Pablo Bernasconi «Ende – Berühmte letzte Sätze der Weltliteratur», mixtvision

56 Bücher, die auf ganz verschiedene Art und Weise Leben und Sein des argentinischen Illustrators Pablo Bernasconi begleiteten, sind in ganz aussergewöhnlichen Portraits in einem wunderschön illustrierten «Büchergarten» zu bewundern. Ein Buch, das auftun kann, inspirieren, das neugierig macht, fasziniert und amüsiert!

Er habe ein Problem, schreibt der Zeichner im Vorwort zu seinen Portraits: «Mich graust es vor kleinen bunten Fischen in der Karibik. Ich mag es nicht, wenn meine Finger mit Sekundenkleber zusammenkleben, ich ekle mich vor Milch und ich lese bei Büchern immer zuerst den Schluss.» In diesem wunderschönen Buch, in dem jeweils eine Doppelseite einem Werk der Weltliteratur gewidmet ist, liest man auf der einen Seite den letzten Satz oder den letzten Abschnitt, ohne dass dieser einem das Vergnügen des Selberlesens schmälern würde, und auf der andern Seite ziert eines der Kunstwerke des Illustrators die Quintessenz des Schlusses.

Scan 4«Das Leben: Gebrauchsanweisung» von Georges Perec:
«Er ruhte, völlig angekleidet, friedlich und aufgedunsen, auf seinem Bett, die Hände über der Brust gekreuzt. Eine grosse, rechteckige Leinwand von mehr als zwei Metern stand neben dem Fenster und verkleinerte den schmalen Raum des Dienstmädchenzimmers, wo er den grössten Teil seines Lebens verbracht hatte, um die Hälfte. Die Leinwand war praktisch noch unberührt: einige Striche mit der Zeichenkohle, sorgfältig gezeichnet, teilten sie auf in regelmässige Quadrate, Skizze eines Grundrisses eines Hauses, das nun keine Person mehr bewohnen sollte.»

oder

Scan 5«Warten auf Godot» von Samuel Beckett:

Er zieht seine Hose herauf. Schweigen.

WLADIMIR: Also? Gehen wir?
ESTRAGON: Gehen wir!

Sie gehen nicht von der Stelle.

VORHANG

 

Ein Buch, das bei mir möglichst lange offen liegen bleibt, mich entzücken und animieren soll. Ein wunderschönes Geschenk an mich!

Webseite des Verlags

 

Rebecca West «Die Rückkehr», dtv

Mit 26 Jahren schrieb die Britin Rebecca West 1918 als erste Frau einen Roman über die Schrecken des ersten Weltkriegs, ihr Debüt. Nicht über jenen Krieg, der Tausende in die Schützengräben von Verdun schickte, sondern jenen, den er in die Seelen der Männer brachte, die mit wehenden Fahnen in den Krieg zogen, um als Verwundete, Versehrte, Zerstörte und Tote nie mehr ganz zurückzukehren.

Zwei Frauen warten während des ersten Weltkriegs unter demselben Dach auf Zeichen desselben Mannes. Kitty auf die ihres Mannes und Jenny auf jene ihres Cousins. Ein langes und banges Warten. Bis auf dem Landgut der Baldrys eine Frau erscheint und behauptet, sie wisse, wie es diesem einen Mann gehe und wo er sei, nicht verletzt, aber versehrt – ein Granatentrauma. Die beiden wartenden Frauen glauben zuerst, einer Schwindlerin gegenüberzusitzen, bis ihnen klar wird, dass ihr Gegenüber mehr als eine Botin ist. «Eine abstossende Aura von Vernachlässigung und Armut umgab sie, so wie selbst ein teurer Handschuh, wenn er in einem Hotel hinter ein Bett gefallen ist und ein, zwei Tage lang ungestört dort gelegen hat, abstossend wirkt, wenn das Zimmermädchen ihn aus Staub und Flusen wieder hervorzieht.» Chris kehrt zurück. Aber was fortan auf dem von Chris voller Enthusiasmus renovierten Landgut herumgeistert, will nicht mehr der sein, der er einst war, als er mit dedie_rueckkehr-9783423280808m Zuruf «Bis dann! Ich schreibe euch aus Berlin!» in den Krieg fuhr. Der Krieg, das Pfeiffen der Granaten, das Warten auf den Einschlag, all die Toten riss einen Teil seiner Seele aus ihm heraus – und mit ihr 15 Jahre seiner unmittelbaren Vergangenheit. Plötzlich existiert keine Ehefrau mehr, nicht einmal mehr das durch eine Krankheit dahingeraffte Kind. Stattdessen ist da diese Frau, die die Botschaft brachte, eine von Mühsal, Arbeit und Einerlei gezeichnete Frau, Margaret, die Chris vor 15 Jahren liebte und die einzige zu sein scheint, die den versehrten Chris am Leben hält.
Das Aufeinanderprallen zweier Welten, jene des gottgewollten Reichtums, der Bourgeoisie und jener der ewig von Verlust und Lebenskampf bedrohten Arbeiterklasse, genau jene Gegensätze, die den Krieg damals ausmachten, der um sie und zwischen ihnen tobte.
Dass diese Geschichte, dieses Kammerstück 98 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen in einer englischen Zeitung nun auf Deutsch vorliegt, ist nicht bloss dem Umstand zuzuschreiben, dass Rebecca West als einzige zeitgenössische Frau einen Roman über die direkten Auswirkungen des ersten Weltkriegs schrieb. Rebecca West zieht die Ausläufer des Krieges bis in die von Tradition, Etikette und Adel bestimmte Aristokratie Englands. Ein ganz ausserordentliches Buch einer ausserordentlichen Frau!

