Monika Maron «Krähengekrächz», S. Fischer

«Inzwischen sehe ich den Menschen als Sonderfall der grossen Tierfamilie und kann mich nicht einmal entscheiden, ob die menschliche Besonderheit eher ein Glück oder ein Unglück ist.»

Durch die Arbeit an einem Roman macht sich Monika Maron daran, der Krähe näherzukommen, dem Tier, dem der Mensch mit einer ganz speziellen Mischung aus Faszination und Aberglaube gegenübertritt. Wie kein anderes Tier war der Rabe Orakel, Götterbote, Gott und Weltenschöpfer, Begleiter des Bösen, Inbegriff dafür, wie sehr sich der Mensch in seiner Unkenntnis mit Angst zu schützen versucht. Aber je näher sich die Autorin mit dem Wesen der Tiere vertraut macht, ihre Nähe sucht, umso mehr spricht Achtung aus ihrem Text, wie stets, wenn Erkenntnis die Beobachtung krönt. So auch, wenn sich die Autorin jener mehr als zwielichtigen Furcht vor einem Tier nähert, die den Menschen selber entblösst: «Ich sehe den Krähen zu, wie sie friedlich aufpicken, was ich ihnen hinwerfe, sich manchmal auch streiten und einander verjagen, und denke, dass sie einem klügeren Gesetz folgen als wir. Wenn wir unmenschlich sagen, meinen wir das Tierhafte, als wären nicht wir die Mörder, Krieger und Folterer. Das Böse ist menschlich. Nicht das Tier in uns mordet, es ist der Mensch.»
In dem schmalen Büchlein, mit dem man sich an einem Abend vertiefen kann, ohne dass der schwarze Vogel einem in den Schlaf begleitet, schildert die Autorin den Weg zu einem Tier, dessen Augen einem nicht betören und kein Fell zum Kraulen lockt, dass den Menschen aber ganz offensichtlich nicht in Ruhe lässt, in einer Gegenwart, in der man Krähen noch immer abschiesst und gleichzeitig ebenso viel Scharfsinn zuspricht wie den Primaten.

«Vielleicht liegt es am Alter, am allmählichen Verfall und dem nahenden Sterben, das mich das Tier im Menschen so deutlich erkennen lässt.»
Leale 2Und wer noch mehr über Krähen lesen will:
Von Cord Riechelmann «Krähen», Matthes & Seitz, Naturkunden

Literatur im Bienenhaus

So schön kann ein Gespräch über Literatur werden! An einem lauschigen Sommerabend in einem ehemaligen Bienenhäuschen mitten in den sanften Hügeln des Thurgaus, auch wenn das Gespräch über ein Buch zuweilen etwas schärfer werden kann. Meinungen über Qualitäten können weit auseinander driften!2016-05-28-PHOTO-00000153

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Wer aber auch einmal ein paar Stunden an diesem überaus friedlichen Ort verbringen möchte, werfe einen Blick auf die Webseite der Familie Langenegger, die diesen paradiesischen Ort bewirtschaftet.

Ein Rückblick in 3 Teilen: Sonntag, Teil 3

Vor einem Jahr an den 37. Literaturtagen in Solothurn wurde einer meiner Literaturzirkel zu «Lesezirkel zu Gast» eingeladen. Zusammen mit Martin R. Dean sprachen wir im Palais Besenval über sein Buch «Verbeugung vor Spiesa_palais_lesezirkel_martindean-1_10x15_lightboxgeln». Eine denkwürdige Veranstaltung, ein Gefäss aber, dass trotz Bedauern keinen Platz mehr im neuen Programm fand. Obwohl ich Lesungen schätze, verraten Gespräche viel mehr, sowohl über das Buch wie über Autorinnen und Autoren, erst recht dann, wenn die Beteiligten zur Konfrontation bereit sind.

Im Programm stand; ‹Lukas Bärfuss SRF Live Sendung 52 Beste Bücher›. Aber weil der Wallstein Verlag mich mit Lukas Bärfuss neustem Buch «Hagard» auf  «Später» vertrösten musste, liess ich mich gerne von Charles Lewinsky verführen. Charles Lewinsky ist zwar kein Enfant terrible der Schweizer Literatur, aber wie in der Cantino del vino bewiesen durchaus bissig.

