfel- und Bireschnitz verputzt, uns in der Hollywoodschaukel geräkelt, die unerwartete Oktoberhitze genossen und das noch nicht ganz fertige Enkelkind begrüsst.
Vielen herzlichen Dank Irmgard und Gallus und allen, die sich auf den Weg nach Amriswil gemacht haben!
Dominique»

Vielen Dank an Dominique Anne Schuetz!

Esther Kinsky «Am kalten Hang viagg› invernal», Matthes & Seitz

Man möchte Samthandschuhe anziehen. Nicht weil die Autorin ohne solche nicht fassen zu wäre. Aber der Lyrikband «Am kalten Hang» der in Berlin und Battonya (Ungarn) lebenden Dichterin ist ein geheimnisvoll schimmerndes Juwel. Gedichte, die ich laut und mit viel Hall ins Tal rufen möchte, andere leise unter der Bettdecke flüstern.

Ich mag Gedichtinterpretationen nicht, bin mit Sicherheit verbrüht. Aber wenn ich Gedichte lese, ist es wie mit Annäherung an anspruchsvolle Musik, die mir dann doch auf Anhieb gefallen muss, erst einmal ohne Deutung und Hinterfragen.

Esther Kinsky bringt auf Anhieb etwas zum Schwingen, zwingt mich, ihre Gedichte immer wieder zu lesen, einzelne Gedichte laut, so laut, dass andere Fahrgäste im Zug den Kopf zu mir drehen. Esther Kinsky ist Dichterin, führt Selbstgespräche über Leid, Fremdsein und Tod.
Aber warum denn mit Samthandschuhen? Zugegeben, ich besitze eine tief sitzende Affinität für Bücher, die zumindest für mich in ihrer Ganzheit bestechen. Was der Berliner Verlag Matthes & Seitz mit den 24 kurzen Gedichten und dem einen langen Poem vollbrachte, ist Kunstwerk in vielerlei Hinsicht. Auf dickes Papier gedruckt präsentieren sich die Gedichte wie auf geprägte, weisse Tafeln. Und die gegenüber gestellten Illustrationen des Künstlers Christian Thanhäuser wirken wie Kippbilder, unterstreichen, was die Dichterin mit ihrer Sprache zu erzeugen vermag; genaues Hinhören und Hinschauen!

Esther Kinsky, gezeichnet von Kat Menschik
Esther Kinsky, gezeichnet von Kat Menschik

Esther Kinsky, geb. 1956, ist Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen (u.a. Henry D. Thoreau, Lob der Wildnis). 2009 war sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Paul-Celan-Preis. Seit 2010 sind drei Gedichtbände erschienen: die ungerührte schrift des jahrs (2010), Aufbruch nach Patagonien (2012) und Naturschutzgebiet (2013). 2014 veröffentlichte sie den Roman Am Fluß, der ebenso wie ihr Roman Banatsko (2011) auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, und 2015 mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde.

Das 33. Literaturblatt ist druckfertig!

Liebe Freundinnen und Freunde der Literaturblätter

Die Schar der Empfängerinnen und Empfänger der Literaturblätter wächst stetig. Was zu Beginn eine Idee war, wächst sich zu einer richtigen Serie aus, zu einer Arbeit, zu etwas Besonderem. Die Blätter brauchen Zeit; Zeit zum Lesen, Auswählen, Zeichnen, Schreiben, Drucken, Einpacken, Adressieren und Verschicken. Dass es immer mehr Menschen gibt, die mich dabei mit Komplimenten, Zuspruch, Ermunterungen und Geld unterstützen, freut mich sehr und macht mich stolz.

So ist literaturblatt.ch nicht einfach nur ein Blog, sondern ein Veranstalter, ein Vernetzer, eine Plattform und eine kleines, eigenwilliges Schreibwerk, das so ganz anders ist, als alles andere, was für das gute Buch wirbt.