8111 Dame Cicely Isabel Fairfield, besser bekannt als Rebecca West (1892-1983), wurde in London geboren. West arbeitete als Journalistin für namhafte Zeitungen, darunter der Daily Telegraph, New Statesman, New York Herald Tribune. Sie machte sich einen Namen mit ihren Artikeln als Frauenrechtlerin und Literaturkritikerin. Auf diese Weise lernte sie auch H.G. Wells kennen. Sie schrieb einen Verriss über seinen 1912 erschienenen Roman «Mariage. Die Geschichte einer Ehe» und bezeichnete Wells als die alte Jungfer unter den zeitgenössischen Romanciers. Das machte ihn neugierig und er lud sie zum Lunch ein. Ab 1913 wurde daraus eine Liebesbeziehung. Die Beziehung der beiden hielt gute zehn Jahre, aber sie hatten bis zu Wells› Tod im August 1946 ein gutes Verhältnis zueinander. West soll wohl auch ein Verhältnis mit Charlie Chaplin gehabt haben. Sie arbeitete als Schriftstellerin; George Bernard Shaw sagte einmal, dass wohl niemand so gut und so rigoros mit einem Stift umgehen könne wie Rebecca West. Als Journalistin wurde sie mehrfach ausgezeichnet, Truman bezeichnete sie in einer Laudatio als die beste Reporterin der Welt. 1946 entsandte sie der New Yorker als Berichterstatterin zu den Nürnberger Prozessen, in den 60er Jahren berichtete sie aus Südafrika über Apartheid.

21. Literaturfestival Leukerbad: Sprachgewalt aus dem Osten – Kissina und Sorokin

Julia Kissina aus der Ukraine, lange Jahre in Moskau lebend, und die beiden grossen Russen Victor Jerofejew und Vladimir Sorokin: laute Stimmen aus dem Osten, opulent, der Zeit enthoben, verspielt und gleichsam kritisch, der russischen Seele den Spiegel vorhaltend.

Wo sich Schweizer Literatur allzu oft mit der persönlichen Befindlichkeit herumschlägt, schien diese zumindest bei diesen drei Gästen in Leukerbad kaum ernstzunehmendes Thema zu sein. Die russische Seele scheint weiträumiger zu sein, gewohnt, in weiten Dimensionen zu empfinden. Blicke sind viel mehr nach aussen gerichtet als nach innen gerichtet, über die Realität hinaus ins Surreale, die Sprache nicht bloss zum Skizzieren, um mögliche Realitäten entstehen zu lassen, sondern mit grellen Farben weit über die Grenzen hinausspritzend, nicht zögerlich, nicht vorsichtig und nicht zurückhaltend! Mit grossen Gesten, selbstbewusst, Raum einnehmend.

Kissina[1]Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den Achtzigern und Neunzigern zur neuen russischen Avantgarde zusammen mit Vladimir Sorokin. Julia Kissina schafft mit Literatur das, was kein Hollywoodfilm, keine Massenmusik, kein grelles Bild, kein gefälliges Theaterspektakel vermag. Sie evoziert Bilder, die sich mit ihrem Geschehen, in Kulissen, Farben und Gerüchen wie durch ein Kaleidoskop in meinem Kopf dauernd neu erfinden, ineinande42532[1]rgreifen, nicht wirklich fassbar. Ihre Geschichte flackert, gibt den einen Moment in aller Deutlichkeit preis, um ihn im nächsten Abschnitt zu kippen. Die Autorin ist mit einer Art des Wahrnehmens gesegnet, einem ganz besonderen Sensorium, das mir selbst und wohl den meisten Menschen verwehrt bleibt. Keine Ahnung, ob zu ihrem Segen! Aber wenn ich lese, was und wie sie schreibt, spüre und höre ich in mir, dass es Zwischentöne geben muss, von denen ich in meinem Alltag nicht einmal eine Ahnung habe.

Seit 1995, als von Vladimir Sorokin «Die Schlange» erschien, legt kaum ein russischer Autor so sehr seine Finger in die offenen Wunden der russischen Seele. Sorokin ist ein Thermometer des ruautor_1177[1]ssischen Befindens, das Buch trotz seines Geschehens in der Zukunft eine Antiutopie. Sorokins neuer Roman «Telluria» das Panorama einer dramatisch veränderten Welt, eine «Discokugel» aus 50 verschiedenen Spiegeln zusammengesetzt, 50 Bilder über grosse Träume, Alpträume, über den Kampf um Tellurianägel, eine Droge, die in den Scheitel getrieben, den Alltag und die Umwelt viel näher werden lassen.