Charles Lewinsky lernte sein Schreiben durchs Schreiben. Er mache keinen Unterschied zwischen E und U, ernster und unterhaltender Literatur. Ein Text müsse bloss gut geschrieben sein, seine ganz eigene Form gefunden haben. Lewinsky mag es nicht, wenn Bücher «schwitzen», wenn man ihnen anmerkt, wie schwierig es sein muss, über schwierige Themen zu schreiben. Und seine Geschichte ist «schwierig». Charles Lewinskys neuster Roman «Andersen» Lewinsky_IchbinAndersen_P06DEF.indderzählt die Geschichte eines Folterchefs, dem die Fähigkeit zur Empathie gänzlich fehlt. Ein Fehlen, dass diesen zum Meister macht. Andersen ist Geburtshelfer der Wahrheit, weil die Wahrheit stets Last ist, die man mit sich herumträgt und doch viel lieber los sein will. Es sei viel interessanter, eine Figur zu erfinden, die weit von ihm entfernt sei. Der Roman wurde zu einer Versuchsanordnung mit der Frage: Wenn es frühere Leben gibt, was wäre, wenn man sich an sie erinnern würde? Das Böse aus der Geisterbahnperspektive ist interessanter als das Gute. (Der verschmitzt, verschwörerische Blick zu seiner Frau, während der Schauspieler Michael Neuenschwander Passagen aus seinem Roman liest.) Lewinsky spielt mit Bildern, mit dem Schauer des Bösen. «Ganz im Gegensatz zu allen anderen Büchern, die ich schrieb, war die  Figur dieses Romans mit einem Mal da und zwang mich zu schreiben. Und mit dem Schreiben entwickelte sich die Geschichte, die keine Botschaft haben muss, beim Leser aber etwas auslösen soll. Was, das kann ich nicht bestimmen, nur hoffen, das es passiert.»
Eine Live Sendung – ein spannendes Gefäss. Ein reibendes Gespräch mit Charles Lewinsky, der der Bücher- und Radiofrau Luzia Stettler unter allen Umständen das Gesprächsruder entreissen will, um nicht zu viel von der Geschichte zu verraten. Für mich als Zuhörer Hochgenuss. (Zur Sendung)

Fazit der Literaturtage in Solothurn: Literatur im besten Licht, nicht nur wegen der Wetterlage. Ganz langsam verabschiedet sich der Traditionsanlass von seinem etwas antiquierten Äusseren.  Noch mehr Mut täte gut. Das Lifting bewirkte einiges, wenn auch die eine oder andere Moderatorin sich in ihrem Erscheinen davon zu distanzieren schien. Solothurn war eine gute Mischung zwischen Festival der jungen Frauen und Huldigung grosser Namen. Ich  freue mich auf die 39!

Hans-Ulrich Treichel «Tagesanbruch», Suhrkamp

«Wir haben es beide gespürt und nie darüber gesprochen. Weder damals noch später. Man kann nicht alles aussprechen. Es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten.»

Die Pietà – eine Mutter hält ihren sterbenden oder toten Sohn in ihren Armen, Sinnbild dafür, dass Muttersein auch mit dem Tod von Töchtern und Söhnen nicht endet. Die latente Angst und Sorge aller Eltern, dass die Nachgeborenen zuerst sterben könnten. Die Mutter entlässt ihren toten Sohn aus ihren Armen, bettet ihn in seinem Zimmer, das er krank geworden wieder zu dem seinigen machte. Die Mutter entlässt aber nicht nur ihren Sohn, sondern mit ihm eine Geschichte und den letzten Rest Familie, jene Geschichte, über die man nicht spricht, nicht mit dem Mann, schon gar nicht mit dem Sohn. Während die Mutter neben ihrem toten Sohn auf den Morgen wartet, schreibt sie auf, was nie ausgesprochen werden konnte, was sie über Jahrzehnte verborgen als Urschmerz mit sich herumtrug. Ihr Mann, als er noch lebte ein Versehrter ohne rechten Arm, der mit Hilfe seine Frau der Behinderung trotzte und sie, die ihre Versehrtheit aus dem grossen Krieg verschlossen mit sich herumtrug, sprachen niemals aus, was sie wohl zusammenschweisste aber füreinander verloren und fremd werden liess. Hans-Ulrich Treichels Erzählung sind Bilder aus dem Leben einer Frau, die mit einer ganzen Kette von «wäre» und «hätte» an ein unfreiwillig gelebtes Leben gebunden war. Da blickt eine Generation auf die nächste, eine Mutter auf das Leben ihres Sohnes, um festzustellen, dass sich die Welt unbemerkt weiterdrehte.
«Zwei Beschämte, die nicht mehr zueinanderfanden und auch durch das gemeinsame Kind nicht erlöst werden sollten, weil es vielleicht gar kein gemeinsames war.»

