Jakob Hein «Kaltes Wasser», Galiani

Es gibt verschiedene Arten, sich dem Schicksal entgegenzustellen. Es hinzunehmen und zu akzeptieren – oder die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, auch mit dem Risiko, dabei ordentlich «auf die Schnauze zu fallen».
Im neuen Roman Jakob Heins, einem echten Schelmenstück, wohl selbst ein Wesenszug des Autors (unbedingt Video schauen!), beginnt Friedrich Bender schon als «Agitator» in der Ostschule, als Sohn eines Professors für Marxismus und Leninismus, die Realität nach seinen eigenen Gesetzen einzufärben, zumal die sozialistische Wirklichkeit in der bröckelnden DDR im trüben Grau Farbe dringend nötig hat. Friedrich ist 17, als die Mauer fällt. Er entschliesst sich gleich, seine Ostidentität an den Nagel der Vergangenheit zu hängen und nicht lange auf mühsam erwarteten und erhofften Erfolg zu warten. Da wird aus einem alten Armeebus eine bierige Goldgrube, aus Din A4 und ein paar Stempeln von weiter weg ein solides Studium in Betriebswirtschaft und später aus dem klingenden Namen des Schwagers und Friedrichs geölter Schnauze eine respektable und florierende Partnervermittlung im gehobenen Segment. Nur lässt sich nicht alles auf Hochglanz schnorren, am wenigsten seine müden Eltern und all das, was Friedrich in weiter Ferne als altes Leben zurückliess.

Jakob Hein, Schriftsteller und Psychiater an der Charité in Berlin, kennt sich aus mit queren Köpfen, solchen wie Friedrich, der durchs Leben taumelt, immer knapp an der Katastrophe vorbei, ein Filou, ein liebenswerter Hochstapler. Ein witziges, lustiges Buch von einem Autor, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt, wohl weiss, dass nur so aus dem Schatten eines «grossen» Vaters (Christoph Hein) zu entfliehen ist. Ich las den Roman mit blankem Spass und dem stillen Bedauern darüber, so gar nichts von der bedenkenlosen Frechheit des Helden abschneiden zu können. Genau das richtige aufs Nachttischchen, auch wenn Bilder in die eigenen Träume geraten sollten.

Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, lebt mit seiner Familie in Berlin. Seit 1998 Mitglied der »Reformbühne Heim und Welt«. Er hat inzwischen 14 Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011) sowie zuletzt gemeinsam mit Jürgen Witte die Streitschrift Deutsche und Humor. Geschichte einer Feindschaft (2012).

Jakob Hein liest «zehn Seiten».

Das 30. Literaturblatt ist fertig!

12 Schritt zu einem Literaturblatt

Ein kleines Jubiläum.
Vier besondere Bücher werden auf dem 30. Literaturblatt vorgestellt. Sechs Mal im Jahr schreibe und gestalte ich diese Empfehlungen auf ein A4-Blatt und verschicke Sie an über 200 Leseinteressierte. Einfach so? Vor vielen Jahren fragte mich eine Kollegin, ob ich ihr nicht eine Liste mit ein paar guten Büchern schicken könnte. Und weil da noch andere fragten, die ebenfalls Interesse bekundeten, schrieb ich erst mit Tasten, später denn viel lieber mit Stiften. Hochkonzentrierte Arbeit, weil ich fast immer mit Kugelschreiber arbeite. Korrekturen sind nur schwer möglich.

Und nun ist es da. Ich verspreche 4 grossartige Bücher mit ihren AutorInnen: Ein grosser Schriftsteller, der in der DDR zu schreiben begonnen hat (Suhrkamp), ein Österreicher, der am 8. März mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse ausgezeichnet wurde (Hanser), ein junger Wilder aus Deutschland, der deutscher Meister 2012 sowie Gewinner diverser Poetry Salms ist (Berlin) und eine stille Bregenzerin, die sich nach 20 Jahren mit einem wunderschönen Roman zurückmeldet (Jung und Jung).
Neugierig? Super! Man kann das 30. Literaturblatt bei mir bestellen!