Sorokin, ein Mann, der, während er spricht, oft nach Worten zu suchen scheint, Atem schöpft, um einen kurzen Moment nachzudenken, beinahe unsicher, der Kultautor aus Russland. Wenn dann aber seine Begleiterin übersetzt, was er 9783462048117[1]sagt, staune ich über die Klarheit, die Deutlichkeit seiner Worte; wenig, wie in Stein gehauen. Sorokin erschafft einen eigenen, phantastischen Kosmos, der phasenweise mehr an Computerspiele und die Bilder von Hyronimus Bosch erinnert, als an die russisch reale Gegenwart. Ein Text mit 50 Augen, einem grossen Fazettenauge, das versucht, die Welt neu und anders zu sehen. Es braucht Mut, den Roman zu lesen.

Julia Kissina «Elephantinas Moskauer Jahre», Suhrkamp (Video zum Buch)
Vladimir Sorokin «Telluria», Kiepenheuer & Witsch

21. Literaturfestival Leukerbad 2016: Urs Mannhart, der stille Beobachter

Trotz der Sonne sitzt Urs Mannhart zusammen mit Daniel Puntas Bernet in der halbdunklen Hotelbar «les sources des alpes». Bernet ist Chefredakteur der Zeitschrift «Reportagen», in dessen neuster Ausgabe Urs Mannhart eine Reportage veröffentlichte mit dem Titel «Verloren in Chongqing – lost in translation: Ein Reporter verliert sich in Chongqing, der grössten Stadt der Welt».

Urs Mannhart ist ein «Mann des 19. Jahrhunderts», zu Fuss, mit Zug und Fahrrad unterwegs, mit einem Stift in Notizbücher schreibend, kritzelnd, ein Langsamreisender, ein Genauhinschauer, Schriftsteller und Reporter zugleich, weil die wirklich interessanten Dinge mit «Unfällen» zu tun haben. Nach einer überteuerten Offerte bei seinem Zahnarzt vor vielen Jahren, war es eine mannhart[1]Reise nach Ungarn, die neben einem dort zurückgelassenen Weisheitszahn so doch die erste Reportage mit sich brachte. In einer anderen Reportage war er ursprünglich auf der «Suche nach der Herkunft des Erdgases aus seiner Heizung, die kalt geblieben war». Herausgekommen ist der Report einer Reise ganz in den Norden Russlands, in ein kleines Dorf, dessen Geheimnisse nur durch geduldiges Beobachten zu ergründen waren. Ein «Ahnungsloser» unterwegs, gerne ein unsichtbarer Gast, der viel lieber vergessen geht. Gerade deshalb braucht es für seine Reportagen mehr als ein paar kurze Tage, sondern ein paar Wochen, um beim Beobachteten vergessen zu gehen.

In nicht allzu ferner Zukunft wird ein neuer Roman von Urs Mannhart erscheinen, ein Buch, das den Arbeitstitel «Rapacitanium» trägt, ein Metall, eine «seltene Erde», das ausgerechnet in den Tiefen des auslaufenden Thunersees gefunden wird.  Eine Geschichte, die in naher Zukunft spielen wird, von einem Mann, der seit vielen Jahren in Chinas Ameisenhaufen lebend in die zurückgebliebene Schweiz «heimkehrt». Ich bin mehr als gespannt, freue mich!

Wer seinen letzten Roman «Bergsteigen im Flachland» noch nicht gelesen hat, sollte dies nun, wo der Text längst von allen Plagiatsvorwürfen reingewaschen wurde, unbedingt nachholen. Ein Roman, von dem mit Recht behauptet wird, er wäre einer der besten, der in den vergangenen Jahren in der Schweiz geschrieben wurde. Der Roman birgt alles, um lange und hell zu leuchten. Und wenn es auch schon eine Weile her ist seit seinem Erscheinen 2014, trifft dieser Roman durch Aktualität, Brisanz und unverblümter Offenheit. So entsteht bei der Lektüre nicht nur Begeisterung, sondern ebenso grosses Erstaunen. Da schrieb jemand tief betroffen von der Ungerechtigkeit, ohne platt und plakativ zu werden, mit erstaunlich viel Hintergrundwissen, so fundiert und bestechend, sec_mannhart_bergsteigen_big[1]dass ich als Leser dauernd nachfragen möchte, wie genau das Erzählte die Wahrheit trifft. Urs Mannhart erzählt vom Reporter Thomas Steinhövel, der als Berichterstatter die Orte bereist, in denen Geschichte geschrieben wird und dabei immer mehr zum ‹Bergsteiger im Flachland› wird, in einer Zeitungswelt, die dem Internet immer näher ist als der Realität. Urs Mannhart erzählt von den Schlachten unserer Zeit, den Menschen und dem Verschwinden einer Welt im Balkan, dem Leiden in den Erdbeerplantagen Spaniens, der Suche nach Gerechtigkeit in den Büros des Den Haager Gerichtshofs. Ein starker Roman, ein Denkmal für Thomas Brunnsteiner, jenen Reporter, der Urs Mannharts Roman mit unsinnigen Plagiatsvorwürfen für Monate blockierte. Ein finanzielles Desaster für Autor und Verlag.