Zwei Reaktionen auf das 32. Literaturblatt:

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für den schönen Beitrag. Überhaupt gefällt mir Ihre Seite sehr gut, wie auch die Literaturblätter; eine wunderbare Idee, finde ich, Büchern derart fein ein kleines Denkmal zu setzen. Ihnen alles Gute, herzlich grüsst
Ursula Fricker»

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für Ihr genaues Lesen, auf das ich – und jeder, der veröffentlicht, angewiesen bin. Herzliche Grüße,
Reinhard Kaiser-Mühlecker»

Vielen Dank!

In der Rubrik «Literaturblätter Übersicht» sind alle bisher erschienen Literaturblätter sichtbar. Wer das 33. Literaturblatt mit der Post «old school» zugesandt bekommen möchte, kann dieses bestellen über das Kontaktformular der Webseite,

über gallus.frei-tomic@gmx.ch

oder «old school» per Post:
Gallus Frei-Tonic
Literaturport Amriswil
St. Gallenstrasse 21
8580 Amriswil

Brugger Literaturtage 2016: Franz Dodel «Nicht bei Trost», Edition Korrespondenzen

logogebilde16Seit nunmehr 14 Jahren schreibt der Berner Schriftsteller und Dichter täglich weiter an einem endlosen Poem mit dem Übertitel «Nicht bei Trost». Zumindest bezieht sich der Titel nicht auf sein Unterfangen, viel mehr auf die Art wie er schreibt, wie sich Franz Dodel von seinen Gedanken treiben, wegtreiben, davondriften lässt.

Dabei hat sein Schreiben nichts von Zufälligkeit, orientiert sich streng nach dem Muster der japanischen Haikus; eine fünfsilbige Strophe, gefolgt von einer siebensilbigen, abwechselnd, endlos fortgesetzt, jeweils einige Silben pro Tag. Und ich bin als Leser auch nicht gezwungen, sein Endloshaiku auf der ersten Seite des jeweiligen Bandes zu beginnen. So wie Franz Dodel jeden Tag weiterschreibt, seine Gedanken schlingern und mäandern, kann ich als Leser auch überall einsteigen. Kein Wunder fühlen sich seine wunderschönen Bücher in der Hand wie Stundenbücher an, wie Gebetsbücher, in schwarzes Leder gebunden, jederzeit überall aufzuschlagen, um in Dodels Gedankenwelt einzutauchen. Dodels Unterfangen erinnert mich ans Führen eines Tagebuchs, nur nach strengen formalen Regeln. Betrachtungen, Beobachtungen, Gedanken zu Kunst, Literatur, Religion und vielem mehr, starke Zeilen, tiefe Gedanken, die sich leicht ins eigene Bewusstsein einbrennen. Ein Buch fürs Nachttischchen, wo es aufgeschlagen liegen bleiben soll, um irgendwann wieder zu Wort zu kommen.

Nicht bei Trost. DAS MATERIAL (Installation)
Nicht bei Trost. DAS MATERIAL
(Installation)

Entschwinden bedroht
macht plötzlich keinen Sinn mehr
[31101] ich bleibe wachsam
wie einer der aufmerksam
zuhört obwohl er
das was er hört nicht versteht
ohne da zu sein
bin ich doch ganz und gar da
am Waldrand sind mir
die schwebenden Lichtsäulen
nicht entgangen die
bei tiefstehender Sonne
flimmernden Türme
aus Millionen kleinster
Motten jede ein
um nichts kreisender irrer
hell leuchtender Punkt
und da ist sie wieder die
Freude darüber
eine Gesetzmässigkeit
zu finden niemand
drängt mich sie zu begreifen
es beruhigt mich
dass ich ihr unterliege
es ist als ob ich
mich unter meinesgleichen
widerstandslos von
Nichtigkeit zu Nichtigkeit
mittreiben ließe
ich schiebe die Erwartung
einer Erklärung
immer wieder und weiter
hinaus so dass es
am Zeitrand leicht sein wird mich
zu überraschen