Treichel_Hans_Ulrich_2013sw187_c_HeikeSteinweg_SVHans-Ulrich Treichels Romane und Erzählungen beschäftigen sich alle unspektakulär mit Verlust und Verlorenheit. Nichts desto trotz sind sie ein Weckruf zur Offenheit, ein Mahnmal für Ehrlichkeit und Offenheit, genau jene Eigenschaften, die unsere Gesellschaft in Zukunft noch viel dringender brauchen wird.
Hans-Ulrich Treichel, 1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Seit 1995 ist Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt und erschienen fast alle bei Suhrkamp.

Ein Rückblick in 3 Teilen: Samstag, Teil 2

Mit Sicherheit lockte das Wetter, aber auch das Programm, dass mit grossen Namen warb. Einer kam nicht, der Norweger Tomas Espedal. «So einen wunderbar unaufgeregten Liebesroman wie Tomas Espedals Wider die Natur hat es noch nie gegeben», meinte Iris Radisch. Dafür verzauberten Judith Kuckart, Urs Jeggi, Adolf Muschg und Feridun Zaimoglu.

Judith Kuckarts aktuelles Buch «Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück» ist weniger ein Roman als ein Netz aus Geschichten, dass sich mit dem Lesen zu einem Ganzen zusammenfügt, vielleicht ein Episodenroman. Das Glück ist gläsern, nicht zu halten, das Buch witzig und luftig geschrieben, nie verkrampft um Literatur bemüht, scheinbar locker erzählt. Die Geschichten sind ganz nah am Leben, an hell ausgeleuchteten Schauplätzen. Beim Schreiben sei ihr stets ein Zitat von Max Frisch vor Augen: «Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung.» Silvester verbringt der achtzeh5105dWTh2EL._SX326_BO1,204,203,200_njährige Leonhard allein im Haus seiner Eltern. Am Neujahrsmorgen kommt das Leben dann einfach zu ihm: Eine fremde Frau schläft auf dem Boden in der Diele. In der nächsten Nacht schläft Leonhard mit ihr im Gästezimmer. Emilie und Maria hingegen, beide über siebzig, sind unternehmungslustig, wenn auch den Ereignissen auf ihrer Reise in ein tschechisches Kurhotel nicht mehr ganz gewachsen. War es wirklich ein Klavierlehrer, der sie dorthin fuhr, und hat er tatsächlich betrunken die Nacht im Bett zwischen den alten Damen verbracht?

Am Nachmittag grosse Bühne für einen Grossen der Schweizer Literatur. Im Stadttheater von Solothurn sprach der Schriftsteller Christoph Keller mit dem 85 jährigen Schriftsteller, bildenden Künstler und Soziologen Urs Jaeggi, der in Solothurn aufgewachsen heute in Berlin und Mexiko-Stadt lebt. Die grosse Erwartung im Saal. Schon Minuten vor Beginn des Gesprächs herrschte andächtiges Geflüster. Furios und wild, geschrieben wie von  einem jungen Mann; Erinnerungen, Erfahrungen, Einsichten aus einer aus den Fugen geratenen Welt. Urs Jaeggi kehrt zurück nach Solothurn und erzählt vom Fremdsein. Es sind Versuche, Ordnung in eine «Durcheinandergesellschaft» zu bringen, auch wenn er selbst nicht wenig Freude an der Unordnung zugibt.