Mannhart, geboren 1975, der als Velokurier, Nachtwächter und Journalist gearbeitet hat, gehört mit Christoph Simon und Lorenz Langenegger zu den Mitgliedern der Literaturgruppe «dieAutören». Im Bilgerverlag erschien 2004 der Roman «Luchs» und 2006 «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola». Als Reporter berichtet Urs Mannhart aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weissrussland, der Ukraine und zuletzt aus China.

vs_literaturfestival_over

literaturblatt.ch fragt, Teil 2, Christine Fischer antwortet.

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was willst du mit deinem Schreiben? Ganz ehrlich!
Literarisches Schreiben ist mein unermüdlicher Versuch, meine Sichtweise der Welt (öffentlich) darzustellen. Um dem vertrackten Leben, dem Lebenssinn nachzuspüren. Meinem aktuellen «Stand der Erkenntnis» näher zu kommen, ihn zu umkreisen, im glücklichsten Fall ein paar Sätze lang zu erfassen – um ihn sogleich wieder zu verlieren ans Ungefähre.

Wo und wann liegen in deinem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen du dich fürchtest?
Der schönste Moment ist, wenn unvermittelt ein Satz auf dem Papier, auf der Bildfläche steht, der aus einem Inneren aufgestiegen ist, als wäre es ein Äusseres und als wäre er von jemand anderem formuliert worden, etwas ausdrückend, das einem neu ist und gleichzeitig vom Ureigentlichen spricht.
Der schwierigste Moment ist, wenn die vermeintlich tolle Anlage des Textes sich als untauglich erweist.

Lässt du dich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Während des Schreibprozesses spielt alles eine Rolle. Es ist eine Zeit der intensivierten Wahrnehmung, in der Gehörtes, Beobachtetes, Geträumtes, Gedachtes, Gelesenes blitzartig Bedeutung bekommen kann und möglicherweise Eingang in den Text findet. Das ist schön, aber im Fall von intensiven Leseerlebnissen auch gefährlich, da es den Ton des eigenen Schreibens zu stark beeinflussen kann.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Texte sind naturgemäss erst einmal «Verstandesdinge». Sie werden – da Sprachmaterial – mit dem Verstand aufgenommen und aufgeschlüsselt, auf ihre Form, auf ihren Inhalt überprüft, mit eigenem Wissen, eigenen Erfahrungsschätzen abgeglichen. Deshalb werden von Schreibenden immer wieder ganz direkte politische, gesellschaftliche, kulturelle, philosophische Stellungnahmen gefordert. Die Schreibenden, welche ihre Stimme in diesem Sinne einsetzen, tragen meines Erachtens eine erhöhte Verantwortung, weil ihr Medium 1:1 verstanden werden kann, also ganz unmittelbar produziert und rezipiert werden kann. Sprache kann gewaltig wirken, mächtig sein, im Guten wie im Schlechten. Wichtig ist meines Erachtens die Debatte, die mehrdimensionale Sichtweise. Manchmal auch die Provokation.

Inwiefern schärft dein Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Ich glaube, mehr als das Schreiben schärft das Lesen, schärfen überhaupt kulturelle Aktivitäten verschiedenster Art, die eigene Sichtweise. Das Schreiben ist für mich eher der Ausdruck eines vorangegangenen Bewusstseinsprozesses, der unter Umständen bereits jahrelang, lebenslang gelaufen ist.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Schreiben als Akt ist eine (köstlich) einsame Sache – der Ort muss es nicht sein. Das I-Pad ist für mich das geeignetste Instrument, um einen geschützten Schreibort herzustellen, wo immer es auch sei. Ähnliches gilt für das winzige Notizbüchlein.

Gibt es für dich Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Mein Schreiben ist ganz natürlich begrenzt durch meine Kompetenz als Schreibende. Ich kann mit Gewinn nur das leisten, was mir durch meine Begabung zu leisten möglich ist. Natürlich teste ich immer wieder Grenzen aus, um auf neues zu stossen. Oft weiss man erst, wenn man etwas geschrieben – und möglicherweise dem Öffentlichkeitstest unterzogen hat – ob ein Text, ein Genre für einen taugt oder nicht, ob man die eigenen Grenzen glücklich oder beschämend ausgereizt hat. Anstelle von Selbstzensur würde ich die Wichtigkeit von Selbstkritik setzen. Ausprobieren ja, unbedingt – und dann mit kritischem Geist beurteilen oder beurteilen lassen. Das Einhalten ethischer Grenzen ist für mich unabdingbar.

Erzähl kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den du vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Mit grossem Gewinn habe ich gelesen «H ist für Habicht» der englischen Autorin Helen MacDonald. Es handelt sich um eine faszinierende Mischung zwischen Belletristik und Sachbuch, ebenso sachlich wie poetisch, wild wie gezähmt, kulturgeschichtlich und zutiefst subjektiv, intelligent und intuitiv. Es erzählt vom Trauerprozess einer Tochter um ihren Vater, wie er wohl noch nie gelebt und beschrieben worden ist.