Und nebenbei: Während sich auf der rechten Seite Zeile an Zeile reiht, verdeutlicht Franz Dodel sein Poem jeweils auf der linken Seite mit Erläuterungen und Illustrationen. Sie sind Referenz an all die Geschichten, Bilder, Leben, von denen sich der Autor beim Schreiben umkreisen lässt. Eine Art des Assoziierens. Die strenge Form, das tägliche Schreiben zwingen Franz Dodel zur steten Auseinandersetzung.
Und noch eine besondere Geschichte: Meist schreibt man ein Manuskript und sucht dafür einen Verlag. In Franz Dodels «Fall» war es der kleine Wiener Verlag Edition Korrespondenzen, der auf die Arbeit des Autors aufmerksam wurde und um eine Zusammenarbeit bat, um aus der Spur im Netz ein Buch zu machen.
Inhaltlich, visuell und taktil ein Buch der Sonderklasse! Schön, dass die Brugger Literaturtage 2016 Franz Dodel einluden und mir diese Entdeckung schenkte!

img_0033Franz Dodel, geboren 1949 in Bern, studierte Theologie und schloss ab mit einer Dissertation über die Spiritualität der Wüstenväter. Er arbeitet als freier Autor und als Fachreferent für Theologie und Religionswissenschaften. Die bei der Edition Korrespondenzen erschienen Bände wurden 2004 im Wettbewerb «Die schönsten Bücher der Schweiz» und 2008 als «Eines der schönsten Bücher Österreichs» ausgezeichnet. 2003 erhielt Franz Dodel den Heinz-Weder-Preis für Lyrik.

Webseite des Autors (Franz Dodel verspricht eine Neugestaltung! Ich bin gespannt.)

Deutscher Buchpreis 2016 für «Widerfahrnis» von Bodo Kirchhoff

Ich gratuliere dem Preisträger des Deutschen Buchpreises 2016 Bodo Kirchhoff!

Bereits im September lobte ich seinen Roman:

«Erinnerungen sollen wie Abschnitte in einem Handbuch sein, nur dazu dienen, in bestimmen Situationen die richtigen Worte in der richtigen Reihenfolge zu sagen, aber es sind Einflüsterungen, die einen betören oder mit Schwert erfüllen oder beides.»

Reither ist 64, hat seinen Verlag samt Buchhandlung liquidiert und seiner Wohnung mitten in Frankfurt den Rücken gekehrt. Er versucht Ruhe in sein aufgewühltes Leben zu bringen, nach der «Scheidung von seiner Lebensaufgabe», an einem stillen Ort im April mit Sicht auf den letzten Schnee. «Er hatte als Einziger dem Umstand ins Gesicht gesehen, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab.» Bis es an der Tür zu seiner neuen Wohnung klingelt und Reither mit dem Drücken der Klinke weiss, dass danach alles in ein anderes Licht getaucht sein wird. Sie heisst Leonie Palm, die vor seiner Tür steht und genau wie er den Kampf aufgegeben hat, sie mit Hüten, er mit Büchern. Mit der Frage «Was kann ich für sie tun?» beginnt das «Widerfahrnis», ein eigenartiges Roadmovie, denn sie besteigen das eingeschneite Auto der Frau, um gemeinsam in den Morgen zu fahren, aufzubrechen und bleiben sitzen in dem mobilen Arrangement, das einem ungewollt zu Nähe zwingt. Und weil die ZeitCover-184x300 lange wird und die beiden irgendwann längst über den Morgen hinausgefahren sind, beginnen beide zu fragen und zu erzählen, nicht zuletzt darum, weil beide alleine geblieben sind, nicht nur an Menschen, sondern auch in der Welt. Reither wird in ungewohnter Heftigkeit mit seiner und der Vergangenheit seiner Begleiterin konfrontiert, erst recht, als sich ihnen nach einer turbulenten Fahrt bis nach Sizilien ein Mädchen in einem roten Fetzenkleid anschliesst. Ein Mädchen, das nicht spricht, keinen Namen nennt, etwas will, was sich nur erahnen lässt und zum Katalysator wird, bis die zaghaft aufgeweichte Situation zu eskalieren beginnt.