Ein kleiner Wettbewerb: Wer mir alle vier Autoren mit ihren Büchern nennen kann, dem sende ich ein ganz besonderes Buch kostenlos zu! Die erste richtige Antwort zählt.

Literaturzirkel – Literaturzirkus

(Gruppenbild mit dem Schriftsteller Martin R. Dean)

Warum über Bücher reden?

Vor mehr als 25 Jahren fragte ich Freunde und Bekannte, ob sie Lust hätten, sich monatlich zu treffen, um Leseerfahrungen auszutauschen, nicht akademisch, nicht vom hohen Ross, nicht hochgeistig, nicht elitär, einfach nur, weil es schade ist, nach der Lektüre das Buch so ohne alles ins Regal zu schieben, es im Nirwana einer Bibliothek zu beerdigen. Alle, die lesen, wissen, dass erst das Reden über das Buch das Buch unvergesslich macht, selbst wenn man das Buch klebrig, langweilig, schlicht schlecht fand.

So trifft sich eine Gruppe BücherfreundInnen monatlich, manchmal im Restaurant mitten im Lärm, manchmal bei jemandem zuhause, machmal im Bienenhäuschen, manchmal im Kino, manchmal zu einer Lesung, manchmal an Literaturtagen, immer wieder, seit mehr als 25 Jahren. Das macht 25 mal 12 Bücher. 300 Bücher! Eine stattliche Bibliothek.

Der erste Höhepunkt vor über 25 Jahren war der Besuch des Schriftstellers Otto Steiger, ein Autor der zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, erst recht, als er 2005 fast 100jährig starb. Von Kriegsbeginn bis 1943 war Otto Steiger die offizielle «Stimme der Nation», die bei einem Einmarsch die Authentizität der Radionachrichten garantieren sollte. Sein dritter Roman 1952 Porträt eines angesehenen Mannes (beim Unionsverlag erschienen) wurde von Kritikern als Propaganda für den Kommunismus verurteilt. Das Buch wurde tatsächlich ohne Steigers Zutun auf russisch übersetzt und 300’000mal verkauft. Nachdem er 1957 unvorsichtigerweise einer Einladung des russischen Schriftstellervereins gefolgt war, diffamierte und ignorierte die Presse den «roten Steiger». Diese Reise war als Entschädigung für die 1952 erfolgte unautorisierte Übersetzung seines dritten Romans gedacht. Seine gesellschaftskritischen Bücher, viele davon Krimis, erschienen nur noch in Kleinverlagen.

Viele weitere Glanzlichter folgten: eine Begegnung mit Silja Walter, ein Treffen mit Christoph Keller, eine beglückende Freundschaft mit Margrit Schriber…

Letzter Höhepunkt war eine Einladung der Solothurner Literaturtage 2015, als der Literaturzirkel vor Publikum zusammen mit dem Basler Schriftsteller Martin R. Dean über seinen Essayband «Verbeugung vor Spiegeln» heftig diskutierte. Ein unvergessliches Erlebnis, weil wohl weder der Veranstalter noch der Autor damit rechneten, dass das Buch so kontrovers diskutiert wurde. Dabei schien es zumindest in unserer Gruppe doch genau das zu bewirken, was es bewirken sollte: Übers Fremdsein sprechen. Lesezirkel mit Martin R. Dean, 16.05.2015, SLT

 