Zählst du 3 Bücher auf, die dich prägten, die du vielleicht mehr als einmal gelesen hast und in deinen Regalen einen besonderen Platz haben?
Als Kind: «Rösslein Hü». Ich weiss nicht, wie viele Male ich es gelesen habe. In der Kantonsschule: «Warten auf Godot» von Samuel Beckett. In den 90er Jahren: «Kapitän Nemos Bibliothek» von Per Olov Enquist. Um nur drei von unzähligen Rosinen rauszupicken.

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wärst du nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich deine Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob du weiter schreiben willst?
Ich war 40, als mein erstes Buch publiziert wurde. Ich hatte also die Alternative vorher gewählt: Logopädie. Nicht nur als Broterwerb, sondern als tolle Herausforderung, mit Sprache auf eine andere Art Umgang zu pflegen. Seit ich schreiben gelernt hatte, habe ich nie mehr damit aufgehört. Als dann aber 1981 in der Literaturzeitschrift «NOISMA» mein erstes Gedicht in gedruckter Form erschien, gab mir dies einen ungeheuren Auftrieb.

Was tust Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die dir nicht gefallen?Teilweise schenke ich sie weiter, teilweise wandern sie in die Frauenbibliothek «Wyborada», ins Antiquariat oder ins Brockenhaus. Zerlesene Bücher wandern ins Altpapier.

Liebe Christine, vielen Dank!

Fischer_Christine_RGBChristine Fischer, 1952 in Triengen LU geboren, studierte Logopädie am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Sie wohnt in St. Gallen und ist als Sprachtherapeutin tätig. Veröffentlichung der Bücher «Eisland» (1992), «Lange Zeit» (1994), «Augenstille» (1999), «Solo für vier Stimmen» (2003), «Von Wind und Wellen, Haut und Haar» (2004), «Vögel, die mit Wolken reisen» (2005) und «Nachruf auf eine Insel» (2009). Ausgezeichnet mit verschiedenen Förder- und Werkpreisen. Webseite der Autorin

A858827197_image001[1]In ihrem neusten Roman «Lebzeiten» stehen Lore und Karl kurz vor der Pensionierung. Da diagnostiziert der Arzt eine Erkrankung, die Lore «Kopfgeschehen» nennt. Allmählich wird sie ihr Gedächtnis und die Sprache verlieren. Lore beginnt zu schreiben. Kein Tagebuch, sondern einen Brief an das Leben. Sie erzählt vom veränderten Zusammenleben mit Karl, von ihrer Arbeit als Kindergärtnerin, die nun gefährdet ist. Sie beschwört eine rätselhafte Libbe herauf und die Jahre mit ihrer besten Freundin Eileen, die Lore und Karl ihren kleinen Sohn anvertraut hat: Oliver. Doch Oliver ist inzwischen erwachsen und stellt seine Adoptiveltern auf eine harte Probe. Die Krankheit schreitet fort, verändert Lores Sprache. Doch Lore gibt nicht auf. Auch als ihr die Wörter mehr und mehr entgleiten, hält sie die Zwiesprache mit dem Leben aufrecht und öffnet sich neuen Erfahrungen.

Das war der 2. Teil einer kleinen Reihe. Am 1. August antwortet Klaus Modick. Seien Sie wieder dabei!

Leukerbad ist tot – es lebe das Literaturfestival Leukerbad!

Das 21. Literaturfestival Leukerbad ist Geschichte. 33 Autorinnen und Autoren aus über einem Dutzend Länder, lasen und diskutierten in 58 Veranstaltungen vor einem immer grösser werdenden Publikum. Einem Publikum, das voll auf seine Kosten kam und sich durch die Nähe zu den Akteuren begeistern liess.

«Das Ziel des Schreibens ist das Verschwinden.» Adolf Muschg

Dieses Jahr standen Reportagen und Essays im Brennpunkt. Die Frage «Was bedeutet die essayistische Freiheit in der persönlichen Auseinandersetzung mit einem Thema?» diskutierten Autoren in Gesprächen, Lukas Barfuss mit dem amerikanischen Essayisten Eliot Weinberger, Jonas Lüscher mit dem ägyptischen Schriftsteller Youssef Rakha, der sich in einem Essay auf die Suche nach dem aktuellen arabischen Sexleben – vor der Kamera, hinter dem Schleier, in den Privathäusern und im Internet machte. Er zeigt auf, dass Freiheit und sexuelle Freiheit Hand in Hand gehen und dass die Forderungen des arabischen Frühlings allumfassend und nach wie vor aktuell sind. Und Adolf Muschg mit dem deutschen Literaturwissenschaftler und Philosophen Jan Philipp Reemtsma, dessen Erfahrungsbericht «Im Keller» vor 20 Jahren geschrieben über seine 33 Tage dauernde Gefangenschaft und seine traumatischen Erfahrungen mit Allmacht und Ohnmacht unauslöschlich in meinem Gedächtnis blieb.