Bodo Kirchhoff schreibt frei aller Sentimentalität über das Zusammenkommen zweier in die Jahre Gekommener, über das Hereinbrechen von Gegenwart und Vergangenheit, über die tiefen Schnitte ins Leben, die wohl vernarben aber nie verheilen, über zwei, «die Pleite gemacht haben, eben nicht nur mit Büchern und Hüten». Bodo Kirchhoff tut dies so kunstvoll, dass es mich als Leser zuweilen überrascht, mit welcher Leichtigkeit er schwierige, nicht zu beantwortende Fragen des Lebens in den Text verwebt. Er erzählt, als wäre die Novelle die Analyse des Geschriebenen selbst und macht den Text noch um eine Facette reicher. Eine Novelle, der alles birgt und doch nicht überbordet; von der zaghaften Liebesgeschichte bis zur Begegnung mit dem Flüchtlingselend in Sizilien. Reither wird gerettet, gerettet nicht durch Liebe, nicht durch den Aufbruch, sondern vom Faden eines afrikanischen Fischers.
Bodo Kirchhoff gelingt, was vielen misslingt. Er dringt nicht ein, weder in Personen, Geschichten oder Wahrnehmungen. Bodo Kirchhoffs Schreiben erzeugt Tiefe durch Präzision und Nähe. Nichts wirkt konstruiert und zurechtgebogen. Aber nach der Lektüre bin ich reicher!

(c) Claus Setzer
(c) Claus Setzer

Geboren 1948 in Hamburg, beschult in einem christlichen Internat am Bodensee, Ausbilder beim Militär und Eisverkäufer in Amerika. Ab 1971 studierte er Heilpädagogik in Frankfurt am Main. 1979 erschien seine erste Veröffentlichung im Suhrkamp Verlag. Viele seiner zahlreichen Romane beschäftigen sich mit der Organisation von Intimität, etwa der Freundschaftsroman «Eros und Asche» oder die Paar- und Liebesromane «Wo das Meer beginnt» und zuletzt sein großartiges Meisterwerk «Die Liebe in groben Zügen». Ein Roman unter anderem über «die unstillbare Sehnsucht nach Liebe: die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam», den ein Kritiker als ein Liebesbrevier für Fortgeschrittene bezeichnete. Im Herbst 2014 erschien sein Roman «Verlangen und Melancholie» und wurde von der Kritik einhellig als großes Werk gefeiert.

«Geschriebenes ist die einzige Wahrheit, die sich korrigieren lässt.»

Matthias Brandt «Raumpatrouille», Kiepenheuer & Witsch

Matthias Brandt ist Schauspieler, einer der bekanntesten in Deutschland, seit Jahren mit grosser Resonanz vor der Kamera.»Raumpatrouille» sind Geschichten aus seiner Kindheit, Teil eines gemeinsamen Projekts mit seinem Bühnenpartner und Musiker Jens Thomas. Geschichten im Buch, die in den Songs des Albums «Memory Boy» mitschwingen, auch auf der Bühne.