Mireille Zindel «Kreuzfahrt», Kein und Aber Verlag

«Früher hatte das Leben so viele Möglichkeiten. Dann schliesst man das Studium ab, beginnt zu arbeiten, hat Familie, und plötzlich ist man auf dieser Autobahn für die nächsten 25 Jahre. Nicht dass ich Angst hätte, dass ich diese Jahre abstrampeln würde, aber Gedanken macht man sich schon.» Meret ist verheiratet mit Dres, Mutter zweier kleiner Kinder und weit weg von den unendlichen Möglichkeiten einer 20jährigen, unzufrieden in der tief empfundenen Sackgasse von Einfältigkeit und ungestillter Sehnsucht. Bei einem Ferienaufenthalt an der Küste Italiens lernen Meret und Dres das Paar Jan und Romy kennen, auch sie mit zwei Kindern. Bald spielt zwischen der Erzählerin Meret und Jan mehr als freundschaftliche Nachbarschaft. Die Entfremdung von ihrem Mann, die Ferne zu den eigenen Kindern, die Mutlosigkeit, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen, scheinen ihr das Recht zum Verlieben zu geben. «Wie weit kann man sich voneinander entfernen, bis man sich nicht mehr findet?» Und als Jan mit seiner mitteilungssüchtigen Frau Wochen später in Zürich dann auch noch in die Wohnung unter ihnen zieht, man Tür an Tür, Wand an Wand lebt, wird das Begehren unausweichlich und die Geschichte zwischen Meret und Jan für mich als Leser zum Kippbild. Wo hört Liebe auf? Wo endet blosses Begehren? «Man muss die Liebe ernst nehmen wie den Tod. Man darf nicht gleichgültig sein. Denn ist sie einmal vergangen, ist sie unausweichlich weg», meint Meret, die ihre Geschichte mit Jan im Rückblick erzählt und nicht nur mit dem Erzählen selbst das Gegenteil beweist.

Mireille Zindel schreibt mit unglaublicher Empathie. Der Text riecht nach Erschöpfung und Trauer. Als hätte Meret mehr als ein Leben aus der Hand gegeben. Ein Buch mit einem grossen Sog, eines, das man gerne mit einem Stift hinterm Ohr liest, um Sätze, die ins Mark treffen, mitzunehmen.

Mireille Zindel (1973), Germanistin und Romanistin, lebt und schreibt in Zürich. Ihre beiden ersten Bücher «Laura Theiler» und «Irrlicht», erschienen im Salis-Verlag Zürich, wurden von Publikum und Presse begeistert aufgenommen und mit Preisen ausgezeichnet.

Die Autorin liest aus ihrem neuen Buch am 5. April, um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zürich.

Michael Kumpfmüller «Die Erziehung des Mannes», Kiepenheuer & Witsch

Nein, kein Sachbuch, auch kein Erfahrungsbericht, sondern ein Roman darüber, wie ein Mann durch Anpassung allein eben nicht zum Mann wird. Lernt man etwas bei der Lektüre dieses Buches, wo doch der Titel einiges verspricht, vor allem all den Frauen, die dieses Buch erwerben? Das Versprechen wird eingelöst, aber eben literarisch. Michael Kumpfmüller erzählt exemplarisch Georgs Geschichte, einen langen Kampf um Liebe, schon als Kind begonnen. Georgs Vater nimmt sich mit aller Selbstverständlichkeit und Offenheit im Schosse seiner Familie neben der Ehefrau eine Geliebte, während Georgs Mutter leidet, unsichtbar für den Mann, aber ein Alp für die Kinder. Der Autor setzt dem Protagonisten den Stachel, das Wissen, dass es gerade in der Liebe mit Sicherheit keine Sicherheit gibt, alles den Irrtum impliziert. «War das Leben nicht dazu da, dass man es lebte, unvermeidliche Irrtümer eingeschlossen? Wer sich nie irrte, lebte nicht, so viel meinte ich begriffen zu haben, wobei ich auch das Gegenteil dachte.» Georgs Vater straft gerne, entzieht Liebe macht die Klappe zu, auch als Georg sich gegen Jura aber für Musik entscheidet. Nach ersten Liebesversuchen trifft er Karin, lebt sieben Jahre mit ihr zusammen, ohne einmal mit ihr zu schlafen. Sie will nicht. Er duldet es, «käme sich schäbig vor, sich zu trennen». Dann ist es Jule, die zuerst so ganz anders ist, Kinder will und auch heftig tut, dass es geschieht, ihn heiratet, was Georg einerseits schmeichelt aber gleichsam von einer Tatsache in die nächste stösst. «In diesem einen Moment hatte ich gewusst, wer Jule für mich war. Ein kleiner, leuchtender Punkt, etwas, das mich aus allerfernster Ferne berührte, ein Versprechen mehr als eine Tatsache, etwas, an dem ich nicht achtlos vorübergehen zu dürfen glaubte.» Aus Leidenschaft wird Ehekrach und Scheidungskrieg vor den Augen dreier Kinder, all das, was den Vater eine Generation zuvor nicht zu bewegen schien.