«Ein Roman ist ein Gemälde, über das ich weniger Gewalt habe, als das ich gerne hätte.» Adolf Muschg

Aber es waren auch die Begegnungen mit grossen Namen: Adonis, den grossen Dichter der arabischen Avantgarde, Viktor Jerofejew und Vladimir Sorokin, zwei provokante Kritiker Russlands, Jérôme Ferrari aus Frankreich, der 2012 mit dem bekanntesten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Aber auch «kleinere» Namen wie Perdo Lenz, der Mundart vom Fensten bot, Anita Siegfried, die vom verrückten Plan eines Kanals über die Alpen erzählte oder Sabine Gruber, die Südtirolerin, die uns Zuhörer mit der Buchpremière ihres neuen Romans «Daldossi oder das Leben des Augenblicks» über die Innenseite eines erfolgreichen Krisen- und Kriegsfotographen beschenkte. Die Liste wäre noch viel länger – beeindruckend lange, auch wenn vielversprechende Begegnungen wegen Krankheit der Akteure abgesagt werden mussten.

«Schreiben ist Evolution. Aber nicht wie bei Darwin. Es überlebt nicht der Stärkere, sondern das das Zarteste, das am meisten Zuwendung braucht.» Adolf Muschg

DSCN1317So deplatziert und morbid mir der Ort Leukerbad mit jedem Jahr sauer aufschlägt, mit seiner Anhäufung von leerem Raum, Plastiktischtüchern, russisch sprechendem Personal und Einmannmusikunterhaltung unter meinem Hotelzimmer, so beeindruckend war die Gewalt der Bergkulisse und die der Sprache. Schon erstaunlich, was Hans Ruprecht und Anna Kulp, die Leiter des Festivals, in Leukerbad zu konzentrieren vermögen – und ganz offensichtlich nicht nur zur Freude des angereisten Publikums. Ich freue mich schon jetzt auf den kommenden Literaturhochsommer 2017 in Leukerbad.

«Schreiben beginnt mit Staunen.» Adolf Muschg

Weiter auf diesem Blog folgen Berichte über Urs Mannhart und seine seltene Erde «Papacitanium» und die beiden literarischen Schwergewichte Julia Kissina und Vladimir Sorokin.

20160703_121834Radio Rotten Kurzinterview

Literaturzirkel im Juli: «Der erste Tag vom Rest meines Lebens»

Seit Jahrzehnten treffen wir uns zehn mal im Jahr, manchmal im Gasthaus, manchmal bei jemandem zuhause und reden über ein gemeinsam gelesenes Buch. Einziges «Gesetz»: Niemand hat das Buch schon gelesen, für alle ist es «Neuland». Ein Risiko, denn es sind nicht immer Perlen, an die man so gerät. Diesmal war es «Der erste Tag vom Rest meines Lebens» von Lorenzo Marone, keine Perle, aber doch ein süsses Früchtchen.

Das Buch, das in Italien zum Bestseller wurde, heisst im Original «La tentazione di essere felici», was den Nerv des Buches viel eher trifft, als das Versprechen, das mit dem deutschen Titel im Buch nicht eingelöst wird. «Die Versuchung, glücklich zu sein», die wörtliche Übersetzung des Originaltitels allerdings wäre auch kein Titel eines Buches, das ins Auge gestochen wäre. Lorenzo Marones Buch ist Lesefutter für Ferien auf Badetüchern. Ein Buch, das man auch in leicht schläfrigem Zustand lesen kann, süffig, voll mit Klischees.
Cesare ist 77, allein in seiner Wohnung, auf Distanz zu seinen beiden Kindern, zieht Bilanz, schaut zurück, ist entschlossen, dem Rest seiner Tage die Stirne zu bieten. Obwohl viel vorgenommen, ist aus seinen grossen Lebensplänen nicht viel geworden, selbst der Draht zu den Kindern ging verloren. Seine Frau ist seit Jahren tot, der Gang zu Rossana, deren Beischlaf er bezahlt, zur Routine geworden. Von seinen einst hochfliegenden Träumen ist wenig aufgegangen. Seine Methode, mit den Enttäuschungen des Lebens umzugehen: Ironie und Sarkasmus. Das kommt bei seinen Mitmenschen nicht immer gut an, weder bei seiner Tochter, aus der eine Anwältin geworden ist, noch bei seinem Sohn, der sich ein ganzes Leben nicht traute, ehrlich zu sein. Bis die hübsche Emma in die Nachbarwohnung zieht und sich schnell zeigt, dass irgendetwas nicht stimmt mit ihr und ihrem Mann. Cesare geht noch einmal in die Offensive, mischt sich nicht nur ins Leben und die Ehe seiner misshandelten Nachbarin ein, sondern mischt das ganze Haus auf.
Um einen Mann zu beschreiben, der auf der Zielgeraden nicht einfach bloss ausrollen will, wäre weniger mehr gewesen. Ich las das Buch gerne und mit Vergnügen, aber die Grenze zum Kitsch wurde zu oft überschritten, die Dichte an Klischees eindeutig überreizt; die Katzenfrau in der Nachbarschaft, der verlorene Sohn, die Wiederversöhnung in der Familie, die Wucht der Alten, Rossana, die vom Beikraut zur Blume wird… Dabei beginnt der Roman mit einem Paukenschlag: «Mein Sohn ist schwul.» Der erste Satz. Cesare ahnt es nur, liegt seiner Tochter mit Vermutungen in den Ohren, bis die verschwiegene Wahrheit mit anderen Wahrheiten wie eine Lawine über den alten Mann einbricht. Da wäre Stoff gewesen. Erst recht vor der Kulisse des römisch katholischen Italiens. Gerettet hat das Buch, dass Lorenzo Marone der Geschichte jenen Schluss gab, den es braucht, auch wenn die Grenze des Wohlgefallens wieder arg strapaziert wurde.
Fazit: Es ist wie mit Wein. Ich liebe es, wenn der kleine Schluck jeden Nerv in meinem Gaumen zu kitzeln vermag. Aber manchmal tut es auch ein leichter, leicht süsslicher Rosé.