Auf einem Schwarz-Weiss-Foto, dass ich wohl irgendwann irgendwo aufschnappte, sah ich den Jungen Matthias Brand zusammen mit seinem Vater auf einem Felsrücken in die Kamera lachen. Sein Vater war Willy Brand, SPD-Galionsfigur und Bundeskanzler im Kalten Krieg. Matthias Brand erinnert sich in seinem literarischen Debüt an seine Kindheit in den Siebzigerjahren «in einer kleinen Stadt am Rhein, die damals Bundeshauptstadt war». Familie Brandt lebte in einem grossen Haus, in direkter Nachbarschaft mit anderer Politprominenz, leidlich bewacht, bestens versorgt, letztlich wohl vom grossen Rest der Bevölkerung abgehoben. Der junge Matthias aber realisiert nur am Rande, dass sich sein Zuhause wohl doch von anderen unterscheidet, dass die Köpfe des rauchenden, älteren Mannes auf den übergrossen Plakaten in der Stadt Abbilder seines Vaters sind.
978346204567314 Geschichten aus einem Zuhause, das sich letztlich kaum von anderen unterscheidet; Ein Vater kaum da, immer auf Achse, eine Mutter in Sorge mit latenten Fluchtgedanken und Geschwistern in anderen Welten. Dafür Besonderheiten wie Wachpersonal im Kabuff bei der Einfahrt zum Grundstück, der gelegentlichen Tasse Schokolade mit dem kranken und greisen Altbundeskanzler Heinrich Lübke aus der Nachbarschaft oder ganz Üblichem wie der Sehnsucht nach den Weiten des Universums mit der Raumpatrouille Orion, dem Hund Gabor und vielen, vielem mehr.

Matthias Brandt leuchtet zurück in eine Kindheit, in ein Stück bundesdeutsche Geschichte, Fahrradtouren mit innenpolitischen Auswirkungen und der Angst des Torwarts vor dem… Lesen Sie dieses Buch. Matthias Brandt erzählt seine nordrhein-westfälischen Schmankerln gekonnt!

autor_1780Matthias Brandt, geboren 1961 in Berlin als jüngster Sohn von Rut und Willy Brandt, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Er war an renommierten deutschsprachigen Theatern engagiert, in den letzten Jahren arbeitete er hauptsächlich vor der Kamera. Für seine Leistungen ist er vielfach ausgezeichnet worden.

Webseite des gemeinsamen Projekts «Raumpatrouille & Memory Boy»

Webseite von Brandt und Thomas

Webseite von Jens Thomas mit Hörproben zur CD «Memory Boy»

(Titelfoto: Sandra Kottonau)

Frédéric Zwicker «Hier können sie im Kreis gehen», Nagel & Kimche

«Ich habe mir erlaubt, meine Zügel ein letztes Mal zu greifen. Und um sicherzugehen, dass mir niemand meinen Gaul lahm- oder meinen Hintern weichreden konnte, habe ich gesattelt, ohne jemandem davon zu erzählen, und bin in eine Richtung geritten, in die mir niemand folgen kann.»

In Deutschland leben in mehr als 13000 Pflegeeinrichtungen Millionen Pflegebedürftige, Menschen, für die es in unseren Breiten unausweichlich scheint, sie in diesen Bahnhöfen zur letzten Reise zu sammeln. Grauzonen, oftmals schwarze Löcher, vor denen man sich ein Leben lang tunlichst fernhält, bis die Konfrontation mit einer solchen Institution unausweichlich ist.