Michael Kumpfmüller schreibt von den Schrecken des Mannseins, der Verunsicherung darüber, wie Mannsein allein nicht genügt, wie sehr einem das Leben aus der Hand genommen und zerrissen werden kann. Georg ist kein Verlierer, aber ein von Verunsicherung Gepeinigter. Michael Kumpfmüller spielt mit dem Nerv der Zeit. Braucht es mehr als die Liebe eines Menschen, um zu überleben? Bei Georg ist es die Musik.

Ein Tipp: Andreas Neeser «Wie halten Fische die Luft an», Haymon

Warum auf dem Nachttisch nicht ein Gedichtband; ein Gedanke in die Nacht, ein Geschenk für die Seele, Balsam für den Geist!

Begegnung

Du suchst dir noch einmal
den Spiegel im Spiel
du stellst dich da hin
und du bist es, das Lächeln
zu Hause im Bild
sind die Augen ganz heute und jetzt.

Ich fahr dir durchs Haar und
du winkst dir und
winkst dir zurück;
dann sagen wir leise einander die Namen
wie Vater und Kind.

für I. M.


Menetekel

Gestern um neuen
ging mir das Licht auf
zwei Fingerbreit
über dem Wald
blutrot
das halbe Gesicht
war nicht Stern
und nicht Stirn.

Ich brannte
bis weit in die Nacht
und wusste nicht wo.

aus «Wie halten Fische die Luft an», Haymon Verlag

Der Gedichtband wurde von der Deutschen Akademie für Dichtung in Darmstadt unter die Top 10 der deutschsprachigen Lyrikbände 2015 gewählt und mit dem Prädikat „Lyrikempfehlung 2016“ ausgezeichnet! «Neesers Erkundungen im Zwischenmenschlichen, im Naturraum draussen und drinnen, im Kopf des Ichs, sind beeindruckend konzentriert, wirken wie hingetupft und nehmen doch präzise Gestalt an.» Daniela Strigl, Jurorin Lyrikliste!

Andreas Neeser lebt in Suhr bei Aarau und verfasst neben Romanen (zuletzt «Zweischen zwei Wassern» Haymon) auch Mundarttexte (nach «No alles gliich wie morn» (2009) «S wird nümme, wies nie gsi isch» bei Zytglogge)
andreasneeser.ch

Jean Mattern «September», Berlin Verlag

«Ist es denn zu fassen, dass man in Deutschland noch einmal Juden ermordet? Vor dreissig Jahren gehorchten die Deutschen, wenn man ihnen auftrug, uns zu töten. Und jetzt gehorchen sie nicht, wenn man ihnen aufträgt, das Leben der unseren zu retten.»
Es sollten heitere Spiele werden in München 1972 nach den Nazispielen in Berlin 1936. Mark Spitz wurde zum schnauzbärtigen Superstar und Heike Rosenthal verzückte als erste deutsche Olympiasiegerin dieser Spiele. Alles bestens.
Unter den vielen Journalisten und Reportern, die zu berichten hatten, begegnet Sebastian Sam Cole, einem jüdischen Journalisten aus New York. Verunsichert und gebannt von dessen Erscheinung verheddert sich Sebastian immer mehr in seinen Gefühlen, erst recht, als am 5. September palästinensische Terroristen israelische Sportler zu Geiseln machen. Ein Wettlauf mit der Zeit, nervöse Poilitiker, sensationsgeile Massen, ahnungslose Journalisten, ein masslos überforderter Apparat. Bis in jene Nacht, als das Herantasten der beiden Journalisten zur amour fou wird, die Situation in München auf einem Flugplatz im Chaos tödlich eskaliert, alle Geiseln sterben und die ganze Welt geohrfeigt wird.
Jean Mattern erzählt in seinem vierten Roman in klarer Sprache, gut recherchiert und gekonnt erzählt die Tragödien um den 5. September 1972. Auch ein Stück Aufklärung darüber, wie Dilettantismus und Machtdünkel Menschenleben kosten können. Lesen!