145442842-25183ea6-dcca-4189-8916-32759949921a[1]Lorenzo Marone, geboren 1974 in Neapel, arbeitete fast zehn Jahre lang als Anwalt in seiner Heimatstadt, bis er sich ein Herz fasste, den ungeliebten Beruf an den Nagel hängte und sich seiner wahren Leidenschaft widmete: dem Schreiben. Sein erster Roman eroberte die Herzen der italienischen Leser im Sturm und erntete begeisterte Rezensionen.

IMG_0677

Das nächste Buch, dass wir lesen, ist «Wir brauchen neue Namen» von NoViolet Bulawayo. Die afrikanische Autorin «beschwört die Abenteuer eines Mädchens an einem unwirtlichen Ort Afrikas, verleiht ihrer Heldin dabei eine einzigartige Stimme, die trotz allem beharrlich Lust am Leben versprüht. Und am Ende steht eine Geschichte, deren Reizen man sich nicht entziehen kann – saftig und bittersüß, genau wie Darlings geliebte Guaven.»

 

Markus Werner bleibt!

Markus Werner ist tot. Ein ganz aussergewöhnlicher Schriftsteller. Markus Werner wurde 71 und veröffentlichte 7 Romane, zuletzt «Am Hang». Erst vor wenigen Tagen wurde ihm der ProLitteris Hauptpreis «für herausragende Leistungen im Bereich Literatur» verliehen.

Auszug aus der Jury-Begründung für die Wahl von Markus Werner: «Zum ersten Mal von sich hören machte Markus Werner mit seinem Erstling «Zündels 178595.131024_werner[1]Abgang». Mit vierzig Jahren war er kein früh Vollendeter, dafür schien er aber schon mit seinem ersten Werk angelangt zu sein und hatte einen unverwechselbaren Stil. Obwohl seine Sprache einfach zu lesen ist, ist sie hochpräzise gearbeitet, elegant und differenziert, reich und virtuos ohne jemals selbstgefällig zu sein. In den zwanzig folgenden Jahren veröffentlichte Markus Werner sechs weitere Romane von «Froschnacht» über «Die kalte Schulter» bis zu „Am Hang», dem letzten Roman, der 2004 als erster im S. Fischer Verlag erschien und ihm, nachdem er viele Jahre lang als Geheimtipp gehandelt wurde, zu einem späten Durchbruch verhalf.»

1991, einige Jahre nachdem Markus Werners zweiter Roman «Froschnacht» herausgekommen war, fragte ich ihn brieflich an, ob er für eine Gesprächsrunde zu haben wäre, ob er Lust hätte, im kleinen Kreis über seinen Roman zu diskutieren. Das Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Antwortschreiben, in dem Markus Werner erklärte: «…Leider ist es so, dass ich höchst ungern über meine Bücher spreche. Ich wäre Ihnen und Ihrem Kreis also mit Sicherheit ein einsilbiger und unergiebiger Gesprächspartner. Auch bin ich zur Zeit so sehr mit Neuem befasst, dass mir das Aufwärmen des Alten hinderlich scheint…»
Ein paar Jahre nach diesem kurzen Briefwechsel hörte ich Markus Werner zum ersten Mal an einer Lesung in Winterthur. Er sass auf einem schwarzen Stuhl hinter einem kleinen Bistrotischchen, die Beine übereinander und gab alles, denn es war offensichtlich, dass ihn nicht die Freude am Publikum oder die Lust am Vorlesen dazu trieb, auf dieser Bühne zu sitzen und sich all den Lauschern und Blicken auszusetzen. Wäre es ihm geglückt, hätte er sich hinter dem einbeinigen Tischchen versteckt. Mir aber blieb die Sympathie für diesen Mann, dessen Stimme eben nur niedergeschrieben zur Entfaltung kommt. Ein Mann, der Sätze klingen lässt, unermüdlich schliff und formte. Nun ist er wirklich verschwunden.