Womit Christoph Simon 2011 in seinem wunderschön glänzenden Roman «Spaziergänger Zbinden» (Bilger Verlag) ein liebevoll, witzig-kritisches Licht hinter die für viele unbekannten Mauern brachte, kann Frédéric Zwicker mit seinem Roman «Hier können sie im Kreis gehen» noch um mehr als eine Komponente bereichern. Johannes Kehr ist 91. Und weil es irgendwann sowieso soweit sein wird, versteckt sich Kehr hinter einer vorgespielten Demenz in einem Pflegeheim der Stadt. «Ich habe das Gericht durch die Hintertür verlassen.» Nachdem ihm der Tod seinen Sohn, seine Frau und seinen Freund nahm und er dem verbleibenden Rest der Familie nicht zur Last fallen will, verkriecht er sich hinter seinem selbst gewählten Vorhang. Eine letzte Inszenierung, die gar nicht Zwicker_Kreis_gehen_125x205_HCSU_P06DEF.inddso leicht zu spielen ist, akribische Vorbereitungen verlangte und keinen Fehler erlaubt. Endlich im Einzelzimmer in Ruhe gelassen kommentiert Kehr seine meist unfreiwillig mehr oder weniger anwesenden Mitbewohner und erzählt in kleinen Stücken die Geschichte seines Lebens. Als Waise ungeliebt bei Verwandten aufgewachsen hilft ihm der Zufall, aus den Mühlen von Armut, Stigmatisierung und Einsamkeit zu entfliehen. Er rettet das Leben eines Ertrinkenden, dessen Familie ihn am Ertrinken in seinem Unglück rettet. Er kämpft sich hoch, trotz einer verweigerten und nie überwundenen Liebe, durch ein Leben voller Arbeit und Pflichterfüllung, bis ihm am Ende nur noch Sophie bleibt, seine Enkelin. Aber auch Sophie weiht er nicht ein in seinen letzten Protest, seine Flucht nach innen. Ihr, ihrem Foto im Zimmer auf der Etage, erzählt er, ihr und dem Kater, einem Tier, das sich auch nicht einsperren lässt. «Am Ende bliebst mir nur du, Sophie. Aber ich hätte dir nicht so lange bleiben dürfen. Ich beklage mich nicht, aber das Leben hat mich abgenützt, hat seine Narben hinterlassen. Am Ende war es auch für mich zu viel. Ich habe die Kraft verloren, mich zu wehren. Ich wusste nicht mehr, wozu ich mich noch wehren sollte. Und ich sah keinen Ausweg. Ausser diesem hier.»

«Hier können sie im Kreis gehen» ist aber viel mehr als eine Sammlung von skurrilen Geschichten, auch kein abstruser Greisen-Abenteuerroman, kein Kasperletheater, das nichts zum Verständnis jenes Lebensabschnitts beiträgt, den wir geflissentlich vor uns herschieben. Zwickers Sicht auf den ganz eigenen Kosmos eines Pflegeheims ist offensichtlich nicht eine von aussen. Sorgfältig recherchiert (Frédéric Zwicker leistete seinen Zivildienst in einem Pflegeheim.) hadert der Autor mit einer Gesellschaft, die solche Einrichtungen in dieser Form nötig macht, ebenso mit der Gleichgültigkeit dem letzten Abschnitt des Lebens, dem Sterben, dem Tod gegenüber, der Tatsache, dass viele so tun, als gäbe es dieses Ende so nicht. «Es gelingt ihnen, nicht an den Tod zu denken, bis er vor der Tür steht und nicht mehr aufhört zu klopfen, bis sie ihm öffnen. Die Lebenden fürchten sich erst vor ihm, wenn sie seinen Atem im Genick spüren, wenn er ihnen auf den Rücken gesprungen ist und sich von ihnen herumtragen lässt.» Dass mir dieser Blick hinter die Mauern zuweilen weh tut, ist unvermeidlich und tut Buch und Thema gut.
Frédéric Zwicker ist jung, arbeitet als Redaktor beim St. Galler Kulturmagazin «Saiten». Zu hoffen ist, dass da noch mehr kommt. Ich freue mich schon jetzt.

zwicker_frederic_hf_iFrédéric Zwicker, wurde 1983 in Lausanne geboren und wuchs in Rapperswil-Jona am Zürichsee auf, wo er heute wieder lebt. Während seines Studiums der Germanistik, Geschichte und Philosophie trat er regelmässig an Poetry Slams auf. 2006 gründete er mit dem Jazzmusiker Matthias Tschopp die Band Knuts Koffer, die seine Texte musikalisch umsetzt. Zwicker arbeitete als Werbetexter, Journalist, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, als Moderator von Lesungen, Musiklehrer und Leiter von Literaturworkshops an Schulen. Während einer Afrikareise schrieb er für die Zeitung Südostschweiz den Blog „Zu Tee bei Mutter Afrika“.

(Titelbild: Sandra Kottonau)