Jean Mattern wurde 1965 geboren und wuchs in Deutschland auf. Er lebt in Paris, wo er als Verlagslektor arbeitet. September ist sein vierter Roman.

Lesung für Kinder mit Lukas Hartmann

Am 8. März besuchte Lukas Hartmann die Primarschule Kirchstrasse in Amriswil. Nachdem während eines mehrmonatigen Leseprojekts Schülerinnen und Schüler alle mindestens ein Buch des Schriftstellers gelesen hatten, las er vor und beantwortete Fragen.

Lukas Hartmann, der eigentlich Hans-Rudolf Lehmann heisst, erzählte von seinem beruflichen Werdegang. Wie er als Radiomoderator und als Lehrer wirkte, Schriftsteller aber immer sein Traumberuf gewesen sei. Nur habe sich der Erfolg erst nach mehreren Versuchen einstellen wollen. Die Kinder hingen ihm gespannt an den Lippen, auch als er sie ermunterte, an ihre Träume zu glauben und nicht schon nach der ersten Niederlage aufzugeben. Klar kam irgendwann die Frage nach seiner berühmten Frau, wo er sie denn kennen gelernt habe. Selbst hier blieb das Lächeln im Gesicht des 71jährigen.

So wie die Kinder dem Autor für seine lange Reise nach Amriswil dankten, danke ich Lukas Hartmann für seinen Mut, seinen Witz und seine offene Art. Da hinterliess ein Büchermann ganz bestimmt seine Spuren!

Und für alle erwachsenen Hartmann-Fans: Er schreibt einen neuen Roman, der bald erscheinen soll, darüber, wie sich friedlich scheinende Nachbarn zu Schreckgespenstern entwickeln können. Ich freue mich und bin gespannt.

Bild: Manuel Nagel

Hans Platzgumer «Am Rand», Zsolnay

«Ich sehe, wie ich Zufälligkeiten ausgeliefert bin und höchstens reagieren, nur in kleinem Rahmen agieren kann. Ich kann versuchen, Einfluss zu nehmen, weiter und weiter, weil es des Menschen Pflicht ist, nicht aufzugeben, aber immer wieder erreiche ich den Punkt, an dem die Selbstbestimmug endet.»

Ich war noch klein, als meine eigene Grossmutter wächsern und mit einem Rosenkranz in den verschränkten Fingern ein letztes Mal in ihrem Zimmer besucht werden sollte. Es war für viele Jahre die einzige Tote. Dem Sterben selbst bin ich auch nach einem halben Jahrhundert Leben bloss in Geschichten begegnet. Ganz anders Gerold, der unglückliche Held in Hans Platzgumers neuem Roman «Am Rand», der schon als Junge seinen seit Monaten toten Nachbarn mit Kopfhörern auf vor dem noch laufenden Fernseher sieht. Dann stirbt sein Freund einen infernalen Tod im elektrischen Strom. Der Tod heftet sich an die Fersen Gerolds. Als erstes befreit er seine still gewordene Mutter vor ihrem Vater, seinem Grossvater, der sich wie ein Schmarotzer in Gerolds ehemaliges Kinderzimer einnistet, nachdem er sich schon längst in die Seele seiner Tochter gefressen hat. «Ich erkannte, wie der Vater im Himmel und ihr leiblicher, der wieder aufgetaucht war, sie fest im Griff hatten.» Und als letztes sich selbst. Gerold entflieht dem Tod mit dem letzten Satz, zuoberst auf dem Bocksberg.

Hans Platzgumer erzählt von einem, der sich zeit seines Lebens nicht aus den Klauen von Sterben und Tod winden kann. Ein Buch drüber, wo Verantwortung und Schuld, Zufall und Schicksal einen Menschen fesseln und knebeln. Handelt man richtig oder falsch, wenn man agiert? Hans Platzgumer schreibt klar, unmittelbar und jene Distanz erahnend, nie ganz «in der Mitte des Lebens» angekommen zu sein.

Hans Platzgumer (1969 ) ist österreichischer Schriftsteller, Komponist, Musiker und Produzent.

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