Wer ins Werk des Autors einsteigen will, kann vom S. Fischer-Verlag eine schöne Ausgabe seines 2007 erschienen Romans «Am Hang» erstehen:
Der junge Anwalt Clarin freut sich auf ein ungestörtes Pfingstwochenende in seinem Tessiner Ferienhaus, wo er einen Aufsatz für eine Fachzeitschrift schreiben möchte. Am ersten Abend lernt er auf der Terrasse des Hotels einen älteren Mann kennen, einen scheinbar Verwirrten, einen Verrückten vielleicht. Sie reden und debattieren bis tief in die Nacht, und allmählich erzählen siu1_978-3-596-16467-7e sich auch ihre Geschichten und Liebesgeschichten. Was als stockendes Gespräch zwischen Zufallsbekannten begonnen hat, entwickelt eine fiebrige, beklemmende Dynamik, der sich weder Clarin noch der Leser entziehen kann. Es sind zweifelhafte Umstände, unter denen Loos seine geliebte, fast vergötterte Frau verloren hat, und dieser Verlust scheint ihm die Welt schwer und verhasst zu machen. Clarin hingegen lebt leicht und gern. – Ferner könnten zwei Menschen einander nicht sein. Wie nah sie sich sind, stellt sich erst spät heraus.
Markus Werners zuletzt bei S. Fischer erschienen Roman «Am Hang» wurde 2013 vom Schweizer Markus Imboden mit Martina Gedeck verfilmt!

Lieber Markus Werner, du bleibst.

«Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns.»

«Tassos Foto, es steht auf dem Bücherregal, erinnerte mich an seinen Füllfederhalter, den ich von Magdalena als Andenken bekommen hatte. Natürlich, dachte ich und holte ihn samt Tintenfässchen aus der untersten Schreibtischschublade hervor. Er roch ein wenig so, wie meine Grossmutter gelegentlich gerochen hatte, ich glaube, nach Kampfer. Ich reinigte die Innenseite und das Reservoir mit Wasser, und dann zog ich die alte, blaue Tinte auf. Als ich zu schreiben begann, nahm er sehr rasch die Temperatur meiner Hand an.»

Das Ende seines letzten Romans «Am Hang»
Markus Werner 1944 – 2016

(Morgen eine Verneigung! Die Zeichnung ist von Lea Frei.)

Judith Hermann «Lettipark», S. Fischer

Judith Hermanns neustes Buch «Lettipark» ist kein einem Roman nachgeschobener Erzählband, der im Schweif seines Vorgängers den Weg zu den Kassen finden soll. 17 Erzählungen, darunter Meisterwerke, gläserne Texte mit grösstmöglichem Deutungsspielraum. Geschichten vom Entschwinden, vom Verlust, keine fest eingerahmten und eingegrenzten Geschichten, sondern Szenen am offenen Herzen, der Zukunft ungewiss.

Nicht das Spektakuläre reizt Judith Hermann zu schreiben, aber Bilder aus Vergangenheiten und Gegenwart, die sich bei ihr einbrannten.
Vom kleinen Vincent, dessen Mutter im Winter zuvor gestorben war und er wie ein Grosser mit seiner kleinen Schubkarre Kohle in den Keller schippen will.
Von Freundinnen von einst, die sich auf einer Party begegnen, zwei, die einst gemeinsam in einer Studentenwohnung lebten, jetzt in fremden Welten voneinander getrennt, die eine als Fotografin Subjekt, die andere als Schauspielerin Objekt.
Von der Tochter, die ihren Messi-Vater besucht und beim Abschied das Gefühl vom allerletzten Küchenstück und gar nie wirklich einen Vater besessen zu haben mitnimmt.

u1_978-3-10-403716-5Judith Hermann beschreibt keine Verletzungen, aber die Narben, die sie alle mit sich herumtragen, die Male, Mutter- und Vatermale, Freundschafts- und Liebesmale, die nichts vergessen lassen. Und sie beschreibt sie mit Sätzen, die kurz und messerscharf sind, manchmal in ihrer Repetition wie Faustschläge auf blaue Flecken. «Er will es so. Genau so und nicht anders. Er will auf seinem gepackten Koffer inmitten einer Szenerie aus zusammenhangslosem Chaos sitzen, auf einem Trümmerhaufen, dann kann er sich den Anforderungen des Lebens halbwegs stellen.» Vielleicht einer der Schlüsselsätze im Buch. Einer jener Sätze so deutlich und klar in Geschichten, die ausufern, nicht in ihrer Erzähllänge, aber in der Potenz, die sie mit sich tragen.

Von zwei Paaren, die sich zum Essen in der Stadt treffen, vom Mond beschienen, jenem Ort, wo Neil Armstrong, den der eine Mann einmal getroffen zu haben behauptet, einen Teil des Astronauten zurückbehalten habe, so wie jeder Teile von sich zurücklässt, Teile, die unerreichbar verloren sind. Geschichten von Menschen, die wie gefaltete Papierflieger für Sekunden glauben, die Schwerkraft überwunden zu haben. Ein Buch über das Abhandenkommen von Nähe, das Verschwinden von Liebe, wenn nur noch die Hülle von Leere aufgeblasen zurück bleibt.

Judith Hermann geriet mit ihrem letzten Roman «Aller Liebe Anfang» übermässig in tadelnde Kritik, mit einem Roman, der mich beeindruckte. Mit diesem Erzählband straft sie jene mächtig, die ihr dumpf vorwarfen, sie könne nicht schreiben und habe nichts zu sagen. Unbedingt lesen!

AF_Hermann_Judith__562_Druck.jpg.43391514-1Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. «Alice» (2009), fünf Erzählungen, wurde international gefeiert. Zuletzt erschien der Roman «Aller Liebe Anfang». Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.