Und am Abend im grossen Saal «Autoren im Dialog». Adolf Muschg, auch einer der Grossen der Literatur, traf sich mit Feridun Zaimoglu, dem 52jährigen deutschen Schriftsteller, der ganz klein mit seinen Eltern von der Türkei nach Deutschland kam. Sie sassen sich zum ersten Mal face to face gegenüber, jeder hatte ein Buch des anderen gelesen. Doch der Dialog war nicht wirklich einer, denn Muschg dachte, Zaimoglu hätte sein aktuelles Buch gelesen. Dieser las aber den 2008 erschienenen Roman «Kinderhochzeit». Während die beiden nebeneinander sassen, blieb es ein Nebeneinander, auch wenn man erfuhr, dass beide Autoren ihre Bücher «wie eine alte Haut» ablegen, wenn sie einmal geschrieben sind. Trotzdem blieb ich als Zuhörer beeindruckt, sowohl vom Geist Adolf Muschgs wie auch vom Roman «Siebentürmeviertel» von Feridun Zaimoglu. Wolf weiß nicht, wie ihm geschieht. Nach dem Tod seiner Mutter hat er bei seinem Vater gelebt, muss mit ihm aber nach einer Warnung vor der Gestapo plötzlich Deutschland verlassen. Es ist das Jahr 1939, und Wolf findet sich in Istanbul wieder, in der Familie von Abdullah Bey, eines ehemaligen Arbeitskollegen seines Vaters. Das Siebentürmeviertel ist einer der schillerndsten Stadtteile der Metropole, in der Religionen und Ethnien in einem spannungsreichen Nebeneinander leben. Was als vorübergehende Maßnahme gedacht war, wird zu einer Dauerlösung, und Wolf muss sich zurechtfinden in diesem überwältigenden Kosmos. Er wird von Abdullah Bey an Sohnes statt angenommen, besucht die Schule und erobert sich seine Stellung unter den Jugendlichen des Viertels. Als er langsam zu begreifen beginnt, welche Rolle Abdullah Bey wirklich spielt, gerät er in große Gefahr.

Judith Kuckart «Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück»
Feridun Zaimoglu «Siebentürmeviertel»

 

Juli Zeh «Unterleuten», Lesung im Kaufleuten Zürich

Juli Zeh, in der Presse und von den LeserInnen gefeierte Autorin, las im Kaufleuten, wohl dem einzigen Ort in der Schweiz, der mit grossen Namen viele hundert Besucherinnen und Besucher zu einer einzigen Lesung locken kann. Ein Abend, an dem Buch und Autorin überzeugten und der Saal die Schriftstellerin mit langem Applaus belohnte.

Mag sein, dass gewisse Schriftstellerinnen oder Schriftsteller das Image der antiquierten Veranstaltung, mit Besserwisserei, divenhaftem Getue und schwer kultiviertem Feingeist noch immer zementieren. Aber es gibt auch die anderen, Autoren wie Wolf Haas, der mit Witz einen ganzen Saal durch 90 Minuten reissen kann, Catalin Dorian Flurescu, der als Geschichtenerzähler fabuliert und fasziniert oder eben Juli Zeh, die mit scharfer Zunge, klarem Blick und grosser Erzählgeste beeindrucken kann. Eine Lesung, die mir genau das bot, was ich mir wünsche; Einsichten, Unterhaltung, Gesprächsstoff, Zunder und Genuss.
Juli Zeh hat in ihrem neuen Roman «Unterleuten» ein Dorf erfunden, obwohl damit die Gefahr bestand, Leser und Leserinnen könnten sich erkennen, sowohl die Leser in dem Dorf, das ihr Anschauung lieferte und in dem sie seit ein paar Jahren unweit von Berlin wohnt, wie jenen hinter den Büchern, die sie als moderne Menschen entlarvt. Ein Dorf in Deutschland, in dem dieselbe Sprache gesprochen wird, in dem sich Nachbarn aber unendlich fern sind. Ein Dorf, dass zerrissen wird von Gegensätzen, Gegenteilen. Juli Zeh erzählt nicht nur eine Geschichte. Sie schreibt darüber, wie grundsätzlich verschieden Wahrheiten sein können. Gibt es etwas Objektives, etwas Wahres, das sich nicht teilen lässt? Juli Zeh vermied es gekonnt, eine Welt in Gut und Böse zu teilen. Nichts und niemand im Buch ist gut oder schlecht. So sind auch die Windräder, 610855_original_R_by_Erich_Westendarp_pixelio.dedie in diesem Roman gebaut werden sollen, für die einen Rettung, für die andern Mahnmale der Sinnlosigkeit in Beton, in den Städten geplant und in den Dörfern gebaut. Alle im Dorf geraten sich in die Haare, weil alle das Beste wollen, um jeden Preis. Der Mensch des 21. Jahrhunderts betrachte sich selbst als grenzenlos optimierbare Leistungsmasse. Man betrete nur eine Buchhandlung und betrachte, was verkauft werde. Entweder aus Angst auf der Flucht oder desillusioniert auf einen Punkt hinstolpernd. Dabei sei jeder Realist genug, dass es schnell an Hoffnung in die Zukunft fehlen müsste, weil Perspektiven verloren gegangen sind. Der Optimierungswahn mache verletzlich, weil er erschöpft, letztlich nicht von Erfolg gekrönt sein kann. «Burnout», Erschöpfung ist keine Krankheit, sondern eine Massenerscheinung, ein beinahe kollektives Phänomen, weil Gottesfurcht und Schicksalsglaube nicht mehr entlasten.
Juli Zeh las mit einem Lächeln auf den Lippen, lustvoll, in einer Geschichte, die 10 Jahre reifte, immer wieder liegen blieb, mit der sichtlichen Freude am «Herumfingern an fremder Unterwäsche».

Lesen und geniessen!

Organisiert und durchgeführt von Kaufleuten und Literaturhaus Zürich, moderiert von Gesa Schneider

Ich schenke dir ein signiertes Buch!

Die 4 Bücher, die auf dem 31. Literaturblatt besprochen werden, sind ausgesucht. Im Juni wird es den Abonnenten zugeschickt! 4 Frauen, 4 Schweizerinnen, 4 starke Geschichten. Wer Titel und Namen der 4 herausfindet, bekommt ein signiertes Buch per Post zugeschickt.

Erstaunlich, wie viele starke Frauen mit starken Geschichten! Nicht dass die schreibenden Männer nicht auch laut wären. Aber irgendwie drängte sich diese geballte Ladung Frauenpower auf.

Tipps zum Mitraten: Ein Buch lotet in die Tiefe, eines greift bis Afrika, eins hebt ganz ab und eines hat Heu zwischen den Seiten. Vier Bücher aus vier Schweizer Verlagen, vier Bücher, die es wert sind, auch über den Grenzen gelesen zu werden!

Wie heissen die vier Titel und die vier Autorinnen? Machen Sie mit und schreiben Sie mir! (Kontaktformular)
30. Blatt hochaufge.
das 30. Literaturblatt, wie immer von Hand auf A4 gezeichnet und geschrieben

Die 38. Solothurner Literaturtage sind Geschichte, ein Rückblick in 3 Teilen: Freitag, Teil 1

Ein Rückblick in 3 Teilen: Freitag, Teil 1

Es waren um die 80 Autorinnen und Autoren, die ihre Texte auf vielfältigste Weise präsentierten, darunter grosse Namen wie Adolf Muschg, Franz Hohler, die mit dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnete Ruth Schweikert oder der Algerier Bousalem Sansal, der für seinen Mut mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Aber nicht Namen oder eventuell ein neuer Besucherrekord, sondern die Vielfalt des Schreibens und der Lauscherinnen und Lauscher machte die Literaturtage zu einem Festival.

Ich masse mir nicht an, einen vollständigen Überblick über alle Höhepunkte zu rekapitulieren. Aber kommen sie mit mir auf meine Spur durch drei Tage Hochgenuss.

Im übervollen Zug nach Solothurn sitzen Autoren auch mal am Boden des Wagons und studieren zum letzten Mal Ausgedrucktes, zieht die Autorin mit langem Mantel und Sonnenbrille das schwarze Köfferchen über die Brücke hinunter zur Altstadt und im Restaurant Kreuz, einem Epizentrum der Schweizer Literatur. Dort sitzen all jene, die sich gerne in der Sonne zeigen oder sich im Fokus der Aufmerksamkeit sonnen.

Mittags las Noëlle Châtelet, eine der grossen der Französischen Literatur aus ihrem Roman «La Femme Coquelicot», der sich über 600000 Mal in vielen Ländern verkaufte. Die Geschichte von Marthe, die siebzig ist und ein völlig zurückgezogenes Leben als Witwe führt. Fast fünfzig Jahre war sie mit Edouard verheiratet, einem Mann, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte. Pflichtbewusst und rücksichtsvoll hat sie immer für andere gelebt, den ernsten Edouard, ihre Ki9783462029970-1nder und später die Enkelkinder. Und dann lernt sie Félix kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick, Marthes erste große Liebe. Félix, der Maler ist und noch einmal zehn Jahre älter, wirbelt ihr Leben völlig durcheinander. 600000 Leserinnen und Leser und in Solothurn bei der ersten Lesung unter der Mittagssonne etwas mehr als 20 Aufmerksame. Die Schriftstellerin war so nervös, als wäre sie kurz vor ihrer ersten Verabredung. Im Publikum sass auch Uli Wittman, der Übersetzer und Lebenspartner der Autorin, der neben Noëlle Châtelet andere Grosse ins Deutsche übersetzt: Le Clézio, Michel Houellebecq.

Am Nachmittag war der Genfer Daniel de Roulet, der erst mit 50 Schriftsteller geworden ist, Gast in einer SRF Live Sendung mit Susanne Brunner. Sein grösstes Werk ist eine in 10 Romanen erzählte Familiensaga, die vom Bau der ersten Atombombe bis zur Katastrophe von Fukushima das ganze nukleare Zeitalter umfasst. Daniel de Roulet ist ein politisch engagierter Autor. Geschrieben hat er nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern in aller Welt auf tage- und wochenlangen Wanderungen: Er folgte den Spuren des Mönchs Gallus, der zu Fuss von Irland in die Schweiz gelangte und St. Gallen gründete. Er wanderte auf den Pfaden der Migrantinnen und Migranten, die von Südamerika in Richtung USA unterwegs sind. – «Meine einzige Angst bei Livesendungen sind Verkehrsmeldungen, wenn kurz nach der Waldburgisnacht gemeldet wird, dass auf der Autobahn ein Besen liegt», meinte die Moderatorin Susanne Brunner, die beeindruckend locker auf das Stichwort des Regisseurs wartete. Daniel de Roulet erzählte von den Schrecken der Waldbrände in der kanadischen Provinz Alberta, einer Gegend, die der Autor kennt, von der Flucht vor der Feuerwalze. Was dort geschehe, sei keine ausgebrochene Katastophe, sondern eine permanente, die mit der Ölgewinnung durch Fracking längst zu einem Dauerfall geworden ist, einer Katastrophe, deren Folgen noch Jahrhunderte nachzuspüren sein werden. So hörte ich ihm zu, gebannt von einem Mann, dessen Schreiben immer auch eine politische Äusserung ist.9783857917110 Kamikaze Mozart erzählt von Fumika, einer japanischen Musikstudentin in Berkeley, die sich in den Schweizer Physiker Wolfgang verliebt, der im Team von Robert Oppenheimer an der Atombombe baut. In Japan hat ihre Familie für sie einen Mann bestimmt, den sie noch nie gesehen hat und der Kamikaze-Anwärter bei der Luftwaffe ist. Nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor wird Fumika mit den andern 130 000 «feindlichen Elementen» interniert. In der Wüste von Santa Fe, wo die Internierten beim Bau von Wolfgangs Reaktor eingesetzt werden, sehen sie sich wieder. Wolfgang hat sich inzwischen ganz in den Dienst der «Bombe gegen die Nazis» gestellt, und die Liebe zu einer «Feindin» bringt ihn jetzt in Schwierigkeiten. Schreiben sei wie das Handeln mit Dynamit.

Und dann, am späten Nachmittag, lasen die jungen Frauen; Noëmi Lerch, Dana Grigorcea und Meral Kureyshi, die vor ihrem Auftritt vor grossem Publikum noch einmal die Lippen nachzog. Und weil zu viel von dem Stift an ihrem Finger blieb, strich sie den Rest weg und ein roter Strich blieb an der weissen Wand des Palais Besenval. Als der Vater der Erzählerin unerwartet stirbt, gerät die junge Frau ins Schlingern. Ein Jahr lang lebt sie im Ungefähren, besucht wahllos Vorlesungen an der Universität, fährt Zug, sucht unvermittelt Orte ielefanten_im_gartenhres bisherigen Lebens auf, reist nach Prizren. Erinnerungen an ihre idyllische Kindheit in der osmanisch geprägten Stadt, die sie im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie verlassen musste, drängen machtvoll in ihre Schweizer Gegenwart. Aber die Welt ihrer Kindheit findet sie nicht wieder in Prizren, und auch sie selbst hat sich verändert. Sie sucht einen Platz in ihrem neuen Land, der neuen Sprache. Die Unselbstständigkeit ihrer einsamen Mutter erträgt sie nur schlecht und mit jedem neuen deutschen Wort wächst die Entfernung zu ihr. Während die Mutter sich zunehmend isoliert, versucht die Erzählerin dem Stillstand zu entkommen.

Manchmal von der Strasse das Holpern der Rollkoffer, von den Dächern das Krähen der Raben und einmal der Junge, der erst recht zu schreien begann, als sich alle Köpfe zu ihm drehten. Noëmi Lerch, Dana Grigorcea und Meral Kureyshi, junge Frauen, die die literarische Bühne erobern, die es tun mit Selbstverständnis aber ohne Dünkel, mit Leidenschaft, erfrischend!

Noëlle Châtelet «Die Klatschmohnfrau»
Daniel de Roulet «Kamikaze Mozart»
Meral Kureyshi «Elefanten im Garten»

 

 

 

Thomas von Steinaecker «Die Verteidigung des Paradieses», S. Fischer

In nicht allzu ferner Zukunft: Heinz ist 15 und lebt mit einer kleinen Gruppe Menschen auf einer Alp. Eine Schicksalsgemeinschaft, denn es trieb sie eine globale Katastrophe in die Berge. Weite Teile Europas sind verseucht und was um sie herum wie ein kleines Überbleibsel funktioniert, ist überdacht mit einer riesigen Kuppel, die verhindert, dass alles Leben stirbt. Doch ein infernalisches technisches Gewitter vertreibt die Gruppe aus dem Kuppelparadies, in der Hoffnung, irgendwo auf Reste einer funktionierenden Zivilisation zu stossen. Die Gruppe macht sich auf, Heinz zusammen mit Fennek, einem elektronischen Fuchs, seinem einzigen Freund, der ihn mit Geschichten tröstet und ein paar Heften im Gepäck, in die Heinz aufschreibt, was in noch fernerer Zukunft nicht vergessen sein soll. Mit Cornelius, der schon in der untergegangenen Vergangenheit in leitender Funktion war, zieht die Gruppe mit einem Ziel und Hoffnung durch verbranntes Land, apokalyptische Szenerien, verfolgt von Drohnen, bedroht von marodierenden Banden, verschreckt von Camps, in denen Mutanten vegetieren. Irgendwo im Westen soll ein Flüchtlingslager sein. Heinz will ein guter Mensch sein. Er sammelt nicht nur Geschichten, auch Wörter in seinen Heften, die aus seiner Erinnerung auftauchen. Er spürt, dass er ein Geheimnis mit sich herumträgt.

Thomas von Steinaecker erzählt die Geschichte episch, schildert eine düstere Zukunft mit Bildern, die wir aus Filmen und anderen Endzeitbüchern kennen. Warum soll ich also noch so eine Dystopie lesen. Weil Thomas von Steinaecker seinen Protagonisten, der damals als Kind auf die Alp kam und nur kennt, was er aus Erzählungen und ein paar Büchern von Cornelius weiss, auf der Flucht eine andere Welt kennen lernt und nicht mit Erinnerungen an eine verschwundene Vergangenheit verklebt ist. Er flieht mit den Augen eines Kindes, im Körper eines Jugendlichen, bis er alt und entkräftet im letzten Teil des Buches seine Geschichte zu Ende erzählt, ein Ende, das entrückt scheint.

Das Buch lebt von den Bildern und der Spannung, die der Autor zu erzeugen weiss. Michael von Steinaecker hat sich nicht wenig vorgenommen und literarisches Breitbandkino geschaffen.

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Thomas von Steinaecker, geboren 1977, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane – unter anderem «Wallner beginnt zu fliegen» und «Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen» – sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme, für die er unter anderem den ECHO Klassik erhielt. Für S. Fischer Hundertvierzehn initiierte er das »Mosaik-Roman«-Projekt «Zwei Mädchen im Krieg» und veröffentlichte ab Oktober 2015 zusammen mit der Zeichnerin Barbara Yelin den Fortsetzungs-Webcomic «Der Sommer ihres Lebens».
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Marjaleena Lembcke «Wir bleiben nicht lange», Nagel & Kimche

«Weisst du, manchmal komme ich mir vor, als hätte ich mein Leben lang Aufnahmen gemacht, aber die Negative nie entwickelt. Und jetzt sitze ich in der Dunkelkammer und warte darauf, dass die Bilder sichtbar werden, und habe doch Angst vor den fertigen Fotos.»

Letzthin besuchte ich wieder einmal die Buchhandlung zur Rose in St. Gallen, in Sichtweite der mächtigen Klosterkirche. Nicht weil es mir an Lesestoff mangelte (In meiner Tasche wartete «Herzvirus» von Bettina Spoerri mit den letzten Seiten.), sondern weil es Leonie Schwendimann dort in der kleinen, aber feinen Buchhandlung versteht, auch einen Vielleser wie mich auf besondere Bücher aufmerksam zu machen. Diesmal das neue einer Frau, die seit Jahrzehnten deutsch schreibt, in ihrem Innern aber noch immer Finnland und das Finnische mitschwingen lässt. «Wir bleiben nicht lange» ist nicht ihr erster Roman für Erwachsene, aber mit Sicherheit endlich Grund genug, Marjaleena Lembcke zu entdecken.

Sisko, krebskrank und mit Metastasen im ganzen Körper, ruft ihre Schwester Mirja zu sich nach London ins Krankenhaus. Die beiden Schwestern wuchsen in Finnland auf, entfernten sich aber nicht nur geographisch und nicht nicht nur von Finnland, als ihre Mutter den Freitod wählte. Sikso will nicht alleine sterben, oder zumindest nicht das letzte Stück alleine sein. Die Schwestern verbringen viel Zeit, Sisko mit einem Beutel, in dem Wodka und Zigaretten verstaut sind und Mirja mit der Angst, Sisko im falschen Moment alleine zu lassen. Sie erzählen einander, witzeln und beissen mit Worten, trösten sich gegenseitig, jede für die Verluste der anderen. «Man verpasst das Leben sowieso. Ewig auf der Suche nach einer Hand, an der man sich festhalten kann.» Und weil beider Leben mit dem Tod ihrer Mutter jene Wendung bekam, ab der Ängste sie permanent begleiteten, schienen auch alle anderen Lieben permanent von Verlust bedroht zu sein.
Marjleena Lembcke schrieb über den Abschied, das Ende, über jene Momente, in denen es keine Zukunft mehr gibt, über zwei Schwester, die sich angesichts des Todes noch einmal ganz nahe kommen, nicht weinerlich, sondern mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Auch ein Buch über Bücher; «In Büchern gab es Orte, von denen sie noch nie gehört, die sie nicht gesehen hatte, vielleicht nie sehen würde. Bücher waren der Ort, wo sie einige Zeit unerreichbar und geschützt war.», und über die Lüge des In-Würde-Sterbens. So sehr Mirja Bücher liebt, so sehr verachtet sie Sisko. Sie habe keine Lust, sich in Scheinwelten zu verstecken. Sisko will keine Scheinwelt mehr, kein Blatt mehr vor den Mund nehmen, erst recht nicht, um ihren Wodkaatem zu verbergen. «Ich will meinen Tod nicht bei vollem Bewusstsein mitkriegen. Die Hälfte des Lebens habe ich nur benebelt ertragen. Glaubst du, ich hätte Lust, beim Sterben die Heldin zu spielen?»
Die beiden Frauen geraten sich beim Resümieren über Leben, Liebe, Familie, Männer und den Tod in eine Nähe, die alles auftut, in allem versöhnt.
Marjaleena Lembcke: «Ich glaube nicht, dass man jemanden wirklich beim Sterben begleiten kann. Es sei denn, man stirbt mit ihm.»

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Marjaleena Lembcke wurde 1945 in Finnland geboren und studierte Theaterwissenschaften und Bildhauerei. Seit 1967 lebt sie in der Nähe von Münster in Westfalen. Sie schreibt für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene. Für ihre Bücher wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 1999, und wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis.